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Daniyel Demir
Konferenzmanager Personal

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November 2024


Verpflichtung zur Zahlung von Beratungshonoraren ist kein Kündigungsgrund
LAG Niedersachsen vom 24.09.2024, 10 SLa 76/24

Geschäftsführer haben oftmals weitreichende Befugnisse, die von ihnen vertretene Gesellschaft zu verpflichten. Genau hieran können sich, wenn das Vertrauen nicht mehr gegeben ist, mitunter heftige Auseinandersetzungen entzünden, bei denen insbesondere auch eine erhebliche persönliche Haftung des Geschäftsführers in Rede stehen kann.
 
Der Sachverhalt
Klagegegenstand waren eine gegenüber einem Geschäftsführer ausgesprochene außerordentliche Kündigung sowie Schadensersatzforderungen gegen diesen persönlich in Höhe von rund EUR 217.000,00. Die Auseinandersetzung hatte ihre Ursache in Beratungshonoraren in der genannten Höhe, die die Gesellschaft aufgrund der von dem Geschäftsführer eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen zu zahlen hatte. Die Gesellschaft war der Meinung, dass der Geschäftsführer in erheblicher Weise seine vertraglichen Verpflichtungen verletzt habe, da er bei Eingehung der entsprechenden Verpflichtungen heimlich gehandelt und außerdem das Beratungsvolumen einen zu großen Umfang erreicht habe.
 
Demgegenüber betonte der Geschäftsführer, dass es zu seinen Aufgaben des Führens der Geschäfte gehöre, auch solche Verpflichtungen für die Gesellschaft einzugehen. Zumindest teilweise seien diese Verpflichtungen auch bekannt gewesen. Nachdem den Beratungshonoraren auch ein Anspruch auf Gegenleistung gegenüber gestanden hatte, könne auch nicht von einem Schaden auszugehen sein. Letzteren hatte die Gesellschaft in dem Verfahren, in welchem sich der Geschäftsführer gegen die Kündigung gewehrt hatte, widerklagend geltend gemacht.
 
Der Geschäftsführer hatte erstinstanzlich vollumfänglich obsiegt, wogegen sich die Gesellschaft mit der Berufung wandte.
 
Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Dem Geschäftsführer war es gelungen, im Verfahren zu belegen, dass das fragliche Projekt, in dessen Kontext die Honoraransprüche entstanden waren, von dem damals zuständigen Vorstand der Gesellschaft getragen worden war. Daher könne es ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn er ein abgestimmtes Projekt entsprechend vorantreibe. Der Geschäftsführer habe entsprechend seiner Abstimmung mit dem Vorstand gehandelt, so dass das Abstimmungsergebnis nun nicht beanstandet werden könne.
 
Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die durch ihn abgeschlossenen Verträge wegen der damit verbundenen Kosten für die Gesellschaft nachteilig gewesen sein sollten, könne dies jedenfalls ohne vorherige Abmahnung keinen Kündigungsgrund darstellen.
 
Der Gesellschaft war es hingegen nicht gelungen, eine entsprechende Pflichtwidrigkeit darzulegen. Auch fehlte es im Rahmen der Widerklage auf Schadensersatz an einer Darlegung, welcher Schaden durch die Leistung von Beraterhonoraren entstanden sein sollte. Das Gericht wies darauf hin, dass die Begründung der Berufung teilweise sogar unzulässig war, weil es an einer ausreichenden Begründung fehlte.
 
Folgen für die Praxis
Auch wenn aktuell noch keine Entscheidungsgründe vorliegen, lässt sich bereits der Pressemitteilung entnehmen, dass ungünstige Geschäfte allein keinen Grund für eine fristlose Beendigung eines Geschäftsführeranstellungsverhältnisses darstellen können. Auch der Vorwurf der „Heimlichkeit“ dürfte schwer zu belegen sein, wenn der Vorstand dem Geschäftsführer einen entsprechenden Handlungsspielraum lässt. Hinsichtlich der Höhe des Beraterhonorars kann man sich zwar fragen, welch umfangreiche Beratung die Gesellschaft – es handelte sich um einen Verein mit dem Zweck der Förderung der Zucht von Oldenburger Pferden – insoweit realistischerweise in Anspruch zu nehmen hatte. Es ist allerdings weder die Rede von einem Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung noch von irgendwelchen eigenen Interessen des Geschäftsführers an der Verschiebung von Vermögenswerten in Richtung der Berater. Allein mit der gegebenen Begründung ließ sich daher weder die Kündigung verteidigen noch ein Schadensersatzanspruch durchsetzen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., GvW Graf von Westphalen, Hamburg

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Entgeltanpassung nach Entgeltauskunft
LAG Baden-Württemberg vom 01.10.2024, 2 Sa 14/24
 
Die Einführung des Entgelttransparenzgesetzes hatte vielfältige Diskussionen ausgelöst, insbesondere mit Blick auf die Methodik und die Anspruchsvoraussetzungen für eine auf entsprechende Erkenntnisse gestützte Forderung einer Entgeltanpassung. Das LAG Baden-Württemberg hat im vorliegenden Fall erläutert, wie sich eine Forderung nach höherem Entgelt in diesem Kontext begründen lässt und warum kein Anspruch auf Ausgleich der Maximaldifferenz zum „bestbezahlten“ Kollegen besteht.
 
Der Sachverhalt
Die klagende Arbeitnehmerin forderte von der Arbeitgeberin eine Entgeltkorrektur, nachdem sie darlegen konnte, dass sie im Kontext verschiedener Gehaltsbestandteile schlechter dastand als vergleichbare Kollegen. Sie war bei der Arbeitgeberin in Teilzeit auf einer Führungsebene tätig, sah sich aber bzgl. des Grundgehalts, des Company Bonus, eines Kapitalbausteins sowie virtueller Aktien nebst Dividenäquivalenten benachteiligt und forderte daher eine Nachzahlung für die Jahre 2018 bis 2022 von insgesamt rund EUR 420.000,00 brutto. Das Entgelt der Klägerin lag unstreitig unterhalb des Medianentgelts der männlichen, aber sogar auch der weiblichen Vergleichsgruppe in ihrer Führungsebene. Mit ihrer Forderung orientierte sie sich aber nicht lediglich an diesem Median, sondern verlangte darüber hinaus eine Gleichstellung mit dem bestbezahlten Kollegen derselben Ebene. Das Arbeitsgericht war ihr teilweise gefolgt – beide Parteien gingen hiergegen in Berufung.
 
Die Entscheidung
Das LAG erkannte der Klägerin die Differenz der Mediane der männlichen und weiblichen Vergleichsgruppe in Höhe von EUR 130.000,00 zu. Es reduzierte dabei die erstinstanzlich zugesprochene Nachzahlung unter Verweis darauf, dass es gerade für eine geschlechtsbedingte Benachteiligung in der geforderten Höhe Indizien geben müsse. Das entsprechende Indiz liegt im Hinblick auf die Differenz des männlichen zum weiblichen Medianentgelt vor, es kann aber keine Grundlage für die Forderung des maximalen Differenzbetrages bilden. Da der bestbezahlte Kollege seinerseits oberhalb des Medians der männlichen Vergleichsgruppe lag, die Klägerin aber selbst auch den Median der weiblichen Vergleichsgruppe unterschritten hatte, konnte sie nicht argumentieren, dass die volle von ihr geforderte Differenz ihre Ursache in einer geschlechtsbedingten Benachteiligung hat.
 
Dabei hat das LAG ausführlich dargelegt, wie die zugrunde liegende Richtlinie 2006/54/EG sowie Art. 157 AEUV über eine unionsrechtskonforme Auslegung das Verständnis von §§ 3 Abs. 1, 7 EntgTranspG prägen. Vorliegend war maßgeblich, dass nicht „irgendein“ Indiz ausreicht, sondern auch die Reichweite der Indizwirkung mit zu berücksichtigen ist. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Maximaldifferenz sei nur dann gerechtfertigt, wenn – anders als hier – auch insoweit eine überwiegende Kausalitätswahrscheinlichkeit der Geschlechterdifferenzierung anzunehmen sei. Das Gericht weist insoweit darauf hin, dass das Gesetz sich nicht gegen jegliche unterschiedliche Entgeltzahlungen wendet, sondern eben nur gegen solche, die durch eine Diskriminierung wegen des Geschlechts zu erklären sind.
 
Folgen für die Praxis
Das LAG Baden-Württemberg hat nachvollziehbar dargelegt, warum es keine Anpassung „ganz nach oben“ geben konnte – hier war beispielsweise das LAG Düsseldorf (vom 20.04.2023 – 13 Sa 535/22) deutlich großzügiger gewesen. Für das LAG Düsseldorf hatte bereits der Anschein der Möglichkeit einer sachwidrigen Ungleichbehandlung genügt, um eine Gehaltserhöhung um den höchsten überhaupt vorkommenden Prozentsatz einer Gehaltserhöhungsrunde zuzuerkennen. Für Klarheit wird hoffentlich das Bundesarbeitsgericht sorgen können.
 
Generell ist für Arbeitgeber wichtig, Unterschiede mit sachlichen Kriterien begründen zu können (z. B. Berufserfahrung, Leistung, Betriebszugehörigkeit) und nach Möglichkeit bereits den Anschein der Benachteiligung zu vermeiden. Insbesondere wenn ein Betriebsrat vorhanden ist und auf Entgeltgerechtigkeit achtet, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Diskrepanzen zutage treten und zu entsprechenden Auseinandersetzungen führen. Arbeitgebern ist daher dazu zu raten, bereits eigeninitiativ auf eine faire und ausgewogene Gehaltsstruktur zu achten – nimmt sich der Betriebsrat des Themas an und fordert ggf. gar die Einführung einer betrieblichen Vergütungsordnung, kann dies unterhalb der Ebene der leitenden Angestellten erhebliche Kosten auslösen, die sich Arbeitgeber ersparen können, wenn sie darauf achten, dass gar nicht erst ein „Wildwuchs“ entsteht.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., GvW Graf von Westphalen, Hamburg

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September 2024


Noch mehr Neues zum Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbeschreibungen
LAG Berlin-Brandenburg vom 05.07.2024, 12 Sa 1266/23
 
In letzter Zeit sind mehrere Entscheidungen ergangen, die sich mit dem Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen befassten. So berichteten wir im Januar 2024 über die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Dezember 2023, mit welcher dies eine Erschütterung des üblichen Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen annahm, nachdem ein Arbeitnehmer passgenau für die Dauer seiner Kündigungsfrist „erkrankte“. In der Rechtsprechung wird zunehmend erkannt, dass es nicht selten Missbrauchsfälle gibt, bei denen Arbeitnehmer zu Unrecht Entgeltfortzahlung beanspruchen. In der hier zu erörternden Entscheidung wertete das LAG Berlin-Brandenburg es zu Lasten des Arbeitnehmers, dass dieser nach entsprechender Erschütterung des Beweiswerts nichts Näheres zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen mitteilen wollte. Die arbeitgeberseitige Behauptung, dass keine Arbeitsunfähigkeit vorliege, galt damit als zugestanden.
 
Sachverhalt
Die Parteien stritten unter anderem über die Frage, ob die Arbeitgeberin von dem Kläger die zum Ende des Arbeitsverhältnisses geleistete Entgeltfortzahlung zurückverlangen konnte. Nachdem der Kläger die Mitteilung bekommen hatte, dass man sich von ihm trennen möchte, meldete er sich krank. Er erhielt die Kündigung am Tag nach seiner Krankmeldung und blieb bis zu seinem letzten Arbeitstag in der Arbeitsunfähigkeit. Er übersandte zunächst eine Erstbescheinigung und sodann eine Folgebescheinigung, die auf den 9. November 2022 datierte und ein Ende der Arbeitsfähigkeit zum 30. November 2022 – dem letzten Tag der Unternehmenszugehörigkeit – attestierte. Die Beklagte erlangte davon Kenntnis, dass der Kläger während der Arbeitsunfähigkeit am 12. November 2022 ein Handballspiel absolvierte und am 19. November 2022 bei einem Handballspiel als Schiedsrichter fungierte.
 
Die Beklagte wollte daher die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht akzeptieren und stellte sich auf den Standpunkt, der Kläger habe sie insoweit getäuscht. Seine sportlichen Aktivitäten sprächen gegen die behauptete Erkrankung. Das Arbeitsgericht hatte die entsprechend per Widerklage geltend gemachte Forderung nicht anerkannt. Das Landesarbeitsgericht war anderer Auffassung.
 
Entscheidungsgründe
Das LAG kam zu dem Ergebnis, dass die streitgegenständliche Zahlung ohne Rechtsgrund erfolgt war. Es erkannte der Arbeitgeberin daher einen Rückforderungsanspruch zu gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB. Es sei von einer tatsächlich nicht bestehenden Arbeitsunfähigkeit auszugehen.  Die Ausübung von sportlichen Aktivitäten während einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit können je nach Einzelfall Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen. Hierbei sei auch die für Arbeitgeber ungünstige Beweissituation mit zu berücksichtigen. Für eine Erschütterung des Beweiswerts sei es auch keine Ausschlusskriterium, wenn der Arbeitgeber von der Möglichkeit der Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenkasse keinen Gebrauch mache.
 
Vorliegend genüge der arbeitgeberseitige Vortrag daher, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Dann sei es an dem Arbeitnehmer, sich zu den konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu äußern und zu erklären, warum diese zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt haben. Da vorliegend der Arbeitnehmer keine weiteren Angaben gemacht habe, sei damit die Behauptung des Nichtvorliegens von Arbeitsunfähigkeit zugestanden. Zugleich stehe damit fest, dass es keinen Rechtsgrund für die Leistung von Entgeltfortzahlung gegeben habe, so dass der Arbeitnehmer entsprechende Rückzahlung leisten müsse.
 
Folgen für die Praxis
Langjährige Erfahrungen von Arbeitgebern mit fragwürdigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, gegen die man vermeintlich nichts ausrichten kann, führen oftmals dazu, dass auch Krankmeldungen mit entsprechendem „Geschmäckle“ hingenommen werden. Der vorliegende Fall zeigt, dass sich die Tendenz in der Rechtsprechung, dem bezahlten „Blaumachen“ einen Riegel vorzuschieben, weiter fortsetzt und Arbeitgeber daher durchaus den Mut zeigen sollten, Arbeitsunfähigkeiten zu hinterfragen und ggf. auch finanzielle Konsequenzen zu ziehen. Die abgestufte Darlegungs- und Beweislast bedeutet, dass zunächst der Arbeitgeber die Umstände, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern, darzulegen und zu beweisen hat. Eine „passgenaue“ Dauer bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses ist dafür ebenso ein Kriterium wie die Überschreitung der üblichen Höchstdauer für die Prognose der Arbeitsunfähigkeit im Widerspruch zu den Kriterien der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie. Der Arbeitnehmer kann sodann vortragen, welche Umstände der Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegen. Entsprechenden konkreten Vortrag müsste der Arbeitgeber dann wiederum seinerseits widerlegen. Die Entscheidung des LAG zeigt, dass der Arbeitnehmer sich bei erfolgreicher Erschütterung des Beweiswerts nicht darauf zurückziehen kann, er müsse keine näheren Auskünfte zu seinem Gesundheitszustand geben.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., GvW Graf von Westphalen, Hamburg
 




Zum Zugang eines Einwurf-Einschreibens
BAG vom 20.06.2024, 2 AZR 213/23
 
Arbeitgeber wirken mitunter irritiert, wenn ihnen von Anwälten empfohlen wird, rechtserhebliche Schreiben – wie insbesondere Kündigungen – am besten per Boten zuzustellen und dabei auch zu dokumentieren, dass der Bote den Inhalt des Schreibens kennt. Unerfahrene Personalverantwortliche stellen sich dann oftmals auf den Standpunkt, dass der sicherste Weg der Zustellung doch ein Einschreiben sei. Während meist noch die Überzeugung gelingt, dass eine mögliche vorsätzliche Annahmeverweigerung die Idee eines Übergabe-Einschreibens weniger attraktiv erscheinen lässt, erfreuen sich Einwurf-Einschreiben großer Beliebtheit. Doch auch diese können heftige Diskussionen auslösen, wie der vorliegende Fall zeigt.
 
Sachverhalt
Eigentlich ging es um einen für den Arbeitgeber unproblematische Kündigung – das Arbeitsverhältnis fiel nicht in den Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes. Der Arbeitgeber brachte am 29. September 2021 ein Kündigungsschreiben auf den Weg, welches am 30. September 2021 durch einen Mitarbeiter der Deutschen Post bei der Adressatin eingeworfen wurde. Mit selbiger war eine Quartalskündigungsfrist vereinbart, so dass für den Arbeitgeber wichtig war, noch am 30. September 2021 den Zugang zu bewirken. Die Klägerin stellte sich auf den Standpunkt, das Schreiben nicht mehr während der regulären Zustellzeiten zur Kenntnis genommen und daher erst am 1. Oktober 2021 erhalten zu haben. Das Arbeitsverhältnis ende daher erst am 31. März 2022 und nicht bereits am 31. Dezember 2021. Insoweit argumentierte sie, dass sie zum Zeitpunkt des Einwurfs nicht mehr mit dem Eingang eines Schreibens in ihren Briefkasten rechnen musste.

In den ersten beiden Instanzen blieb das Begehren der Klägerin, eine drei Monate längere Dauer des Arbeitsverhältnisses feststellen zu lassen, erfolglos.
 
Entscheidung
Auch das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Annahme eines Zugangs noch am 30. September 2021 mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2021 geendet hatte. Hinsichtlich des Zugangs der Kündigung im Briefkasten bestehe ein sogenannter „Beweis des ersten Anscheins“, dass dies während der üblichen Zustellzeiten durch die Post erfolgt sei, weil eben Postbeschäftigte ihrer Tätigkeit in diesen üblichen Zeiträumen nachgingen. Bereits das Arbeitsgericht hatte darauf abgestellt, dass nach der Lebenserfahrung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden dürfe, dass der durch eine berufsmäßig mit Zustellungen beauftragte Person ordnungsgemäß unterzeichnete Auslieferungsbeleg für einen ordnungsgemäßen Zugang im richtigen Briefkasten spreche. Es bedürfte insoweit keiner absoluten Gewissheit, sondern es genüge, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine beweisbedürftige Tatsache bestehe. Auch der Zeitpunkt der Zustellung sei geprägt durch das Zustellverhalten von Briefzustellern der Deutschen Post – eine Zustellung durch deren Zusteller spreche somit dafür, dass dies auch in den üblichen Zustellzeiten erfolgt sei. Allgemein sei davon auszugehen, dass ein Zugang dann bewirkt sei, wenn ein Schreiben in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelange und dieser normalerweise die Möglichkeit der Kenntnisnahme habe. Die Klägerin habe auch nichts dargelegt, was darauf schließen ließe, dass die Abläufe vorliegend anders gewesen seien, sondern sie hatte nur das Vorliegen regulärer Abläufe mit Nichtwissen bestritten. Damit sei von einem rechtzeitigen Zugang auszugehen.
 
Folgen für die Praxis
Neben der möglichen Diskussion um den Zustellzeitpunkt kommt bei Einwurf-Einschreiben mitunter auch die Frage auf, ob Ein- und Auslieferungsbeleg wirklich ausreichend sind, um den Zugang zu belegen. Teilweise müssen sich Arbeitgeber auch entgegen halten lassen, dass Postbedienstete möglicherweise zu Unrecht eine Zustellung quittiert hätten, obwohl der Einwurf in den falschen Briefkasten nicht ausgeschlossen sei. Erinnern sich als Zeugen vernommene Zusteller nicht mehr im Detail daran, wie ein innenliegender Briefkasten erreicht wurde, führt auch dies mitunter zu Diskussionen. Weitere „Highlights“ derartiger Auseinandersetzungen sind natürlich auch angeblich leere Umschläge, die irgendwie beim Empfänger angekommen sind – dem zumindest kann man mit der Verwendung von Fensterumschlägen begegnen. Insgesamt bleibt der Zustellvorgang eine mitunter knifflige Angelegenheit, so dass es ratsam ist, nach Möglichkeit eine persönliche Zustellung vorzunehmen und den Zeitraum der Zustellung nicht bis zum letzten Moment auszureizen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., GvW Graf von Westphalen, Hamburg
 

August 2024


Kein Urlaubsverzicht im laufenden Arbeitsverhältnis
LAG Köln vom 11. April 2024, 7 Sa 516/23
 
In der Praxis kommt es – gerade bei kleineren Betrieben – nicht selten vor, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Abrede treffen, Teile des Urlaubskontos des Arbeitnehmers gegen Ausgleichszahlung zu streichen. Nicht wenige sind landläufig der Meinung, dass man gegen Bezahlung auf Urlaubsansprüche verzichten könne. Das LAG Köln hat in einem solchen Fall erneut klargestellt, dass eine Abrede, die den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch beseitigt, selbst bei einem bevorstehenden Ende des Arbeitsverhältnisses unzulässig ist.
 
Sachverhalt
Ein Arbeitnehmer mit einem vertraglichen Urlaubsanspruch von 30 Urlaubstagen im Jahr einigte sich mit seinem Arbeitgeber im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs darauf, dass „Urlaubsansprüche in natura gewährt worden“ seien. Tatsächlich hatte der Mitarbeiter in dem fraglichen Jahr noch keinerlei Urlaub in Anspruch nehmen können, da er durchgängig arbeitsunfähig erkrankt war. Die Verfahrensbevollmächtigte des Arbeitnehmers erklärte „erhebliche Bedenken“ bzgl. der Formulierung und wies auf die Unverzichtbarkeit bzgl. des Anspruchs auf gesetzlichen Mindesturlaub hin, teilte aber mit, dass der Arbeitnehmer einverstanden sei. Der Vergleich kam entsprechend zustande; das Ende des Arbeitsverhältnisses lag zu diesem Zeitpunkt noch in der Zukunft.
 
Nachdem der Kläger bis zur Beendigung auch weiterhin krankheitsbedingt keinen Urlaub nehmen konnte, forderte er anschließend Urlaubsabgeltung bzgl. des gesetzlichen Mindesturlaubs und argumentierte, er habe hierauf im Vergleich nicht wirksam verzichten können. Dieser Auffassung schloss sich das Arbeitsgericht Siegburg an.
 
Die Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht Köln wies die hiergegen gerichtete Berufung zurück, ließ aber die die Revision zum BAG zu (9 AZR 104/24). Es begründete seine Entscheidung damit, dass die Vereinbarung im Vergleich nicht zu einem Erlöschen des Urlaubsanspruchs geführt habe. Insbesondere liege kein wirksamer „Tatsachenvergleich“ vor, da es keinerlei Ungewissheit über das Bestehen oder Nichtbestehen offener Urlaubsansprüche gegeben habe, die etwa durch gegenseitiges Nachgeben ausgeräumt worden wäre. Tatsächlich war beiden Parteien klar, dass der Kläger noch keinerlei Urlaub genommen hatte.
 
In der Abrede sei auch kein wirksamer Verzicht zu sehen. Nach § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG sind Abweichungen von den gesetzlichen Regelungen zuungunsten des Arbeitnehmers nicht möglich. Dies bedeutet, dass der Urlaubsanspruch unverzichtbar ist. Dies dürfe auch nicht durch eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung unterlaufen werden – nicht einmal dann, wenn die Parteien dies im Hinblick auf die bevorstehende Beendigung des Arbeitsverhältnisses so vorsähen.
 
Die Geltendmachung trotz Einverständnis mit dem Vergleich sei auch nicht treuwidrig, da der Arbeitgeber kein schutzwürdiges Vertrauen in eine unwirksame Abrede haben konnte, zumal die Klägervertreterin explizit auf das Problem hingewiesen hatte.
 
Folgen für die Praxis
Tatsachenvergleiche der vorstehenden Art sind in der Praxis häufig anzutreffen und „funktionieren“ auch bei Unzulässigkeit mitunter nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Dennoch muss man sich als Arbeitgeber bewusst sein, dass in solchen Fällen ggf. noch ein Nachspiel droht. Erst ab der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist der Urlaubszweck – bezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht – nicht mehr erreichbar und es können auch keine neuen Urlaubsansprüche mehr entstehen. Der Resturlaub verwandelt sich dann in einen Abgeltungsanspruch. Erst dann sind weitergehende rechtsgeschäftliche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, weil der gesetzliche Schutzzweck von § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG ohnehin nicht mehr erreicht werden kann. Die Entscheidung zeigt auch einmal mehr, dass die Arbeitsvertragsparteien während des laufenden Arbeitsverhältnisses jedenfalls in Bezug auf den gesetzlichen Mindesturlaub keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten haben. Entscheidet sich also ein Arbeitgeber, Urlaubstage „auszuzahlen“, läuft er bei den unverzichtbaren Urlaubsansprüchen Gefahr, letztendlich doppelt zu zahlen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg
 




Zeugen für Abmahnungssachverhalt
ArbG Düsseldorf vom 12. Januar 2024, 7 Ca 1347/23
 
Arbeitgeber erfahren nicht selten über Kollegen von einem Fehlverhalten von Mitarbeitern. Spätestens bei einem gerichtlichen Verfahren, z. B. wegen einer Kündigung, ergibt sich das Problem, dass u. U. Zeugen namentlich benannt werden müssen mit der Folge, dass der klagende Arbeitnehmer erfährt, wer ihn „verraten“ hat. Wie die Entscheidung des Arbeitsgerichts Düsseldorf zeigt, stellt sich dieses Problem auch schon im Stadium einer reinen Abmahnung.
 
Sachverhalt
Über einen Mitarbeiter, der für Asylverfahren zuständig war, wurden Beschwerden an den Arbeitgeber herangetragen, dass er sich despektierlich über Asylsuchende geäußert habe. Die Arbeitgeberin, eine oberste Bundesbehörde, hörte den Mitarbeiter zu den Vorwürfen an – dieser bestritt sämtliche Vorwürfe und wollte wissen, wer solche Behauptungen aufstelle. Die Arbeitgeberin erklärte, dass die Kollegen den Sachverhalt nur mit der Maßgabe von Vertraulichkeit berichtet hätten und sich von dem Mitarbeiter eingeschüchtert fühlten. Weder in der Anhörung noch in der späteren Abmahnung nannte die Arbeitgeberin daher die Namen der Kollegen, die ihr den Sachverhalt zur Kenntnis gegeben hatten. Der Arbeitnehmer erhob Klage auf Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte.
 
Die Entscheidung
Das Arbeitsgericht Düsseldorf gab der Arbeitgeberin auf, die Abmahnung aus der Akte zu entfernen. Die Vorwürfe in der Abmahnung seien inhaltlich zu unbestimmt, so dass bereits deshalb die Abmahnung unwirksam sei. Generell gelte, dass der Arbeitgeber einen Abmahnungssachverhalt so weit zu konkretisieren habe, wie dies dessen eigenem Kenntnisstand entspreche. Hier habe die Arbeitgeberin jedoch nicht angegeben, von wem ihr die Vorwürfe zugetragen worden waren, obwohl sie dies unstreitig wusste. Durch dieses Informationsdefizit sei der Kläger in seinen Möglichkeiten eingeschränkt worden, die Vorwürfe zu prüfen. Dem könne auch nicht entgegen gehalten werden, dass der Schutz der Kollegen, die das Fehlverhalten gemeldet hatten, deren Anonymität erfordere. Ein Arbeitgeber müsse etwa aus der namentlichen Benennung resultierende Konflikte zwischen den Mitarbeitern hinnehmen, insbesondere wenn er den Aussagen derjenigen Mitarbeiter vertraue, die das Fehlverhalten berichtet haben.
 
Folgen für die Praxis
Das Verfassen von Abmahnungen ist keinesfalls eine solch triviale Aufgabe, wie viele Arbeitgeber denken. Zahlreiche Fehler können zu deren Unwirksamkeit führen – neben fehlender inhaltlicher Bestimmtheit scheitern sie auch oft an unrichtigen Tatsachenbehauptungen, einer „schiefen“ Bewertung des Sachverhalts, einer Fokussierung auf pauschale Vorwürfe statt genauer Sachverhaltsbeschreibung oder auch an einer Unverhältnismäßigkeit. Man kann daher nicht oft genug betonen, dass die Formulierungen in einer Abmahnung sehr akkurat und umfassend sein müssen. Inwieweit die Haltung des Arbeitsgerichts Düsseldorf gerade auch im Lichte der gesetzlichen Wertungen des Hinweisgeberschutzes mehrheitsfähig ist, wird sich in der Praxis zeigen. Arbeitgeber müssen sich jedenfalls des Risikos einer unwirksamen Abmahnung bewusst sein, wenn sie – aus welch hehren Motiven auch immer – von einer namentlichen Benennung der Zeugen eines Fehlverhaltens absehen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg
 

Juli 2024




Smartphone-Verbot während der Arbeitszeit
BAG vom 17. Oktober 2023, 1 ABR 24/22
 
Hinsichtlich des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist grundsätzlich zwischen dem mitbestimmungspflichtigen Ordnungsverhalten und dem mitbestimmungs­freien Arbeitsverhalten zu unterscheiden. Ein Smartphone-Verbot während der Arbeitszeit ist dem Arbeitsverhalten zuzuordnen und kann daher ohne Beteiligung des Betriebsrats vom Arbeitgeber eingeführt werden.
 
Sachverhalt
Die Arbeitgeberin, die Brems- und Kraftstoffsysteme für Fahrzeuge herstellt, verhängte durch Mitarbeiteraushang am 18. November 2021 mit der Überschrift „Regeln zur Nutzung privater Handys während der Arbeitszeit“ ein Verbot der privaten Handy-Nutzung am Arbeitsplatz. Bei manchen Arbeitsplätzen in der Produktion sowie dem Versand und Wareneingang war es aufgrund eines notwendigen Maschinenumbaus zu Arbeitsunterbrechungen gekommen. Während dieser Zeiten sollten die Arbeitnehmer nun anderweitig eingesetzt werden und anfallende Nebenarbeiten erledigen statt ihre privaten Handys zu nutzen. Nach Auffassung der Arbeitgeberin unterlag das Verbot nicht der Mitbestimmung, da lediglich das Arbeitsverhalten der Beschäftigten konkretisiert werde.
Der Betriebsrat sah im Mitarbeiteraushang hingegen eine Verletzung seines Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG und forderte die Arbeitgeberin vergeblich auf, das Smartphone-Verbot zu unterlassen. Er argumentierte, das Verbot betreffe überwiegend das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer. Die Verwendung von Mobiltelefonen und Smartphones kollidiere nicht in jedem Fall mit der Arbeitsleistung, insbesondere während Zeiten, in denen keine Arbeit anfalle. Die Vorinstanzen hatten die Anträge des Betriebsrats auf Unterlassung zurückgewiesen.
 
Entscheidungsgründe
Auch das BAG sah im Verbot der privaten Handy-Nutzung am Arbeitsplatz kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats als verletzt. Gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei Fragen zur Betriebsordnung und zum Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb. Dieses Recht betrifft das kollektive Zusammenleben und die Zusammenarbeit im Betrieb. Maßnahmen, die hingegen das Arbeitsverhalten regeln, sind nicht mitbestimmungspflichtig. Solche Maßnahmen fordern die Arbeitspflicht direkt ein oder konkretisieren sie. Wenn eine Maßnahme des Arbeitgebers sowohl das Arbeits- als auch das Ordnungsverhalten beeinflusst, ist der überwiegende Regelungszweck entscheidend.
Im vorliegenden Fall zielte die Anordnung primär darauf ab, die Arbeitnehmer zu konzentriertem Arbeiten zu bewegen, indem mögliche private Ablenkungen durch die Nutzung dieser Geräte verhindert werden. Auch Anweisungen, die die zu erledigenden Aufgaben nicht unmittelbar konkretisieren, aber dennoch deren Erbringung sicherstellen sollen, betreffen das Arbeitsverhalten. Die Tatsache, dass das Verbot auch das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer beeinflussen kann, ändert nichts an dieser Einschätzung. Das BAG sah den überwiegenden Regelungszweck der Maßnahme in der Steuerung des Arbeitsverhaltens.
 
Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung ist zu begrüßen, da das BAG ausdrücklich die enge Auslegung des Begriffs “Arbeitsverhalten” gemäß einer älteren Entscheidung vom 14. Januar 1986 – 1 ABR 75/83 nicht mehr aufrechterhält. Die Instanzengerichte sahen dies bisweilen uneinheitlich, weshalb die Entscheidung nun Rechtsklarheit schafft.
Nach der Auffassung des BAG ist auf den überwiegenden Regelungszweck der Maßnahme abzustellen. Dieser richtet sich nach dem objektiven Inhalt der Maßnahme sowie der Art des zu beeinflussenden betrieblichen Geschehens. Dabei ist eine – qualitative – Gewichtung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Auf die subjektiven Vorstellungen des Arbeitgebers kommt es insoweit jedoch nicht an.
 
Praxistipp
Arbeitgebern steht es im Rahmen ihres Direktionsrechts frei, die private Nutzung des Handys am Arbeitsplatz durch Weisung – ohne Mitbestimmung des Betriebsrats – zu untersagen. Dies betrifft jedoch nur Zeiträume während der Arbeitszeit. Um ein entsprechendes Verbot mitbestimmungsfrei einzuführen, sollte auf ein generelles Nutzungsverbot, insbesondere während der Ruhe- und Pausenzeiten – verzichtet werden. Arbeitgebern steht es ferner frei, das Nutzungsverbot auf bestimmte Bereiche zu beschränken. In Ermangelung eines kollektiven Bezugs ist es Arbeitgebern ferner möglich, einzelnen Arbeitnehmern im Rahmen des Weisungsrechts ein Handyverbot auszusprechen.
 
Christian Böhm, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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Tablets und Laptops für den Betriebsrat*
Landesarbeitsgericht (LAG) München vom 7. Dezember 2023 – 2 TaBV 31/23
 
Der Betriebsrat hat unter den Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BetrVG einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Beschaffung von Tablets und Notebooks, damit seine Mitglieder Betriebsratssitzungen virtuell beiwohnen können.
 
Sachverhalt
Die Verfahrensbeteiligten stritten darüber, ob die Arbeitgeberin dem Betriebsrat Tablets oder Notebooks zur Verfügung zu stellen hat, damit Betriebsratsmitglieder an Betriebsratssitzungen virtuell teilnehmen können. Dem Betriebsrat stand lediglich ein stationärer Computer ohne Peripheriegeräte (Kamera, Lautsprecher und Mikrofon) zur Verfügung.
Mit Beschluss vom 25. Oktober 2023 gab sich der Betriebsrat eine Geschäftsordnung, in der die Möglichkeit der virtuellen Betriebsratssitzung und Beschlussfassung enthalten ist. Das Arbeitsgericht München hat den Antrag des Betriebsrats auf die unentgeltliche Überlassung von drei Tablets oder Notebooks mit Kamera, Lautsprechern und Mikrofon sowie Internetanschluss zur Ermöglichung einer virtuellen Betriebsratssitzung abgewiesen; das LAG München gab der Beschwerde statt.
 
Die Entscheidung
Der Anspruch des Betriebsrats auf Zurverfügungstellung notwendiger Technik und Ausstattung zur Durchführung von Gremiumssitzungen mittels Video- oder Telefonkonferenz setze voraus, dass er sich eine Geschäftsordnung i.S.d. § 30 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BetrVG gegeben habe. Die Geschäftsordnung muss festlegen, unter welchen Voraussetzungen einzelne Mitglieder virtuell an einer Betriebsratssitzung teilnehmen können und unter welchen Voraussetzungen die Sitzung vollkommen virtuell stattfinden kann. Nach § 30 Abs. 2 BetrVG darf eine Betriebsratssitzung nur dann virtuell stattfinden, wenn der Vorrang der Präsenzsitzung gilt (Nr. 1), nicht mind. ein Viertel der Mitglieder des Betriebsrats binnen einer vom Vorsitzenden zu bestimmenden Frist ihm gegenüber widerspricht (Nr. 2) und sichergestellt sei, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können (Nr. 3).
Der Arbeitgeber habe dem Betriebsrat für dessen laufende Geschäftsführung in erforderlichem Umfang sachliche Mittel sowie Informations- und Kommunikationstechnik zur Verfügung zu stellen. Für die geforderten Endgeräte ergebe sich der Anspruch aus § 40 Abs. 2 BetrVG i.V.m. § 30 Abs. 2 BetrVG. Die Ausstattung sämtlicher Betriebsratsmitglieder mit mobilen Endgeräten stehe nach Ansicht des LAG im Einklang mit der Gesetzesbegründung zu § 30 Abs. 2 BetrVG im Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Es sollten sachgerechte und dauerhafte Regelungen geschaffen werden, um die Digitalisierung der Betriebsratsarbeit voranzutreiben und der Betriebsrat habe die alleinige Entscheidungsbefugnis, ob er die Möglichkeit der virtuellen Betriebsratssitzung nutze.
 
Hinweise für die Praxis
Die Entscheidung liegt auf einer Linie mit dem LAG Köln (Beschl. v. 24.06.2022, Az.: 9 TaBV 52/21) und dem LAG Hessen (Beschl. v. 14.03.2022, Az.: 16 TaBV 143/21). In Fällen, in denen sich der Betriebsrat eine Geschäftsordnung gegeben hat, kann das Gremium von dem Arbeitgeber IT Equipment zur virtuellen Sitzungsdurchführung verlangen.
Der Betriebsrat muss sich grundsätzlich nicht auf nur ein Endgerät verweisen lassen. Die Anzahl der zu überlassenden Geräte orientiert sich an der Anzahl der Betriebsratsmitglieder. Ersatzmitglieder können die Geräte der vertretenen Betriebsratsmitglieder nutzen.
Die Geschäftsordnung nach § 20 Abs. 2 BetrVG muss eine Regelung dazu enthalten, unter welchen Voraussetzungen (i) einzelne Mitglieder virtuell an Betriebsratssitzungen teilnehmen können und (ii) eine Sitzung vollkommen virtuell stattfinden kann. Nicht ausreichend ist, dass dem Betriebsratsvorsitzenden die Entscheidung über das Ob und Wie der virtuellen Teilnahme übertragen wird. Der Vorrang der Präsenzsitzung muss durch die Geschäftsordnung gesichert werden. Auch in Fällen, in denen eine Geschäftsordnung die Möglichkeit eröffnet, dass eine Betriebsratssitzung virtuell durchgeführt werden kann, gilt eine Teilnahme an der Sitzung in Präsenz als erforderlich i. S. v. § 40 Abs. 1 BetrVG.
Dem Arbeitgeber bleibt überlassen darüber zu entscheiden, welchen Hersteller und welches Fabrikat er zur Verfügung stellt.
 
Praxistipp
Die Entscheidung des LAG ist im Sinne der Digitalisierung der Betriebsratsarbeit, bedeutet aber, dass Unternehmen künftig einen erheblich höheren Kostenaufwand haben, wenn Gremien mit mobilen Geräten ausgestattet werden müssen.
Arbeitgeber sollten daher im Eigeninteresse prüfen, ob die Voraussetzungen des § 30 BetrVG gegeben sind, bevor auf ein Verlangen des Betriebspartners nach IT Ausstattung reagiert wird. Der Ausstattungsanspruch ist auf das zur Durchführung erforderliche gedeckelt, d.h. Hersteller und Modell bestimmt der Arbeitgeber.
 
* Hinweis: Nur zur leichteren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag das generische Maskulin verwendet, das jedoch stellvertretend für alle Geschlechter stehen soll.
 
Dr. Stefan Steeger, LL.B., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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Juni 2024



Das letzte Wort zum „Quarantäne-Urlaub“
BAG vom 28.05.2024, 9 AZR 76/22
 
Bereits kurz nach Beginn der Pandemie kamen die ersten Rechtsfragen im Zusammenhang mit beantragten und bewilligten Urlaubszeiten auf – insbesondere, ob ein aufgrund einer angeordneten Quarantäne „verfehlter“ Urlaubszweck dazu führt, dass die betroffenen Urlaubstage wieder gutgeschrieben werden müssen. Mehrheitlich hatten sich Gerichte gegen eine Gutschrift des Urlaubs ausgesprochen (z. B. LAG Köln, vgl. FORUM-Newsletter Januar 2022). Auf entsprechende Vorlage (hier: durch das Arbeitsgericht Ludwigshafen) hatte dann auch der EuGH (vom 04.05.2023, C-206/22) bestätigt, dass man sich auch während einer Quarantäne entspannen und über freie Zeit verfügen könne, mithin „Urlaub“ habe. Der Arbeitgeber trage nicht das Risiko dafür, dass die gewünschten Freizeitaktivitäten während des Urlaubs gelängen. Das Bundesarbeitsgericht hat die Leitlinien des EuGH nun in einem Fall, der ebenfalls Gegenstand einer Vorlagefrage gewesen war, entsprechend umgesetzt.
 
Sachverhalt
Der klagende Arbeitnehmer, ein seit 20 Jahren in einem Metallbetrieb beschäftigter Schlosser, hatte im Oktober 2020 acht Tage Urlaub genommen, die er aber dann entgegen seiner ursprünglichen Planung zu Hause verbringen musste. Er selbst war nicht erkrankt, erhielt aber aufgrund eines Kontakts zu einer an Corona erkrankten Person eine behördliche „Absonderungsanordnung“, welche die gesamte Urlaubsdauer erfasste. Er durfte in dieser Zeit die Wohnung nicht verlassen und keinen Besuch bekommen.
 
Unter Berufung darauf, dass die so erzwungene Häuslichkeit wie ein „krankheitsähnlicher Zustand“ zu behandeln sei, forderte der Arbeitnehmer eine Gutschrift der vertanen Urlaubstage. Er berief sich insoweit auf § 9 BUrlG, wonach attestierte Krankheitszeiten nicht auf den Jahresurlaub anzurechnen sind, sondern nachgewährt werden müssen. Der Arbeitgeber wies dieses Ansinnen zurück, da der Urlaub so wie beantragt gewährt worden war und ein verfehlter Urlaubszweck nicht im Verantwortungsbereich des Arbeitgebers liege. Dieser Meinung hatte sich auch das erstinstanzliche Arbeitsgericht angeschlossen, während das in zweiter Instanz zuständige Landesarbeitsgericht Hamm der Klage stattgegeben hatte. Das Bundesarbeitsgericht hat diese nun endgültig abgewiesen.
 
Entscheidungsgründe
Das Bundesarbeitsgericht bestätigte auf der Linie des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass die „Störung“ des Urlaubs im Falle einer Quarantäne-Anordnung in der Risikosphäre des Beschäftigten liegt. Der Arbeitgeber schulde nur die Freistellung von der Arbeit unter Fortzahlung der Vergütung, aber keinen darüber hinausgehenden Urlaubserfolg. Nachdem der EuGH bestätigt hatte, dass es mit Unionsrecht vereinbar ist, dass Urlaub auch dann als verbraucht gilt, wenn während des genehmigten Urlaubs das unvorhersehbare Ereignis „Quarantäne“ auftritt, gab es keine Veranlassung, den Arbeitgeber zur Nachgewährung des Urlaubs zu verpflichten. Insbesondere sah das Bundesarbeitsgericht keine Notwendigkeit für eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG.
 
Mit Blick auf die genannte Entscheidung zog das Bundesarbeitsgericht außerdem seine eigene Vorlagefrage zurück, da die maßgeblichen Fragen bereits auf Grundlage der Anfrage aus Ludwigshafen beantwortet worden waren.
 
Konsequenzen für die Praxis
Die Rechtsprechung von EuGH und BAG auf dem damaligen Stand der Rechtslage verdient vollumfängliche Zustimmung. Würde man allein das „Misslingen“ der Freizeitgestaltung im Urlaub – aus welchen Gründen auch immer – als Anlass sehen, den Urlaub nochmals beanspruchen zu dürfen, so könnte man mit gleicher Argumentation auch auf die Idee kommen, dass Urlaub nachgewährt werden müsse, wenn es am Urlaubsort zwei Wochen lang regnen sollte und der urlaubende Arbeitnehmer nichts von dem unternehmen konnte, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Insoweit ist die Klarstellung, dass ein „Urlaubserfolg“ irrelevant ist, auch über die Quarantäne-Situation hinaus von Bedeutung.
 
Praktisch werden sich derartige Rechtsfragen im Zusammenhang mit einer Quarantäneanordnung im Urlaub nicht mehr stellen. Seit dem 17.09.2022 gibt es eine gesetzliche Neuregelung in § 59 Abs. 1 IfSG, wonach behördlich angeordnete Quarantänezeiten nicht auf Urlaub angerechnet werden. Die vom BAG entschiedene Rechtsfrage stellt sich dennoch weiterhin in „Altfällen“, da die Neuregelung nicht rückwirkend anwendbar ist.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Das ging in die Hose …
LAG Düsseldorf vom 21.05.2024, 3 SLa 224/24
 
Als Arbeitnehmer unterliegt man dem Weisungsrecht des Arbeitgebers, der nach § 106 GewO die näheren Details der Erbringung der Arbeitsleistung festlegen kann. Die Missachtung rechtmäßiger Weisungen stellt eine Pflichtverletzung dar, welche bis hin zur – ggf. sogar außerordentlichen – Kündigung des Anstellungsverhältnisses führen kann. Der vorliegende Fall zeigt, dass arbeitnehmerseitige Sturheit auch in einem Bagatellfall den Arbeitsplatz kosten kann.
 
Sachverhalt
Der klagende Arbeitnehmer war seit 2014 als Monteur in einem Industriebetrieb aus Solingen im Bereich der Produktion tätig. Zu seinen Aufgaben gehörten u. a. Arbeiten mit Kappsägen und Akkubohrern, Zuschnitt bzw. Montage von Profilen etc. Er ging seiner Tätigkeit auch in solchen Produktionsbereichen nach, in denen Gabelstapler fuhren.
 
Die Arbeitgeberin hatte für verschiedene Bereiche, so auch für die Produktion, in einer Kleiderordnung Vorgaben zur notwendigen Arbeitskleidung aufgestellt und stellte diese Kleidung auch zur Verfügung. Für den Bereich des Klägers war das Tragen von roten Hosen vorgeschrieben, welche nicht nur der Corporate Identity und besseren Unterscheidung zu Beschäftigten anderer Firmen dienten, sondern gerade auch durch die Signalfarbe Rot eine erhöhte Sichtbarkeit gewährleisten sollten.
 
Der Arbeitnehmer, der lange Zeit eigentlich kein Problem mit den roten Hosen hatte, weigerte sich auf einmal, die vorgegebene Arbeitshose zu tragen. Er halte diese aus Arbeitsschutzsicht für nicht nötig, und die Farbe gefalle ihm auch nicht. Nachdem er daher stattdessen mehrfach in eigenen schwarzen bzw. graue Arbeitshosen erschienen war, mahnte ihn die Arbeitgeberin wegen Missachtung der entsprechenden Weisung zwei Mal ab. Da jedoch die Abmahnungen keine Wirkung zeigten, erklärte die Arbeitgeberin am 27. November 2023 die fristgemäße Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 29. Februar 2024. Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage hatte vor dem Arbeitsgericht Solingen keinen Erfolg. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Berufung.
 
Entscheidungsgründe
Das LAG Düsseldorf bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Es hielt fest, dass die Arbeitgeberin auf Grundlage ihres Weisungsrechts berechtigt war, Rot als Farbe für die Arbeitsschutzhosen vorzuschreiben. Es sei ein berechtigtes Interesse anzuerkennen, mit der Signalfarbe Rot zum Unfallschutz beizutragen. Auch dürfe der Arbeitgeber durch solche Vorgaben das Ziel eines einheitlichen Auftretens des Unternehmens (Corporate Identity) verfolgen.
 
Die entsprechende Weisung missachte auch nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers, der keine plausiblen Argumente vorgebracht hatte, warum denn die rote Hose nun eine solche Zumutung sein solle. Das ästhetische Empfinden reiche insoweit nicht aus.
 
Auch die Interessenabwägung sprach gegen Arbeitnehmer. Letztlich liege eine beharrliche Arbeitsverweigerung vor, und der Arbeitnehmer habe den Vorgang ohne nachvollziehbare Gründe „komplett in die Eskalation“ getrieben. Das Gericht deutete an, dass der Kläger sogar froh sein konnte, dass es die Arbeitgeberin bei einer ordentlichen Kündigung belassen hatte, da die beharrliche Verweigerung des Befolgens von Weisungen sogar eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt hätte.
 
Folgen für die Praxis
Die Entscheidung bestätigt, dass Vorgaben des Arbeitgebers für Kleiderordnungen als grundsätzlich legitim anzusehen sind. Gerade hier liegt ein exemplarischer Fall einer zulässigen Vorgabe zur Bekleidung vor. Neben Überlegungen der Arbeitssicherheit kann auch Corporate Identity ein entscheidendes Argument sein.
Wie das LAG ebenfalls herausstellt, spielen auf Arbeitnehmerseite demgegenüber Überlegungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine Rolle. Die Grenzen des Zumutbaren sind beispielsweise überschritten, wenn Arbeitgeber Vorgaben zur Farbe der Unterwäsche machen wollen und damit der sog. Intimbereich betroffen ist. Die Frage der Farbe der Hose war hingegen nur eine Frage der sog. Sozialsphäre. Hier müssten Eingriffe schon deutlich erheblicher sein, z. B. in Form von lächerlichmachenender Bekleidung oder bei einer Anweisung an weibliche Beschäftigte, in kurzen Röcken zur Arbeit zu erscheinen.
 
Ergänzend ist zu erwähnen, dass im Falle des Bestehens eines Betriebsrats jeweils zu prüfen ist, ob die Einführung von Arbeitskleidung mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ist. Wird ein solches Mitbestimmungsrecht missachtet, wäre eine entsprechende Weisung rechtswidrig und der Arbeitnehmer müsste bei Missachtung der Vorgaben keine individualrechtlichen Konsequenzen befürchten.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Mai 2024



Zielvorgabe kurz vor dem Ziel – Motivations- und Anreizfunktion
LAG Köln vom 06.02.2024, 4 Sa 390/23

Leistungsbezogene Bonussysteme mit Zielvorgaben bzw. Zielvereinbarungen können für Arbeitnehmer eine erhebliche Motivations- und Anreizfunktion haben und kommen daher in der Praxis häufig vor. Ebenfalls recht häufig sind Stockfehler, die Arbeitgeber Geld kosten – sei es, weil man es ganz vergessen hat, entsprechende Vorgaben zu machen oder Vereinbarungen zu schließen; sei es, dass die Beschreibung der Ziele ungenau oder widersprüchlich ist. Die vorliegende Entscheidung zeigt, welche Tücken sich auf der Zeitschiene ergeben können, wenn Arbeitgeber nachlässig agieren und sich zu spät mit einer Zielbeschreibung der Thematik annehmen. Wer die hiesigen Entscheidungsgründe beherzigt, vermeidet unerfreuliche Konsequenzen in Form eines Schadensersatzanspruchs, der wirtschaftlich einer fiktiven 100%igen Zielerreichung gleich kommt.

Sachverhalt
Der Kläger war von Mitte Juli 2016 bis Ende November 2019 bei der Beklagten als „Head of Advertising“ tätig und hatte in dieser Rolle auch Führungsverantwortung. Zu seinem Festgehalt von EUR 66.500,00 im Jahr konnten bis zu EUR 28.500,00 variable Vergütung bei 100% Zielerreichung hinzukommen. Vorgesehen war die Zieldefinition durch den Vorgesetzten jeweils zu Beginn des Kalenderjahrs; eine auch auf den Kläger anwendbare Betriebsvereinbarung aus März 2019 sah vor, dass Mitarbeiter jeweils bis zum 1. März eines Jahres eine – zuvor zu besprechende – Zielvorgabe erhalten sollten.
 
Die Beklagte hatte im März 2019 im Rahmen einer Präsentation vor mehreren Mitarbeitern die maßgeblichen Unternehmenskennzahlen dargestellt und in einem Meeting im April 2019, jeweils im Beisein des Klägers, diese nochmals beschrieben. Die tatsächliche individuelle Zielvorgabe für den Kläger erfolgte erst im September 2019, nachdem etwa drei Viertel des Geschäftsjahres abgelaufen waren. Die Beklagte stellte am Ende des Geschäftsjahres für den Kläger einen Bonusanspruch von EUR 15.586,00 fest, während der Kläger der Auffassung war, die maßgeblichen Unternehmensziele für 2019 seien verspätet bekannt gegeben worden, darüber hinaus auch formell unwirksam und ermessensfehlerhaft. Er forderte daher mit seiner Klage die Zahlung weiterer EUR 16.035,00.
 
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und es für ausreichend erachtet, dass die Festlegung der Unternehmensziele noch während der laufenden Zielperiode erfolgt sei. Die Festlegung der Ziele sei auch nicht gem. § 275 Abs. 1 BGB unmöglich geworden. Hiergegen wandte sich der Kläger mit seiner Berufung.

Entscheidungsgründe
Das Landesarbeitsgericht gestand dem Kläger einen Anspruch auf Schadensersatz zu, da es keine rechtzeitige Zielvorgabe für das Geschäftsjahr 2019 gegeben habe. Der Arbeitgeber hatte versäumt, bis zum 1. März 2019 die Ziele vorzugeben. Die allgemeinen Ausführungen in Präsentation und Meeting stellten keine ordnungsgemäße Zielvorgabe dar, weshalb die Zielvorgabe als nicht erfolgt gelte. Insoweit habe der Kläger aus den Mitteilungen nicht erkennen können, wie sich dies für seine variable Vergütung auswirkt. Es habe auch an einer Gewichtung der Ziele und der Vorgabe eines Zielkorridors gefehlt.
 
Höchstrichterlich entschieden ist bislang nur, dass eine Zielvereinbarung jedenfalls nach Ablauf des maßgeblichen Zeitraums nicht nachträglich möglich ist. Da es vorliegend um eine Festlegung kurz vor Ablauf der Zielperiode ging, hat das Landesarbeitsgericht die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen. Aus Sicht des Landesarbeitsgericht muss vorliegend das Gleiche gelten, da der Zweck der Leistungssteigerung und Motivation bzw. die darin liegende Anreizfunktion nicht mehr erreicht werden konnte. Angesichts seiner Führungsfunktion habe der Kläger auch Einfluss auf die unternehmensbezogenen Ziele gehabt. Eine Zielvorgabe erst so spät innerhalb des maßgeblichen Geschäftsjahres sei so zu behandeln wie eine gänzlich unterlassene Zielvorgabe und damit ebenfalls schadensersatzauslösend, wenn der Arbeitgeber pflichtwidrig und schuldhaft keine Zielvorgaben gemacht hat.

Konsequenzen für die Praxis
Arbeitgeber müssen sich bei Bonussystemen, die auf regelmäßig wiederkehrend zu beschreibenden Zielen beruhen, in den praktischen Abläufen ein System erstellen, welches Gewähr dafür bietet, dass keine Sachverhalte von schadensersatzträchtigen unterlassenen Zielvorgaben bzw. versäumten Zielvereinbarungen entstehen. Die Praxis zeigt, dass Arbeitgebern hier häufig Stockfehler unterlaufen, die dazu führen, dass Arbeitnehmer dann im Wege eines Schadensersatzanspruchs den wirtschaftlichen Gegenwert einer 100%igen Zielerreichung realisieren können. Nichts ist ärgerlicher als ein 100%iger Bonusanspruch bei einem Mitarbeiter, der keine Leistung bringt, so dass Arbeitgeber gut beraten sind, hier strukturierte Abläufe zu implementieren, die entsprechenden Versäumnissen vorbeugen.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Kein Unterlassungsanspruch bei Betriebsänderungen
Arbeitsgericht Erfurt vom 19.02.2024, 6 BVGa 1/24

Stehen Betriebsänderungen an, kann man oftmals förmlich dabei zusehen, wie zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat Spannungen entstehen. Arbeitgeber werden verdächtigt, am Betriebsrat vorbei vollendete Fakten schaffen zu wollen, während auf Arbeitgeberseite das Gefühl herrscht, sich im Zangengriff von konfliktaffinen Betriebsratsanwälten und Gewerkschaftsvertretern zu befinden. Wird nicht von vornherein auf eine vernünftige Kommunikationsebene geachtet, endet das gegenseitige Misstrauen schnell vor Gericht, wenn sich Betriebsräte übergangen fühlen oder Arbeitgeber tatsächlich vorschnell agieren. Immer wieder stehen daher Arbeitsgerichte vor der Fragestellung, ob Betriebsräte das Recht haben, geplante Betriebsänderungen im Wege einer einstweiligen Verfügung zu stoppen. Das Arbeitsgericht Erfurt hat sich kürzlich mit der Mehrheit der Gerichte gegen einen solchen Unterlassungsanspruch positioniert.

Sachverhalt
Das betroffene Unternehmen gehört zu einem größeren Konzern, und der betroffene Betrieb mit seinen 212 Mitarbeitern beliefert vor allem internationale Großkunden, wobei diese in erster Linie Kunden der Unternehmensgruppe sind und nicht allein durch den hier interessierenden Betrieb beliefert werden.
 
Mitte Dezember 2023 informierte der Arbeitgeber den Betriebsrat über die Absicht, den Betrieb im Laufe des dritten Quartals 2024 stillzulegen. Er gab dazu mehrere Gründe an wie eine zu geringe Auslastung, Umsatzrückgang, Preisdruck und Nachteile bei einer nicht lokalen Belieferung. Daher, so der Arbeitgeber, müsse zur Sicherung der Zukunft des Gesamtunternehmens der betreffende Standort zwingend geschlossen werden. Dazu übermittelte der Arbeitgeber eine Liste mit geplanten Maßnahmen, weiterhin Entwürfe für Interessenausgleich und Sozialplan sowie eine bereits vorbereitete Vereinbarung über die Einsetzung einer Einigungsstelle, falls bis Ende Februar 2024 kein Sozialplanabschluss gelingen sollte. Ebenso wurden bereits Aufträge an anderer Stelle in der Unternehmensgruppe fortgeführt und es war angedacht, Personen von anderen Standorten hinsichtlich der Abläufe des vorliegenden Standorts zu instruieren.
 
Der Betriebsrat wandte sich an das Arbeitsgericht, da er den Eindruck hatte, der Arbeitgeber versuche vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor der Betriebsrat Alternativvorschläge unterbreiten könne wie beispielsweise zur Fortführung der Produktion mit einem Teil der Belegschaft. Insbesondere dürfe es noch keinen Abfluss von Knowhow und keine Verlagerung von Aufträgen geben. Er beantragte daher beim Arbeitsgericht eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung betriebsinterner Maßnahmen.

Entscheidungsgründe
Der Antrag blieb vor dem Arbeitsgericht Erfurt erfolglos. Das Gericht argumentierte hier zweigleisig – bereits per se sei ein solcher allgemeiner Unterlassungsanspruch bei Betriebsänderungen nicht anzuerkennen, und selbst wenn man dies dem Grunde nach für möglich hielte, seien die Voraussetzungen eines solchen Verfügungsanspruchs hier nicht hinreichend dargelegt.
 
Gegen einen Unterlassungsanspruch an sich spreche bereits der Gesetzeswortlaut, da dort lediglich von einem Unterrichtungs- und Beratungsanspruch die Rede sei. Insbesondere bestehe keine Vergleichbarkeit zu Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung nach § 87 BetrVG. Auch habe der Gesetzgeber bei der letzten Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 keinen Anlass gesehen, einen solchen allgemeinen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates im Rahmen der §§ 111 ff BetrVG anzuerkennen.
Würde man dennoch einen solchen allgemeinen Unterlassungsanspruch für denkbar halten, so sei vorliegend festzustellen, dass der Betriebsrat nicht ausreichend glaubhaft gemacht habe, dass die Arbeitgeberin bereits zur Umsetzung der beabsichtigten Schließung übergegangen sei. Eine Betriebsänderung sei erst begonnen, wenn der Arbeitgeber unumkehrbare Maßnahmen ergreife und damit vollendete Tatsachen schaffe. Im Falle einer Stilllegung bedeute dies die Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger – nicht nur vorübergehender – Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte Zeit. Diese Schwelle sei nicht bereits dann erreicht, wenn Aufhebungsverträge geschlossen würden, denn jeder Arbeitnehmer könne selbst entscheiden, ob er in Anbetracht der bevorstehenden Betriebsschließung bereits auf den Arbeitgeber zu gehe, um sich über eine einvernehmliche Aufhebung des Arbeitsvertrages zu verständigen.
 
Erst wenn der Arbeitgeber selbst unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreife, insbesondere durch Ausspruch entsprechender Kündigungen, könne von einer Unumkehrbarkeit die Rede sein. Dieses Stadium sei hier aber noch nicht erreicht. 

Konsequenzen für die Praxis
Nicht jedes Arbeitsgericht teilt die Auffassung des Arbeitsgerichts Erfurt hinsichtlich der grundsätzlichen Frage eines Unterlassungsanspruchs. Der erste Schritt bei einer potentiell konfliktträchtigen Begleitung einer Betriebsänderung ist daher zunächst die Klärung der Frage, wie das vor Ort zuständige Arbeitsgericht sich in dieser Frage positioniert. Doch auch bei denjenigen Gerichten, die generell solchen Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Verfügung skeptisch gegenüber stehen, sollten Arbeitgeber darauf bedacht sein, möglichst keine Angriffsfläche zu bieten. Ein Agieren am Betriebsrat vorbei ist nicht zu empfehlen.
 
Zeigt außerdem der interne Austausch, dass der Betriebsrat eher misstrauisch ist, sollte ggf. auch die Hinterlegung einer Schutzschrift in Erwägung gezogen werden, damit es nicht etwa zu einer bösen Überraschung kommt, wenn doch ein Gericht solche Unterlassungsansprüche befürwortet und möglicherweise aufgrund einer nicht ganz akkuraten Sachverhaltsdarstellung hinsichtlich der erreichten Schwelle des unternehmerischen Handelns vorschnelle Entscheidungen trifft, die dem Arbeitgeber dann in einer meist ohnehin schon kritischen Phase weitere Probleme und Kosten bereiten.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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April 2024



Jung, dynamisch und noch einmal gut gegangen
LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 17.10.2023, 2 Sa 61/23

Stellenausschreibungen, die diskriminierungsverdächtige Schlagworte wie „jung“ enthalten, sind nicht auszurotten. Einmal mehr musste sich ein insoweit ungeschickt formulierender Arbeitgeber gegen eine Klage wegen vermeintlicher Diskriminierung zur Wehr setzen. Unverändert ist in diesem Kontext davon abzuraten, sein Glück herauszufordern.

Sachverhalt
Der (potentielle) Arbeitgeber war Pächter einer Tankstelle und hatte eine Stellenanzeige auf dem Portal „Indeed“ veröffentlicht. Dort hieß es: „Wir sind ein junges, dynamisches Team mit Benzin im Blut und suchen Verstärkung“. Die bislang 9-köpfige Belegschaft war überwiegend in der Altersklasse zwischen rund 40 und über 60 Jahren einzuordnen; außerdem beschäftigte der Arbeitgeber eine 19jährige Aushilfskraft. Der etwa 50jährige Kläger, ein gelernter Bankkaufmann mit einem Wohnort in ca. 800 km Entfernung, blieb mit seiner Bewerbung erfolglos. Der letztlich erfolgreiche Bewerber war zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt.

Der Kläger stellte sich auf den Standpunkt, dass die Formulierung „junges dynamisches Team“ dafür spreche, dass er wegen seines Alters diskriminiert worden sei, da der Arbeitgeber offensichtlich nur junge Teammitglieder gesucht habe. Er verlangte daher eine Entschädigung wegen Altersdiskriminierung nach § 15 Abs. 2 AGG und verknüpfte sein vorgerichtliches Schreiben außerdem mit einer Aufforderung zur Auskunftserteilung nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO sowie Herausgabe seiner Daten nach Art. 15 Abs. 3 DSGVO. Der Tankstellenpächter kam dieser Aufforderung nicht nach und leistete auch keine Entschädigungszahlung. Darin sah der Kläger zusätzlich eine Verletzung von Datenschutzrecht.

Die auf Zahlung von EUR 1.500,00 nach dem AGG und von EUR 1.250,00 nach der DSGVO gerichtete Klage blieb vor dem Arbeitsgericht Rostock erfolglos.

Entscheidungsgründe
Die erstinstanzliche Entscheidung wurde im Berufungsverfahren durch das Landesarbeitsgericht bestätigt. Das LAG hielt die Geltendmachung der Entschädigungsansprüche für unbegründet.

Grundsätzlich sei zwar der Anwendungsbereich des AGG eröffnet – es fehle aber an einem Indiz dafür, dass der erfolglose Bewerber wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt worden sei. Die fragliche Stellenanzeige erwecke nicht auf den ersten Blick den Anschein eines Verstoßes gegen § 11 AGG. Eine Verletzung des Benachteiligungsverbots könne nicht festgestellt werden, da weder eine mittelbare noch eine unmittelbare Benachteiligung i. S. d. § 3 AGG vorliege. Daher bestehe auch kein Entschädigungsanspruch nach § 15 AGG. Der Kläger habe zwar gegenüber dem letztlich erfolgreichen Bewerber objektiv eine weniger günstige Behandlung erfahren; jedoch sei nicht ersichtlich, dass die Ursache dafür sein Alter gewesen sei.

Für die Auslegung der Formulierung in der Stellenbeschreibung sei zu unterscheiden zwischen der Darstellung des Arbeitsplatzes auf der einen und der Darstellung der Anforderungen an den Bewerber auf der anderen Seite. Die hiesige Formulierung sei insbesondere auch in dem Punkt „mit Benzin im Blut“ ersichtlich überspitzt und nicht wörtlich zu nehmen, sondern entspreche eher einem Werbeslogan. Von einem „jungen“ Team könne insoweit auch dann die Rede sein, wenn sich das bei dem Arbeitgeber bestehende Team noch in der Entwicklung befinde. Es liege daher nicht ohne Weiteres der Schluss nahe, dass damit das Lebensalter der Teammitglieder gemeint sei.

Es komme bei der Auslegung der Formulierung in der Stellenanzeige auch nicht auf das Verständnis des Klägers an, sondern auf die Wahrnehmung von verständigen und redlichen potentiellen Bewerbern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise, denn die Stellenausschreibung richte sich an eine unbekannte Vielzahl von Personen. Nach diesem Maßstab sei nicht ersichtlich, dass der Beklagte nur Bewerber mit niedrigem Lebensalter suchte. Die übertriebene Selbstdarstellung sollte ersichtlich das Arbeitsumfeld beschreiben, aber nicht etwa potentielle Bewerber höheren Alters abschrecken.

Auch der datenschutzrechtliche Entschädigungsantrag blieb erfolglos. Für den geforderten Schadensersatzanspruch nach DSGVO hätte laut LAG auch ein tatsächlicher Schaden eingetreten sein müssen. Da der Kläger dazu, welcher (immaterielle) Schaden bei ihm vorliegen soll, nichts vorgetragen hatte, konnte er sich auch mit diesem Antrag nicht durchsetzen.

Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung ist praxisgerecht und differenziert vorbildlich zwischen einer Beschreibung des Teams auf der einen und einer Beschreibung der Bewerberanforderungen auf der anderen Seite. Dies liegt auf der Linie der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, welches eine Altersdiskriminierung zwar bei einer Beschreibung eines Teams als „jung und dynamisch“ bejaht hatte (BAG vom 11.08.2016, 8 AZR 406/14), hingegen eine solche Beschreibung des Unternehmens für unproblematisch erachtete (BAG vom 23.11.2017, 8 AZR 604/16). Das LAG hat hier, wenngleich vom „Team“ die Rede war, dies auf das Unternehmen bezogen, was mit Blick auf die beschriebene Belegschaftsstruktur in der Tat die näherliegende Interpretation ist.

Praxistipp
Noch im Newsletter Mai 2023 haben wir als Negativbeispiel für einen potentiellen Diskriminierungsverdacht die Formulierung „Junges Team“ angeführt. Die vorliegende Entscheidung fällt zwar für den betroffenen Arbeitgeber in die Kategorie „nochmal gut gegangen“ – trotzdem wäre es klüger gewesen, die Auseinandersetzung durch weniger angreifbare Formulierungen gleich zu vermeiden. Insoweit ist zu bedenken, dass solche Verfahren auch dann Geld kosten, wenn man sie gewinnt – und die Zahl der möglicherweise abzuwehrenden Klagen ist gerade bei Internet-Veröffentlichungen letztlich unkalkulierbar. Arbeitgeber sollten daher in der Praxis ihre Formulierungen in Stellenausschreibungen möglichst im Vorfeld darauf analysieren, ob sie sich damit dem Verdacht einer Altersdiskriminierung aussetzen könnten, und dann im Zweifelsfall besser umformulieren.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Erfolgreicher Zustimmungsersetzungsantrag für Kündigung eines Betriebsratsvorsitzenden
LAG Niedersachsen vom 28.02.2024, 13 TaBV 40/23

Betriebsratsmitglieder genießen angesichts ihrer Tätigkeit einen umfassenden Kündigungsschutz und können grundsätzlich nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und nur mit Zustimmung des Betriebsratsgremiums eine wirksame Kündigung erhalten. Das gesetzliche Anliegen ist der Schutz vor möglichen Repressalien, wenn Betriebsratsvertreter sich dem Arbeitgeber als engagierte Interessenvertreter für die Belegschaft entgegen stellen. In der Regel erteilen Betriebsratsgremien nur höchst selten die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung eines Kollegen, so dass Arbeitgeber gezwungen sind, die Zustimmung gerichtlich ersetzen zu lassen. Über einen solchen Antrag hatte kürzlich das LAG Niedersachsen zu entscheiden.

Sachverhalt
Der Betriebsratsvorsitzende eines Betriebs aus der Logistikbranche in Niedersachsen hatte sich mit Einverständnis des Arbeitgebers und auf dessen Kosten – für ca. EUR 2.000,00 – zur Teilnahme am sog. „Deutschen Betriebsrätetag“ in Bonn angemeldet. Es handelte sich um eine dreitägige Reise. Der Betriebsratsvorsitzende hatte u. a. angegeben, dass er am zweiten Tag von 13 bis 16 Uhr und von 19 bis 22 Uhr Betriebsratsarbeit geleistet habe. Tatsächlich konnte der Arbeitgeber jedoch feststellen, dass der Betriebsratsvorsitzende allenfalls bis zum Vormittag des zweiten Tages am Betriebsrätetag teilgenommen, sich dann aber stattdessen in Düsseldorf in einem Café aufgehalten und mit seiner Ex-Frau getroffen hatte. Auch am dritten Tag war er rein privaten Aktivitäten nachgegangen.

Den privat veranlassten Ausflug nach Düsseldorf hatte der Betriebsratsvorsitzende auch eingeräumt, behauptete aber, auch während der Anwesenheit im Café habe er Betriebsratsarbeit geleistet, da dies auch mobil möglich sei. Der Arbeitgeber betrachtete diese Erklärung als nicht überzeugend und warf dem Betriebsratsvorsitzenden daher eine falsch dokumentierte Arbeitszeit vor. Die Dokumentation von angeblicher Betriebsratstätigkeit, während man lediglich privaten Angelegenheiten nachgeht, stelle einen möglichen Arbeitszeitbetrug dar.

In Vorbereitung der insoweit beabsichtigten Kündigung unterrichtete der Arbeitgeber den Betriebsrat und bat um dessen Zustimmung. Der Betriebsrat lehnte es ab, der Kündigung zuzustimmen. Das Arbeitsgericht Lüneburg gab dem entsprechenden Zustimmungsersetzungsantrag erstinstanzlich statt.

Entscheidungsgründe
Das LAG Niedersachsen bestätigte die Entscheidung. Es stehe zur hinreichenden Überzeugung des Gerichts fest, dass der Betriebsratsvorsitzende gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten in einem Maße verstoßen habe, dass dies den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung rechtfertige.

Das eigenmächtige Verlassen des Betriebsrätetages spätestens am Vormittag des zweiten Tages ohne Rückkehr zur Veranstaltung stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten dar. Hinsichtlich der am zweiten Tag dokumentierten Betriebsratsarbeit bestehe der dringende Verdacht, dass die Angaben falsch seien. Die Ausführungen des hierzu angehörten Betriebsratsvorsitzenden seien nicht glaubhaft und widersprüchlich gewesen.

Daher war die verweigerte Zustimmung durch das Gericht zu ersetzen.

Konsequenzen für die Praxis
Mit der erfolgreichen Zustimmungsersetzung ist der Fall noch nicht zu Ende – der Arbeitgeber muss dann, auch wenn das Gericht ihm schon das Vorliegen eines wichtigen Grundes bestätigt hat, erst noch die Kündigung aussprechen. Angesichts des erforderlichen Zustimmungsersetzungsverfahrens ist natürlich eine Einhaltung der üblichen Kündigungserklärungsfrist von zwei Wochen nicht möglich, so dass es genügt, innerhalb von zwei Wochen die Zustimmungsersetzung zu beantragen – dementsprechend muss die Beteiligung des Betriebsrats angesichts der für diesen geltenden Dreitagesfrist am zehnten Tag des Fristenlaufs eingeleitet werden. Der Ausspruch der Kündigung ist bei Notwendigkeit eines Zustimmungsersetzungsverfahrens wiederum erst möglich, wenn die Entscheidung rechtskräftig ist, so dass auch im vorliegenden Fall das Arbeitsverhältnis zunächst fortgeführt wurde und der Betriebsratsvorsitzende vorläufig im Amt blieb.

In der Praxis führt aber eine zweitinstanzliche Bestätigung der Zustimmungsersetzung in der Regel dazu, dass die Arbeitsvertragsparteien sich auf eine einvernehmliche Beendigung verständigen, da die Entscheidung im Beschlussverfahren ein starkes Indiz dafür darstellt, dass auch die nun auszusprechende Kündigung einer gerichtlichen Prüfung Stand halten wird. Insbesondere steht mit Bindungswirkung für ein späteres Kündigungsschutzverfahren fest, dass ein wichtiger Grund vorliegt. Da das betroffene Betriebsratsmitglied bereits im Zustimmungsersetzungsverfahren zu beteiligen ist und somit hinreichenden Einfluss auf die gerichtlichen Feststellungen nehmen kann, ist diese Bindungswirkung auch sachgerecht.

Praxistipp
Erfahrungsgemäß ist die Versuchung groß, bei Konflikten mit Betriebsratsmitgliedern und speziell mit aktiven Vorsitzenden zur Kündigungsvorbereitung zu schreiten. Arbeitgeber müssen hier allerdings eine saubere Abgrenzung vornehmen, wann eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten vorliegt und wann es sich „nur“ um eine Amtspflichtverletzung handelt. Insbesondere bei denkbaren Arbeitsvertragsverletzungen, zu denen die Betriebsratstätigkeit erst die „Gelegenheit“ bietet, ist die Abgrenzung nicht immer einfach. Arbeitgeber sollten daher jeweils rechtzeitig entsprechende Beratung einholen, da in diesem Kontext viele Fehler in der Praxis meist kaum noch geheilt werden können.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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März 2024



Wirksame Kündigung wegen Vorlage eines Internet-Generierten Attests
BAG vom 14.12.2023, 2 AZR 55/23

Bereits in der Januar-Ausgabe unseres Newsletters hatten wir von einer Entscheidung berichtet, in der sich das Bundesarbeitsgericht mit dem Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auseinandergesetzt hat. Am selben Tag stand auch ein Sachverhalt zur Entscheidung an, bei dem es nicht um Fragen der Entgeltfortzahlung auf Basis einer fragwürdigen Bescheinigung ging, sondern um eine außerordentliche Kündigung nach Vorlage einer ohne vorherigen Arztkontakt über einen Internet-Anbieter generierten Impfunfähigkeitsbescheinigung. Das Bundesarbeitsgericht sah hierin einen Grund zur außerordentlichen Kündigung.

Sachverhalt
Die Klägerin, Pflegehelferin in einem Krankenhaus, hatte sich im Zusammenhang mit den neuen Anforderungen bzgl. der einrichtungsbezogenen Impfpflicht über eine Internetseite eine „Bescheinigung“ generieren, wonach bei ihr angeblich eine „vorläufige Impfunfähigkeit“ vorliege. Die Vorlage dieser Bescheinigung eröffnete ihr die Möglichkeit, ohne erhaltene Impfung gegen Corona weiter der Tätigkeit im Krankenhaus nachzugehen. Einen Arztkontakt hatte es vor Ausstellung der Bescheinigung nicht gegeben. Dennoch wurde dokumentiert, dass bei der Klägerin angeblich im Falle einer Impfung das erhebliche Risiko schwerer Nebenwirkungen bestehe.
Nachdem das beklagte Krankenhaus davon erfahren hatte, dass die Klägerin nicht etwa entsprechend ärztlich untersucht worden war, sondern die Bescheinigung schlicht im Internet „gekauft“ hatte, erhielt die Klägerin eine außerordentliche und fristlose Kündigung. Der hiergegen gerichteten Kündigungsschutzklage gab das Arbeitsgericht Lübeck noch statt, während das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein sie abwies. Hiergegen richtete sich die von der Klägerin eingereichte Revision.

Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die zweitinstanzliche Entscheidung und sah in dem geschilderten Vorgehen einen wichtigen Grund zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne Vorliegen einer einschlägigen Abmahnung. Zur Begründung führte es aus, dass die wahrheitswidrige Behauptung einer Impfunfähigkeit eine erhebliche Nebenpflichtverletzung darstelle. Gerade in einem Krankenhaus komme man mit gefährdeten Personen in Kontakt.
Die Vorlage einer solchen Bescheinigung suggeriere das Zugrundeliegen einer entsprechenden Anamnese. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer sich vielleicht tatsächlich für impfunfähig hält oder ob das Verhalten auch strafbar ist. Maßgeblich für das Arbeitsverhältnis ist der entsprechende Vertrauensbruch mit bewusst wahrheitswidrigem Vorgehen.

Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung beinhaltet einen Fingerzeig für die bereits im Newsletter für Januar angesprochene Thematik der „gekauften“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Konsequent weiter gedacht, kann sich ein Arbeitnehmer demnach auch nicht darauf berufen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig sei, wenn er versucht, diese Arbeitsunfähigkeit mit einer gekauften Bescheinigung ohne jeglichen Arztkontakt „nachzuweisen“. Ein anderes Verständnis wäre auch absurd, da andernfalls jeder Arbeitnehmer einen vermeintlichen Irrtum „gut“ hätte und jeder risikofrei auf solche Bescheinigungen setzen könnte, bis es der Arbeitgeber erstmals beanstandet. Es bleibt zu hoffen, dass diese Linie auch bei den unterinstanzlichen Gerichten, bei denen bereits die ersten Fälle des entsprechenden „Geschäftsmodells“ anhängig sind, ihre Fortsetzung findet und die Rechtsprechung dazu beiträgt, dass sich das genannte Geschäftsmodell gar nicht erst etabliert.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Kein Schadensersatz bei verspäteter oder unvollständiger Auskunft nach der Datenschutzgrundverordnung?
Landesarbeitsgericht Düsseldorf vom 28. November 2023 – 3 Sa 285/23

Ein Schadensersatzanspruch gemäß Art. 82 Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) setzt einen Schaden voraus. Dies ist nicht neu. Eine lediglich verzögerte oder unvollständige Auskunftserteilung gemäß Art. 15 DS-GVO fällt jedoch nach Ansicht des Arbeitsgerichts Düsseldorf schon grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich der Schadensersatznorm aus Art. 82 DS-GVO. Denn hierfür ist eine gegen die DS-GVO verstoßenden Datenverarbeitung notwendig. Dies ist neu.

Sachverhalt
Ein ehemaliger Arbeitnehmer, der vom 1. bis 31. Dezember 2016 bei der beklagten Arbeitgeberin tätig war, stellte im Jahr 2020 einen Antrag auf Auskunft gemäß Art. 15 der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO), der nur teilweise vom Unternehmen beantwortet wurde. Am 1. Oktober 2022 forderte er erneut eine Datenauskunft und verlangte eine Datenkopie gemäß Art. 15 DS-GVO, wobei er eine Frist bis zum 16. Oktober 2022 setzte. Die Arbeitgeberin reagierte hierauf nicht, woraufhin der Arbeitnehmer am 27. Oktober 2022 seine Forderung nach Datenauskunft erneuerte. Die am 27. Oktober 2022 erteilte Auskunft wurde vom Arbeitnehmer als verspätet und inhaltlich unzureichend angesehen, da wesentliche Angaben fehlten. Insbesondere fehlten Angaben zur Dauer der Datenspeicherung und zu den Namen der Personen, an die die personenbezogenen Daten weitergeleitet wurden. Nach einer weiteren Aufforderung des Arbeitnehmers teilte die Arbeitgeberin ihm die Speicherdauer mit, nannte jedoch nicht die Namen der Datenempfänger. Die geforderte Information gab die Arbeitgeberin im Ergebnis erst auf nochmalige Anfrage des Arbeitnehmers preis.

Der Arbeitnehmer war der Ansicht, seinem Auskunftsverlangen wurde mehrfach unzureichend entsprochen. Gestützt auf Art. 82 Abs. 1 DS-GVO forderte er mindestens 2.000,00 Euro Schadensersatz. Die ehemalige Arbeitgeberin wandte ein, dem Arbeitnehmer fehle es an einem materiellen Schaden. Das Arbeitsgericht Duisburg gab dem Arbeitnehmer recht und sprach ihm 10.000,00 Euro Schadensersatz zu.

Die Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf verneinte den Anspruch in zweiter Instanz aufgrund des Fehlens eines immateriellen Schadens und der Unanwendbarkeit von Art. 82 DS-GVO auf Verstöße gegen Art. 15 DS-GVO. Zwar habe die Arbeitgeberin dem Auskunftsanspruch aus Art. 15 DS-GVO nicht entsprochen und gegen die Regelung zur Informationserteilung gemäß Art. 12 Abs. 3 DS-GVO verstoßen. Trotzdem lehnte das Gericht einen Schadensersatzanspruch ab, da der entsprechende Anspruch eine gegen die DS-GVO verstoßende Datenverarbeitung voraussetzt. Eine Verletzung der Auskunftspflicht nach Art. 15 DSGVO aufgrund einer verspäteten oder unterlassenen Informationserteilung stellt hingegen keine unrechtmäßige Datenverarbeitung dar. Ferner müssten Arbeitnehmer einen konkreten immateriellen Schaden geltend machen, der über den bloßen Verstoß gegen eine Vorschrift der DS-GVO hinausgeht, um eine Geldentschädigung verlangen zu können. Der vom Arbeitnehmer geltend gemachte Kontrollverlust über seine Daten genügte dem Landesarbeitsgericht hierfür nicht.

Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung ist für Arbeitgeber erfreulich. Der in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten beinahe zum Standardrepertoire gehörende datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch wird mit der Entscheidung deutlich entschärft. Hierdurch wird das Missbrauchspotential begrenzt. Abzuwarten bleibt, ob das Bundesarbeitsgericht – die Revision wurde ausdrücklich zugelassen – oder im Falle eines Vorabentscheidungsverfahrens der Europäische Gerichtshof - die Entscheidung bestätigt.

Praxistipp
Werden Unternehmen von ihren Mitarbeitern mit einem datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch konfrontiert, stellt die stufenweise Erfüllung des Auskunftsanspruchs weiterhin eine valide Möglichkeit dar, dass sich Auskunftsverlangen im Zuge gerichtlicher Auseinandersetzungen verlaufen können. Arbeitgeber sollten daher zunächst das Stammdatenblatt zu den erfassten Daten übermitteln und – in Abhängigkeit des konkreten Auskunftsverlangens – zur Konkretisierung auffordern. Trotzdem sollten Unternehmen mit Blick auf die bestehenden Bußgeldrisiken eine ordnungsgemäße Datenschutz-Compliance implementieren.

Christian Böhm, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

    
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Februar 2024

 

Keine Tricksereien mit dem Mindestlohn!

LAG Baden-Württemberg vom 11.01.2024, 3 Sa 4/23

Der Mindestlohn hat in jüngerer Zeit spürbar angezogen. Für manche Arbeitgeber sind die damit zusammenhängenden Mehrbelastungen nicht ganz leicht zu stemmen. Der vorliegende Fall zeigt, dass Gerichte es nicht hinnehmen, wenn Arbeitgeber versuchen, durch Tricksereien Geld zu sparen.

Sachverhalt
Die Klägerin war seit über zwanzig Jahren mit einer monatlichen Arbeitszeit von 171 Stunden für die Beklagte tätig und erhielt ein damit korrelierendes verstetigtes Monatsgehalt. Laut Arbeitsvertrag standen der Klägerin Ansprüche auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu, wobei sich die Zahlungen auf jeweils 50% eines Monatsgehalts beliefen und die Auszahlungen im Juni bzw. November erfolgten.

Ende 2021 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass entgegen der bisherigen Praxis zukünftig eine monatliche Zahlung in zwölf Raten erfolge. Die Beklagte berief sich darauf, dass sie als Schuldnerin die Leistungszeit entsprechend bestimmen könne und auch bereits vor Fälligkeit leisten dürfe. Die anteiligen monatlichen Zahlungen wurden dabei jeweils auf den Mindestlohn angerechnet. Tatsächlich erreichte die Beklagte nur so das erforderliche Gehaltsvolumen, um ausgehend von einer tatsächlichen Stundenzahl von 171 Stunden den Mindestlohnanspruch zu erfüllen.

Die Klägerin machte geltend, dass die Beklagte mit den monatlichen Abschlägen das Ziel verfolge, die Vorgaben zum Mindestlohn auszuhebeln und dass sie sich mit einer monatsweisen Zahlung auch nicht einverstanden erklärt habe. Die Zahlungsweise bedeute, dass ihr von der Mindestlohnerhöhung tatsächlich nichts zufließe. Das Vorgehen der Arbeitgeberin sei daher unzulässig und die Differenz zum Mindestlohn entsprechend nachzuzahlen.

Das Arbeitsgericht Pforzheim hielt das Vorgehen der Beklagten mit vorzeitigen Abschlagszahlungen für zulässig und ging davon aus, dass die gezwölftelte Sonderzahlung Erfüllungswirkung habe. Im Übrigen wurde auch moniert, dass die Klägerin nicht die tatsächlich von ihr geleisteten Stunden dargelegt, sondern sich nur auf einen Monatsdurchschnitt berufen hatte.

Entscheidung
Das LAG Baden-Württemberg widersprach dem Arbeitsgericht hinsichtlich der Möglichkeit, die Sonderzahlungen auf eine monatliche Zahlungsweise umzustellen und so auf den nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) geschuldeten Mindestlohn anzurechnen. Es hielt dies aus mehreren Gründen für nicht zulässig.

Die gesetzliche Regelung in § 271 Abs. 2 BGB ermögliche dem Schuldner nur „im Zweifel“ eine vorzeitige Erfüllung. Vorliegend sei aber von einem spezifischen Zweck der Zahlungen auszugehen. Die Bezeichnung als Urlaubs- bzw. Weihnachtsgeld indiziere, dass die Zahlungen zum Bestreiten typischer Aufwendungen für Sommerurlaub und Weihnachtsfest gedacht seien.

Angesichts der seit Jahren praktizierten Auszahlungszeitpunkte im Juni und November hätten sich die Parteien faktisch auf einen Auszahlungszeitpunkt geeinigt. Die Klägerin habe auch ein geschütztes rechtliches Interesse daran, die Leistung nicht vor Fälligkeit annehmen zu müssen, weil sie sonst die ungewünschte Anrechnung auf den Mindestlohn unterstützen würde.

Tatsächlich hatte die Klägerin allerdings auch weiterhin ihre Klage größtenteils nicht mit den geleisteten Arbeitsstunden, sondern nur mit ihrem monatlichen Stundendurchschnitt begründet, weshalb das Landesarbeitsgericht der Berufung nur in geringem Umfang entsprach. Es stellte dabei darauf ab, dass sich der MiLoG-Anspruch nach den tatsächlichen Arbeitsstunden richte und dies eine schlüssige Darlegung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden erfordere. Da diese allerdings nur für einen der Monate unstreitig waren, konnte auch nur für diesen Monat dem Begehren entsprochen werden.

Konsequenzen für die Praxis
Die Idee der Umstellung von Sonderzahlungen auf monatliche Teilbeträge ist nicht neu. Beispielsweise hatte das LAG Hamm (vom 14.01.2016, 18 Sa 1279/15) über einen Fall zu entscheiden, in welchem deutlich vor Inkrafttreten des MiLoG die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung schlossen, mit der auf monatliche Zahlweise umgestellt worden war. Im Kontext der Frage, ob eine Anrechnung auf den Mindestlohnanspruch erfolgen kann, hat das LAG Hamm die Teilzahlungen als monatlich verstetigte Arbeitsvergütung mit funktionaler Gleichwertigkeit angesehen. Wegen der zeitlichen Abläufe musste das LAG Hamm nicht mehr klären, ob es sich bei einer solchen Vereinbarung um eine unzulässige Umgehung des MiLoG handelt.

Das LAG Baden-Württemberg hat der streitigen Frage der Erfüllungswirkung vorfristiger Abschlagszahlungen grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher für die Beklagte die Revision zugelassen.

Praxistipp
Tatsächlich scheitern wiederholt Klagen im Zusammenhang mit Mindestlohnansprüchen daran, dass die geleisteten Arbeitsstunden nicht schlüssig dargelegt sind. Der Mindestlohn ist kein Fixbetrag, sondern für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde geschuldet. Entspricht die Gesamtvergütung nicht dem Produkt aus Mindestlohnsatz und Stundenvolumen (vgl. BAG vom 25.05.2016, 5 AZR 135/16), hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Differenzvergütung. Voraussetzung ist aber, dass der Arbeitnehmer das Stundenvolumen darlegt, da sonst die Soll-Vergütung nach MiLoG nicht bestimmt und nicht mit der Ist-Vergütung verglichen werden kann.

Es bleibt abzuwarten, ob sich mit Blick auf die Vorgaben zur Zeiterfassung Arbeitgeber auch in Zukunft darauf berufen können, dass es an einer hinreichenden Darlegung des tatsächlich geleisteten Stundenvolumens fehle.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg
 
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Kein Arbeitsverhältnis unter dieser Nummer
ArbG Bremen-Bremerhaven vom 14.12.2023, 2 Ca 2206/23 und 2207/23


Kündigungen von Low-Performern sind für Arbeitgeber meist ziemlich herausfordernd. Bereits die Festlegung der Richtung des Vorwurfs ist fehlerträchtig, da der Arbeitgeber nicht immer weiß, ob die unterdurchschnittlichen Leistungen an mangelndem Willen (dann: verhaltensbedingte Kündigung denkbar) liegen oder auf mangelnde Fähigkeiten (dann: personenbedingte Kündigung als Mittel der Wahl) zurückzuführen sind. Die nachstehende Entscheidung des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven ist erfreulich praxisgerecht und stellt realistische Anforderungen an die Darlegungsmöglichkeiten des Arbeitgebers.

Sachverhalt
Die Arbeitgeberin – die Freie Hansestadt Bremen – nahm mit Zustimmung des Personalrats eine Auswertung der Telefoniezeiten von Mitarbeitern des Bürgertelefons Bremen vor. Die Auswertung erstreckte sich über vier Einzelstichproben im Zeitraum von März bis Mai 2023 und brachte zutage, dass zwei Service-Mitarbeiter in nur weit unterdurchschnittlichem Umfang Telefonanrufe entgegen genommen hatten. Der Erwartungswert für Telefoniezeiten lag nach Darstellung der Arbeitgeberin bei 60% der dienstplanmäßigen täglichen Arbeitszeit. Die Kläger kamen auf kaum mehr als die Hälfte dieses Erwartungswertes und lagen mitunter auch noch unterhalb der Hälfte.

Die Arbeitgeber betrachtete die faktische Nichtarbeit als Arbeitszeitbetrug und erklärte beiden Beschäftigten gegenüber mit Zustimmung des Personalrats die Kündigung.

Die Mitarbeiter hingegen hielten die Auswertung für unzulässig und beriefen sich außerdem darauf, dass sie zuvor weder abgemahnt noch auch nur angehört worden seien. Das Vorliegen eines Betruges könne nicht unterstellt werden; allenfalls könne man ihre Leistung als unterdurchschnittlich betrachten. Weiterhin machten sie geltend, dass sie lediglich wegen ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft überprüft worden seien und dies auch die Motivation für die Kündigung darstelle.

Entscheidung
Das Arbeitsgericht bewertete die dargestellten Telefoniezeiten als vorsätzliche vertragswidrige Vernachlässigung der Arbeitspflicht und bewertete die Diskrepanzen als so gravierend, dass dies nicht mehr mit einer normalen Minderleistung erklärbar sei. Die Auswertung sei auch zulässig gewesen, da der Personalrat ihr zugestimmt hatte. Auf die Frage, ob dies auch von der im entsprechenden Betrieb geltenden Dienstvereinbarung gedeckt war, komme es daher nicht an. Auch den behaupteten Zusammenhang mit ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft vermochten die Betroffenen aus Sicht des Arbeitsgerichts nicht darzulegen.

Da die Kündigungen somit für rechtmäßig erachtet wurden – und zwar sogar als fristlose –, blieben die hiergegen gerichteten Kündigungsschutzklagen erfolglos. Beide Kläger signalisierten aber, gegen die Entscheidung vorgehen und den Fall zum Landesarbeitsgericht bringen zu wollen.

Konsequenzen für die Praxis
Das Arbeitsgericht verortet die verhaltensbedingte Kündigung von Low Performern im Kontext von Arbeitsverweigerung und Arbeitszeitbetrug. Arbeitgeber sollten daher solche Sachverhalte daraufhin bewerten, ob die identifizierte Minderleistung sich diesem Typus von Vorwürfen zuordnen lässt. Die Begründung der Kündigung bedarf – erst recht, wenn dies bereits in der Betriebsratsanhörung aufzubereiten ist – einer gründlichen Vorbereitung.

Interessant ist außerdem, dass das Arbeitsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts betont, dass durch eine Auswertung gewonnene Daten auch dann verwertbar sind, wenn ihre Gewinnung nicht vollständig den datenschutzrechtlichen Vorgaben entspricht. Arbeitnehmer genießen keinen generellen Schutz davor, dass sie in solchen Fällen eines vorsätzlichen vertragswidrigen Verhaltens überführt werden und können sich nicht ohne Weiteres auf Beweisverwertungsverbote berufen.

Dennoch ist zu empfehlen, sich der datenschutzrechtlichen Verwertbarkeit nicht zu sicher zu sein, so dass die Rechtsprechung nicht als Freibrief verstanden werden kann, durch datenschutzwidriges Vorgehen Kündigungen vorzubereiten.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg
 
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Januar 2024

 
  
Neues zum Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
BAG vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23

Im Zusammenhang mit fragwürdigen Arbeitsunfähigkeitszeiten befindet sich die Rechtsprechung derzeit ziemlich im Fluss. Der klassische „gelbe Schein“ – der nach derzeitiger Rechtslage eigentlich bei gesetzlich Versicherten keine Rolle mehr spielen sollte, aber nicht selten dennoch weiterhin maßgeblich ist – gilt als prinzipiell verlässlich und stellt einen anerkennenswerten Beleg dafür dar, dass tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Die Voraussetzungen dafür, wann dieser erste Anschein als erschüttert anzusehen sind, nähern sich in der Rechtsprechung erfreulicherweise mehr und mehr der Realität an – so auch in der vorliegenden Entscheidung.

Sachverhalt
Der klagende Arbeitnehmer hatte seinem Arbeitgeber am 2. Mai 2022 eine bis zum 6. Mai 2022 geltende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt. Während dieser Arbeitsunfähigkeitsdauer erhielt er eine fristgerechte Kündigung mit Wirkung zum 31. Mai 2022. Über die Kündigungsabsicht war er zuvor nicht in Bilde. Er deckte sodann mit zwei weiteren Folgebescheinigungen den Zeitraum bis exakt zum 31. Mai 2022 ab und kehrte nicht mehr in den aktiven Dienst zurück.
 
Da es sich bei dem letzten Tag des Arbeitsverhältnisses um einen Dienstag handelte und der nunmehr ehemalige Arbeitnehmer pünktlich zum 1. Juni 2022 wiedergenesen ein neues Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber antrat, waren dem bisherigen Arbeitgeber die entsprechenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen suspekt und er verweigerte die Entgeltfortzahlung für den gesamten Zeitraum. Die Deckungsgleichheit zwischen Arbeitsunfähigkeitszeitraum und Kündigungsfrist stelle, so der Arbeitgeber, einen Grund dar, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Zweifel zu ziehen.
 
Sowohl Arbeits- als auch Landesarbeitsgericht gaben der Zahlungsklage des Arbeitnehmers statt.
 
Die Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht gab dem Arbeitgeber für den Zeitraum ab dem 7. Mai 2022 recht und verwies den Fall an das Landesarbeitsgericht zurück. Der Arbeitgeber habe den typischen Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliegend erschüttert, da er Umstände dargelegt habe, die berechtigte Zweifel am tatsächlichen Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit begründen.
 
Ein solcher Umstand, der den Beweiswert in Frage stellt, kann bei Gesamtwürdigung des Sachverhalts darin liegen, dass Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau exakt die Dauer der Kündigungsfrist abdecken und der Arbeitnehmer am Tag nach der Beendigung andernorts sofort wieder arbeitsfähig ist. Demgegenüber war der Beweiswert der vor Erhalt der Kündigung vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert, da der Arbeitnehmer bei deren Vorlage noch nicht über die Beendigungsabsicht informiert war.
 
Konsequenz der Erschütterung des Beweiswerts ist dabei nicht der Wegfall des Anspruchs, sondern eine Änderung hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Um die möglichen Umstände, die eine trotz der Erschütterung bestehende Arbeitsunfähigkeit belegen könnten, weiter aufklären zu können, erfolgte eine Zurückverweisung in die Tatsacheninstanz.
 
Konsequenzen für die Praxis
Begrüßenswert ist, dass dem Bundesarbeitsgericht das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit bei Kündigungszugang allein nicht ausreicht, um auch die Folgebescheinigungen an der hohen Glaubwürdigkeit entsprechender Nachweise teilhaben zu lassen. Der Umstand, dass der Arbeitnehmer bereits arbeitsunfähig gewesen war, bedeutet nicht, dass seine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit ebenfalls authentisch sein muss. Dementsprechend können auch Indizien, die nur gegen eine Folgebescheinigung sprechen, deren Beweiswert erschüttern.
 
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Klarstellung, dass es hinsichtlich des Erschütterungsindizes im Falle eines Gleichlaufs zwischen Kündigungsfrist und Arbeitsunfähigkeitszeitraum auch nicht darauf ankommt, welche der Parteien die Kündigung des Arbeitsverhältnisses erklärt hatte.
 
Im Rahmen der sodann dem Arbeitnehmer obliegenden Darlegungs- und Beweislast kann dieser beispielsweise seine behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden oder auch selbst eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse veranlassen.
 
Praxistipp
In der Praxis ist es durchaus angebracht, auf die Vorlage fragwürdiger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit einer vorläufigen Einstellung der Entgeltfortzahlungsleistungen zu reagieren. In jüngerer Zeit häufen sich, gerade auch durch die Möglichkeit von Online-Krankschreibungen, zweifelhafte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die ggf. einer gerichtlichen Prüfung zugeführt werden sollten. Bei ersichtlich online erstellten Dokumenten ist ggf. zu prüfen, ob der vermeintlich ausstellende Arzt einer derjenigen ist, vor denen mehrere Ärztekammern warnen, da es approbierte Ärzte mit diesen Namen bei keiner Ärztekammer in Deutschland gibt. Arbeitgeber sollten sich hier nicht scheuen, entsprechende Zweifel anzumelden und ggf. Beratung einzuholen, ob die gegen eine authentische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sprechenden Indizien es als gerechtfertigt erscheinen lassen, die Entgeltfortzahlung zu verweigern. In Extremfällen ist auch daran zu denken, den Sachverhalt – sicherheitshalber unter Anhörung des Arbeitnehmers – auf möglichen Betrug zu prüfen und ggf. eine Kündigung auszusprechen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Anspruch auf Urlaubsabgeltung als GmbH-Fremdgeschäftsführer
BAG, Urteil vom 25. Juli 2023 – 9 AZR 43/22

Einem Fremdgeschäftsführer einer GmbH kann ein Urlaubsabgeltungsanspruch unmittelbar auf Grundlage des § 7 Abs. 4 BUrlG zustehen. Dabei ist der Arbeitnehmerbegriff des BUrlG im Hinblick auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG europarechtskonform auszulegen und damit der vom EuGH definierte weitergehende Arbeitnehmerbegriff maßgebend.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Klägerin war zunächst als Arbeitnehmerin bei der zur Unternehmensgruppe der Beklagten gehörenden GmbH beschäftigt. Ab 2012 war sie auf Grundlage eines Dienstvertrages als Geschäftsführerin der Beklagten tätig.

Ab 2018 übernahm die Beklagte für die zur Unternehmensgruppe gehörenden GmbH die Durchführung bestimmter entgeltlicher Dienstleistungs- und Beratungstätigkeiten. Dazu stellte die Beklagte der GmbH „ihre Geschäftsführerin […] im erforderlichen Umfang für den o. g. Tätigkeitsbereich zur Verfügung“.

Vor diesem Hintergrund wurde die Klägerin ab dem Jahre 2018 bei der zur Unternehmensgruppe der Beklagten gehörenden GmbH eingesetzt. Im Rahmen ihrer Tätigkeit hatte die Klägern eine feste Arbeitszeit (07:00 Uhr bis 18:00 Uhr) einzuhalten. Zu den Aufgaben der Klägerin gehörte es, vormittags eine sog. „Kaltakquise“ durchzuführen. Am Nachmittag hatte sie in eigener Initiative Leistungen anzubieten und wurde im Außendienst, zu Kundenbesuchen und mit Kontroll- und Überwachungsaufgaben eingesetzt. Dabei musste die Klägern wöchentlich 40 Telefonate und 20 Besuche durchführen und nachweisen. Darüber hinaus umfasste der Aufgabenbereich der Klägerin die Durchführung von Vorstellungsgesprächen und Einstellungsverhandlungen.

Im September 2019 legte die Klägerin gegenüber der Beklagten ihr Amt als Geschäftsführerin nieder und beendete das mit der Beklagten bestehende Vertragsverhältnis durch Kündigung aus Oktober 2019 zu Ende Juni 2020. Bis zur Beendigung des Vertragsverhältnisses war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt und erbrachte keine Leistungen mehr für die Beklagte.
Die Klägerin hatte im Jahr 2019 von den 33 ihr nach dem Dienstvertrag zustehenden Urlaubstagen nur 11 in Anspruch genommen und im Jahr 2020 überhaupt keinen Urlaub verbraucht. Vor diesem Hintergrund machte die Klägerin einen Anspruch auf Urlaubsabgeltung gegen die Beklagte geltend.

Bereits die Vorinstanzen entschieden im Sinne der Klägerin. Das BAG hielt die Revision der Beklagten für unbegründet.

Entscheidung
Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg. Die Klägerin kann als Geschäftsführerin Urlaubsabgeltung gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG verlangen. Dies ergibt sich aus der insoweit vorzunehmenden, richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Vorschrift.

Im Grundsatz gilt Folgendes: Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub, vgl. § 1 BUrlG. Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Als Arbeitnehmer gelten zudem arbeitnehmerähnliche Personen, vgl. § 2 BUrlG. Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten, vgl. § 7 Abs. 4 BUrlG.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass durch das BUrlG die Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund müssen die nationalen Gerichte das BUrlG so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der vorbenannten Richtlinie auslegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen.
Daraus folgt für die Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in § 2 BUrlG, dass die vom EuGH entwickelten Grundsätze zum Arbeitnehmerbegriff heranzuziehen sind.

Danach ist als „Arbeitnehmer“ jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt. Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen, bleiben dabei außer Betracht. Wesentlich für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses ist, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Auch das Mitglied eines Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft kann nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts zu qualifizieren sein, obwohl der Grad der Abhängigkeit oder Unterordnung eines Geschäftsführers bei der Ausübung seiner Aufgaben in der Regel geringer ist als der eines Arbeitnehmers im Sinne der üblichen Definition des deutschen Rechts.

Die Einordnung als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts bedarf einer Gesamtwürdigung der Umstände unter Einbeziehung
  • der Bedingungen, unter denen die Bestellung erfolgte,
  • der Art der übertragenen Aufgaben,
  • des Rahmens, in dem diese Aufgaben ausgeführt werden,
  • des Umfangs der Befugnisse,
  • der Umstände, unter denen die Abberufung erfolgen kann, sowie
  • der Beurteilung, in welchem Umfang der geschäftsführende Gesellschafter über seine Anteile an der Willensbildung der Gesellschaft wahrnimmt.
 
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist das BAG im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin als Arbeitnehmerin im Sinne des Unionsrechts zu qualifizieren ist. Die Klägerin war weisungsgebunden tätig. Dies folgt insbesondere daraus, dass sie auf Anweisung eine Arbeitszeit von 07:00 Uhr bis 18:00 Uhr einzuhalten hatte. Auch die Art der ihr übertragenen Aufgaben spricht für die Arbeitnehmereigenschaft. Daher ist nach den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG ein gesetzlicher Urlaubsanspruch entstanden. Soweit der (Rest-)Urlaub wegen Beendigung des Vertragsverhältnisses nicht mehr genommen werden könne, sei dieser daher abzugelten.

Bewertung
Die Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für die Gestaltung von Dienstverträgen mit Fremdgeschäftsführern. Sowohl auf der Ebene der Vertragsgestaltung als auch im weiteren Umgang im laufenden Vertragsverhältnis muss die Handhabe an die neue Rechtsprechung angepasst werden.

Die Entscheidung wirft die Frage auf, ob die gesamte Rechtsprechung zum BUrlG auch auf Fremdgeschäftsführer Anwendung findet. Insbesondere stellt sich die Frage, ob Fremdgeschäftsführer auf bestehende, offene Urlaubstage und den möglichen Verfall von Urlaubstagen hingewiesen werden müssen.

In der Praxis sollte jedenfalls bei Fremdgeschäftsführern vorsorglich ein solcher Hinweis erfolgen. Darüber hinaus sollten vertragliche Regelungen in den Dienstvertrag aufgenommen werden, die denen eines Arbeitnehmers entsprechen. Im Hinblick auf die Urlaubsregelung sollte insbesondere zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem vertraglichen Mehrurlaub differenziert werden. Außerdem sollte der mögliche Verfall von Urlaubstagen bereits vertraglich geregelt werden.

Es kann erwartet werden, dass Fremdgeschäftsführer auch in weiteren Konstellationen als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind. Die Weisungsgebundenheit und Berichtspflicht sprechen dafür, wobei im Einzelfall abweichende Einordnungen möglich sind.

Für Gesellschafter-Geschäftsführer bleibt die Frage der Anwendbarkeit des BUrlG offen. Dabei ist beim Allein- oder Mehrheitsgesellschafter nicht davon auszugehen, dass dieser als Arbeitnehmer zu werten ist. Der bedeutende Einfluss im Rahmen der Gesellschafterversammlung widerspricht der Voraussetzung der Weisungsgebundenheit. Anders dürfte die Frage beim Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer zu beantworten sein, da dessen geringer Einfluss bei der Gesellschafterversammlung der Weisungsgebundenheit nicht entgegensteht.

Schlussfolgernd bringt die neue Rechtsprechung für die Frage der Anwendbarkeit des BUrlG auf Fremdgeschäftsführer Klarheit und orientiert sich abermals am EuGH. Gleichzeitig birgt die Entscheidung einige neue Fragen. Es bleibt offen, ob und mit welcher Reichweite Leitungsorgane auch zukünftig als Arbeitnehmer anzusehen sind.
 
Davia Vijesh Kumar, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg


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Dezember 2023

 
Privatfehde als Auflösungsgrund
LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 15. August 2023 – 5 Sa 172/22

Die Erstattung einer Strafanzeige durch einen Arbeitnehmer führt häufig zu arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen; meistens im Kontext eines Kündigungsrechtsstreits. Wird dabei deutlich, dass es dem anzeigenden Arbeitnehmer nicht nur um die Sache geht, sondern auch ein persönlicher Machtkampf betrieben wird, kann die darin liegende Vernachlässigung der Unternehmensinteressen die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen.

Sachverhalt
Die zu 100% schwerbehinderte Klägerin war bei einem gemeinnützigen Verein aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt und dort auch die Stellvertreterin der ersten Vorsitzenden. Ihre Tätigkeit beruhte auf einem Arbeitsvertrag als „Koordinatorin Hilfe für junge Erwachsene“.
 
In dem Verein ereigneten sich einige Dinge, die die Klägerin ohne vorherigen Versuch einer Klärung mit der ersten Vorsitzenden zur Anzeige brachte. Konkret ging es um die Veruntreuung von Vereinsgeldern, insbesondere durch u. a. erhebliche Zahlungen an den Lebensgefährten der ersten Vorsitzenden, fragwürdige Hotelrechnungen, Abrechnung des Erwerbs einer freistehenden Design-Badewanne auf Vereinskosten, eine mutmaßliche „Quersubventionierung“ eines der ersten Vorsitzenden verbundenen Musikstudios, ein Mitarbeiterdarlehen an den Lebensgefährten der ersten Vorsitzenden über EUR 300.000,00 und zahlreiche fragwürdige Amazon-Bestellungen, darunter das Buch „Scheidung vom Psychopathen“ (erworben im engen zeitlichen Zusammenhang mit der eigenen Trennung der ersten Vorsitzenden von deren Ehemann), ein Buch „Liebesschule für Frauen“, Kosmetikartikel, Damenbekleidung, Hundebedarf und nicht zuletzt Vaginalkugeln. Der Versuch, viele dieser Punkte mit durch den Lebensgefährten durchgeführten „Zaubershows“ für die Kinder zu erklären, blieb erfolglos.
 
Im Gefolge der Strafanzeige sprach der Verein nach Einholung der erforderlichen Zustimmung des Integrationsamts mehrere Kündigungen gegenüber der Klägerin aus – außerordentlich wegen Erstattung der Strafanzeige ohne vorherigen Versuch einer innerbetrieblichen Klärung, aber auch ordentlich u. a. wegen angeblichen Wegfalls des Betreuungsbereichs „junge Erwachsene“. Letzteres wurde mit einer etwa ein Jahr vor Kündigungsausspruch erfolgten Gesetzesänderung begründet.
 
Im Zusammenhang mit den darauf folgenden gerichtlichen Auseinandersetzungen wurden mehrere Äußerungen der Klägerin in sozialen Medien dokumentiert, mit denen diese sich unsachlich und herablassend über die erste Vorsitzende äußerte.
 
Das Arbeitsgericht Stralsund hielt die ausgesprochenen Kündigungen für unwirksam, löste das Arbeitsverhältnis aber gegen Zahlung einer Abfindung auf. Beide Parteien legten Berufung ein.
 
Die Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Insbesondere sei die Einschaltung der Staatsanwaltschaft als Wahrnehmung staatsbürgerliche Rechte im Regelfall nicht als Pflichtverletzung anzusehen, solange die Strafanzeige auf nachvollziehbaren Anhaltspunkten beruhe. Ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis könne zwar für eine unverhältnismäßige Reaktion sprechen – anders sei dies jedoch zu bewerten, wenn realistischerweise keine interne Aufklärung zu erwarten sei. Die Prüfung des Sachverhalts habe ergeben, dass die Beanstandungen der Klägerin nachvollziehbar seien und eine neutrale und unvoreingenommene Aufarbeitung bei Vorwürfen direkt gegen die erste Vorsitzende des Vereins nicht erwartet werden könne. Auch die betriebsbedingte Kündigung war nicht hinreichend begründet worden, insbesondere fehlte es an einer näheren Darstellung der unternehmerischen Entscheidung und des Bezugs zu Art und Umfang der Tätigkeiten der Klägerin.
 
Jedoch bestätigte das Gericht, dass zwischen den Parteien eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht zu erwarten sei. Das Verhältnis zwischen der Klägerin und der ersten Vorsitzenden sei durch eine persönliche Feindschaft bzw. einen Machtkampf geprägt, bei dem die Unternehmensinteressen auf der Strecke blieben. Es sei zu befürchten, dass die Klägerin die erste Vorsitzende als Repräsentantin des Arbeitgebers aus sachfremden Beweggründen beschädigen wolle. Dafür sprächen insbesondere die späteren Äußerungen der Klägerin mit persönlichen Angriffen auf die erste Vorsitzende. Hierbei fehlte es am Bezug zur Geschäftstätigkeit des Vereins. Es sei der Klägerin ersichtlich nicht mehr allein darum gegangen, die satzungsgemäße Verwendung der Vereinsgelder zu klären. Aus diesen Gründen sei das Arbeitsverhältnis gegen Abfindungsleistung in üblicher Höhe aufzulösen.
 
Konsequenzen für die Praxis
In der Praxis ist eine Diskrepanz zwischen potentiellen Auflösungssachverhalten und tatsächlich erfolgreichen Auflösungsanträgen festzustellen. Vorliegend konnte der Arbeitgeber durch den Bericht über späteres Verhalten der ehemaligen Mitarbeiterin den Auflösungsantrag begründen. Die Überlegung, dass es der Klägerin zunächst um die Interessen des Vereins gegangen war, half dieser im Ergebnis nicht weiter, weil die „Jagd“ auf die erste Vorsitzende über die im Vereinsinteresse angezeigten Aktivitäten hinaus ging. Insbesondere konnte es die Klägerin auch nicht entlasten, dass die erste Vorsitzende sich im Falle des Zutreffens der Vorwürfe als untragbar erweisen würde und der eigentliche Vertragspartner nur der Verein und nicht die Person der Vorsitzenden war. Dass der Verein von der „Privatfehde“ in Mitleidenschaft gezogen wurde, genügte als Auflösungsgrund.
 
Dr. Franziska v. Kummer, B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg




Wenn die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern diskriminiert
Europäischer Gerichtshof (EuGH) vom 10. Oktober 2023 – C-660/20

Teilzeitbeschäftigte dürfen nicht schlechter behandelt werden, wenn es darum geht, eine erhöhte Vergütung wegen Überschreitung einer bestimmten Zahl an Arbeitsstunden zu erhalten. Identische Schwellenwerte für Teilzeit- wie für Vollzeitbeschäftigte sind diskriminierend.

Sachverhalt
Ein Pilot arbeitet für die Lufthansa CityLine GmbH als Teilzeitbeschäftigter mit einem Umfang von 90 % im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten. Nach den anwendbaren Tarifverträgen ist die Flugdienstzeit Bestandteil der Arbeitszeit, die mit der Grundvergütung entlohnt wird. Piloten erhalten eine über diese Grundvergütung hinausgehende „Mehrflugdienststunden­vergütung“, also eine Art „Überstundenzuschlag“, wenn sie eine bestimmte Zahl an Flugdienststunden im Monat geleistet haben und die Grenzen für die „Auslösung“ der Mehrvergütung überschritten haben. Die Tarifverträge sehen jedoch für Teilzeitbeschäftigte keine entsprechende Herabsetzung dieser Auslösegrenzen vor, sodass sie für vollzeit- wie für teilzeitbeschäftigte Piloten identisch sind.
 
Der Pilot erhielt für Flugdienststunden, die er über seine individuelle Arbeitszeit hinaus erbrachte, ein aus der Grundvergütung ermitteltes Stundenentgelt. Die im Tarifvertrag vorgesehene „Mehrflugdienststundenvergütung“ erhielt er hingegen erst, wenn seine Flugdienstzeit die für Vollzeitbeschäftigte geltenden Auslösegrenzen überschritt. Der Pilot beanspruchte „Mehrflugdienst­stundenvergütung“ entsprechend der Auslösegrenze unter Berücksichtigung seiner Teilzeitarbeit. Das Arbeitsgericht München gab ihm im ersten Rechtszug Recht. Das Landesarbeitsgericht München wies die Klage demgegenüber in der Berufungsinstanz ab.
 
Die Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht beschloss das Verfahren auszusetzen und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der Gerichtshof bejahte eine Ungleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten und stellte fest, dass dafür keine sachlichen Gründe vorliegen. Er urteilte, dass das Bestehen identischer Schwellenwerte für die Auslösung einer zusätzlichen Vergütung für teilzeitbeschäftigte Piloten gemessen an ihrer Gesamtarbeitszeit einen längeren Flugstundendienst als für vollzeitbeschäftigte Piloten bedeutet. Teilzeitbeschäftigte Piloten würden damit in höherem Maße belastet. Praktisch würden teilzeitbeschäftigte Piloten die Anspruchsvoraussetzungen für die zusätzliche Vergütung weitaus seltener erfüllen als ihre vollzeitbeschäftigten Kollegen. Der Gerichtshof entschied daher, dass eine solche nationale Regelung – hier im Tarifvertrag – zu einer schlechteren Behandlung der teilzeitbeschäftigten Piloten führt und einen Verstoß gegen Unionsrecht bedeutet.
 
Konsequenzen für die Praxis
 Diese Entscheidung wird nicht nur Folgen für die Flugbranche haben, sondern sich auch auf viele andere Branchen auswirken. Der EuGH stellt im Wesentlichen fest, dass Teilzeitbeschäftigte einen Anspruch auf Mehrvergütung ab der ersten Überstunde haben, wenn dies auch für die erste Überstunde bei Vollzeitbeschäftigten gilt. Das Vorliegen eines sachlichen Grundes für eine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten wird eher die Ausnahme bleiben.
 
Praxistipp
In vielen Tarifverträgen finden sich vergleichbare Regelungen. Arbeitgeber und Tarifvertragsparteien sind gut beraten, dies bei zukünftigen Tarifvertragsverhandlungen zu berücksichtigten und in Tarifverträge einfließen zu lassen. Aber auch die Betriebsparteien sollten diese Entscheidung zwingend kennen, denn auch in Betriebsvereinbarungen finden sich oft entsprechende Regelungen. Eine wirksame Regelung sollte die von Teilzeitbeschäftigten zu leistenden Arbeitsstunden, um in den Genuss eines Überstundenzuschlags zu kommen, im Verhältnis zum geschuldeten Teilzeitumfang reduzieren.
 
Christian Böhm, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 

November 2023



Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch zehnstündige Bahnfahrt nicht erschüttert
Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern vom 13. Juli 2023 - 5 Sa 1/23

Eine zu Beginn der Erkrankung angetretene, rund zehnstündige Bahnfahrt zum Familienwohnsitz lässt eine attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist auch nicht deshalb erschüttert, weil sie einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist betrifft.

Sachverhalt
Ein Chefarzt unterhielt eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befindet sich ca. 1.000 km entfernt in Süddeutschland. Im Jahr 2021 kündigte er das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 28. Februar 2022. Am 9. Februar 2022 meldete er sich krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Die behandelnde Hausärztin stellte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) für den Zeitraum vom 9. bis 21. Februar 2022 aus. Ab dem 22. Februar 2022 nahm der Kläger dann seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub. Zum 1. März 2022 begann er in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt.
 
Die Arbeitgeberin hat die Krankschreibung angezweifelt und den Lohn einbehalten. Sie war der Ansicht, wenn der Chefarzt krank gewesen wäre, hätte er nicht zehn Stunden Bahn fahren können. Auffällig sei zudem das pünktliche Ende der Erkrankung zum Beginn des Urlaubs.
 
Die Entscheidung
 Das LAG hielt den Beweiswert der vom Arbeitnehmer eingereichten AUB nicht für erschüttert. Insbesondere sei der Beweiswert nicht allein deshalb erschüttert, weil sie einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten können auch in einem gekündigten Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus ist aber nach der Ansicht des LAG keinesfalls zu schließen, dass jede AUB in diesem Zeitraum makelbehaftet ist.
 
Auch die rund zehnstündige Bahnreise weckt unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung keine Zweifel an der Richtigkeit der AUB. Die zu erbringenden Arbeitsaufgaben bilden den Maßstab dafür, ob bestimmte Aktivitäten des Arbeitnehmers Zweifel an der Richtigkeit der AUB wecken. Die Belastung durch die Bahnreise sei nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar. Eine Bahnreise erfordere weder Konzentration noch körperliche Anstrengungen. Als Chefarzt war der Arbeitnehmer hingegen während des gesamten Arbeitstags in seiner Leitungstätigkeit, durch Mitarbeiter, Patienten, medizinische und wirtschaftliche Fachfragen etc. gefordert.
 
Weiterhin stelle auch die Erstreckung der AUB bis zum Beginn des Urlaubs deren Richtigkeit nicht infrage. Der Chefarzt verlangte Entgeltfortzahlung lediglich bis zum 21. Februar 2022 und machte keine Arbeitsunfähigkeit für den bereits genehmigten Urlaubszeitraum geltend. Der Arbeitgeber monierte, dass die Arbeitsunfähigkeit damit passgenau zum Urlaubsbeginn endete. Nach Ansicht des Gerichts könne daraus aber nicht geschlossen werden, dass der Arbeitnehmer pünktlich zum Urlaubsbeginn wieder genesen war. Einem Arbeitnehmer stehe es grundsätzlich frei, seinen Urlaub für die eventuell notwendige weitere Genesung zu nutzen, anstatt sich auf § 9 Bundesurlaubsgesetz zu berufen, nach dem nachgewiesene Arbeitsunfähigkeitstage nicht als Urlaubstage anzurechnen sind.
 
Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung des LAG zeigt einmal mehr, dass die Erschütterung des Beweiswerts einer AUB von den Gerichten nur in wenigen (Ausnahme-)Fällen anerkannt wird. Die ordnungsgemäß ausgestellte AUB ist nach der Rechtsprechung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Einer ordnungsgemäß ausgestellten AUB wird daher einer hoher Beweiswert zugesprochen.
 
Praxishinweis
 Auch wenn der Unmut von Arbeitgebern nachvollziehbar ist, wenn sich Arbeitnehmer vermehrt in der Beendigungsphase krank melden, ist ein rechtssicherer Einbehalt der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nur möglich, wenn ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung bestehen. Arbeitgeber sollten sich dabei an den von der Rechtsprechung anerkannten Fällen orientieren:
 
Zweifel sind dabei insbesondere anerkannt, wenn ein Arbeitnehmer gehäuft vor und nach freien Tagen, etwa am Montag und Freitag, an Brückentagen und vor oder nach dem Urlaub krank ist. Daneben können sich Zweifel ergeben, wenn der Arbeitnehmer im Krankheitszeitraum anderweitige Arbeitsleistungen erbringt. Auch gewisse zeitliche Zusammenhänge können zu Zweifeln an der Richtigkeit einer AUB führen, etwa wenn sich der Arbeitnehmer zeitgleich mit seiner Kündigung krank meldet, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt, oder sich der Arbeitnehmer nach Erhalt einer arbeitgeberseitigen Kündigung „postwendend“ krank meldet.
 
Rechtsanwalt Felix Hörl, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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Ein Interessenausgleich mit Namensliste kann eine betriebsbedingte Kündigung unter erleichterten Voraussetzungen sozial rechtfertigen
Bundesarbeitsgericht (BAG) vom 17. August 2023 – 6 AZR 56/23

Ist eine Betriebsänderung geplant und schließen der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, wird nach der Auffassung des BAG nach § 125 Abs. I Nr. 1 Insolvenzordnung (InsO) vermutet, dass die Kündigung der in der Namensliste aufgeführten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) bedingt ist. Allerdings muss sich die Betriebsänderung im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessensausgleichs noch in der Planungsphase befunden haben, damit dem Betriebsrat eine Einflussnahme auf die unternehmerische Entscheidung möglich ist.

Sachverhalt
Der Betrieb sollte stillgelegt werden. Vor diesem Hintergrund schloss der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat einen sogenannten Interessenausgleich mit Namensliste – eine Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber zur geplanten Betriebsänderung. Arbeitnehmer, die im Interessenausgleich genannt werden, können leichter entlassen werden. Ein Arbeitnehmer, der in dieser Namensliste enthalten war, erhob Kündigungsschutzklage mit der Begründung, dass seine Kündigung nicht durch betriebliche Gründe gerechtfertigt sei.

Die Entscheidung
Das BAG entschied, dass im Fall eines Interessensausgleichs mit Namensliste vermutet wird, dass die Kündigung durch betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Dies folgt aus § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Diese Vorschrift modifiziert die kündigungsrechtlichen Vorgaben des § 1 KSchG für den Fall, dass bei einer Betriebsänderung zwischen dem Betriebsrat und dem Insolvenzverwalter ein Interessenausgleich mit Namensliste geschlossen wird. Hierdurch soll die Sanierung insolventer Unternehmen erleichtert, Rationalisierungsmaßnahmen sollen zügig ermöglicht und zudem Massenentlassungen beschleunigt werden. Der Arbeitnehmer konnte diese Vermutungswirkung im Kündigungsschutzverfahren nicht widerlegen, sodass die Kündigung als durch betriebliche Erfordernisse gerechtfertigt galt.

Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung verdeutlicht, wie ein Interessenausgleich mit Namensliste einen geplanten Personalabbau im Zusammenhang mit einer Betriebsänderung erleichtern kann. Um die Vermutungswirkung des § 125 InsO auszulösen, muss die Betriebsänderung jedoch zumindest bereits geplant sein.

Praxistipp
Bei der Aufstellung eines Interessenausgleichs mit Namensliste muss der Arbeitgeber darauf achten, dass die Betriebsänderung bereits geplant ist und zwischen dem Interessenausgleich und der Betriebsänderung ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht. In zeitlicher Hinsicht darf die Planungsphase für die Betriebsänderung vor Abschluss des Interessenausgleichs insbesondere noch nicht beendet sein. Fehlt es hieran, greift die Vermutungswirkung des § 125 InsO nicht und die Kündigung muss, wie sonst auch, nach Maßgabe des § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt sein.
* Nur der leichteren Lesbarkeit wegen wird das generische Maskulin verwendet, das jedoch stellvertretend für alle Geschlechter stehen soll.
 
Dr. Johannes Oehlschläger, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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Oktober 2023



Berechnung von Provisionen und Zielboni bei freigestellten Betriebsratsmitgliedern
Landesarbeitsgericht Hamburg vom 26. April 2023 – 3 Sa 29/22

Die Festlegung der Höhe eines Zielbonus richtet sich bei freigestellten Betriebsratsmitgliedern nicht ohne weiteres nach dem durchschnittlichen Zielerreichungsgrad der Vergleichsgruppe, wenn das Betriebsratsmitglied vor der Freistellung seine individuellen Ziele in einem höheren Maße als die Mitarbeiter der Vergleichsgruppe erfüllt hat.

Sachverhalt
Ein Kfz-Verkäufer bezog bei einem monatlichen Fixgehalt von 1.000 Euro brutto einen erheblichen Teil seiner Gesamtvergütung über Provisionen sowie leistungsabhängige Zielboni. Ab November 2020 wurde er als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender vollständig freigestellt. Vor diesem Hintergrund vereinbarten die Parteien, dass das Fixgehalt einschließlich der im Jahr vor der Freistellung ausgezahlten Provision in ein monatliches „Garantieeinkommen“ in Höhe von 7.489,53 Euro umgewandelt wird. Der Zielbonus war von diesem Garantieeinkommen nicht erfasst und wurde anhand der durchschnittlichen Zielerreichung der mit dem Betriebsratsmitglied vergleichbaren Kfz-Verkäufer ermittelt. Vor seiner Freistellung als Betriebsratsmitglied hatte der Mitarbeiter allerdings unstreitig einen signifikant höheren Zielerreichungsgrad als die Kollegen in der Vergleichsgruppe.
 
Bei der Umsetzung der Vereinbarung kam es zu Streit über die Berechnung der Provision und des Zielbonus: Als freigestelltes Betriebsratsmitglied akzeptierte der Mitarbeiter zwar grundsätzlich die Berechnungsweise des Garantieeinkommens und nahm die darin enthaltenen Provisionszahlungen ohne Vorbehalt entgegen. Zusätzlich verlangte er vom Arbeitgeber aber auch noch nachlaufende Verkaufsprovisionen, die darauf zurückzuführen waren, dass die provisionsanspruchsauslösenden Geschäfte erst nach seiner Freistellung als Betriebsratsmitglied abrechnungsreif wurden und dann auch erst auszahlbar gewesen wären. Zudem begehrte der Mitarbeiter als freigestelltes Betriebsratsmitglied einen Zielbonus, der nicht anhand der durchschnittlichen Zielerreichung der Kfz-Verkäufer in der Vergleichsgruppe, sondern anhand seiner individuellen Zielerreichung vor der Freistellung als Betriebsrat in Höhe von 133% berechnet werden sollte.
 
Die Entscheidung
Die Richter sahen den Anspruch auf Verkaufsprovisionen, die erst nach Freistellung fällig geworden sind, zwar dem Grunde nach als gegeben an. Die Durchsetzung dieses Anspruchs widerspreche aber im vorliegenden Fall dem Grundsatz von Treu und Glauben und würde zu einer nicht gerechtfertigten Bevorzugung führen. Der Mitarbeiter habe die Berechnungsweise des Garantieeinkommens für die Zeit seiner Freistellung als Betriebsratsmitglied akzeptiert. Danach komme es bei den Verkaufsprovisionen auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Zuflusses an. Er profitiere davon, dass Provisionen für Geschäfte, die vor dem Referenzzeitraum getätigt, aber erst im Referenzzeitraum ausgezahlt wurden, in das Garantieeinkommen eingeflossen seien. Dann sei die Forderung von nachlaufenden Verkaufsprovisionen aber widersprüchlich; eine zusätzliche Auszahlung auch dieser Provisionen würde das Betriebsratsmitglied besserstellen, als es ohne Freistellung gestanden hätte.
 
Hinsichtlich der Ermittlung des Zielerreichungsbonus stellte das Gericht allerdings eine Benachteiligung fest: Der Arbeitgeber habe zu berücksichtigen, in welchem Maß der Mitarbeiter die Ziele in der Zeit seines aktiven Tätigwerdens im Verhältnis zur durchschnittlichen Zielerreichung der Vergleichsgruppe erfüllt habe. Dieser höhere Zielerreichungsgrad sei dann auch während der Freistellung hypothetisch fortzuschreiben, d.h. zum Durchschnittswert der Vergleichsgruppe zu addieren. Ohne diese Fortschreibung des höheren Wertes würde der Arbeitnehmer als freigestelltes Betriebsratsmitglied unzulässigerweise benachteiligt werden.
 
Praxistipp
Die korrekte Bestimmung der Vergütung vollständig freigestellter Betriebsratsmitglieder stellt in der Praxis regelmäßig eine Herausforderung für Arbeitgeber dar. Das maßgebliche Lohnausfallprinzip besagt, dass das Arbeitsentgelt von Mitgliedern des Betriebsrats nicht geringer bemessen werden darf als das vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung. Ferner dürfen Betriebsratsmitglieder wegen ihrer Betriebsratstätigkeit weder benachteiligt noch bevorzugt werden. Dies bedeutet, dass dem freigestellten Betriebsratsmitglied genau das Arbeitsentgelt zusteht, das es verdient hätte, wenn es weiter gearbeitet hätte. Wie schwierig die Beurteilung dieser Grundsätze in der Praxis sein kann, zeigt der Fall. Je komplexer die Vergütungsstruktur des Arbeitgebers, umso höher ist die Gefahr, die betreffenden Betriebsratsmitglieder ungewollt zu benachteiligen oder zu begünstigen. Noch komplexer wird die Rechtslage, wenn Betriebsräte wegen ihrer Betriebsratstätigkeit nur teilweise von der Arbeitspflicht freigestellt werden. Gerade bei leistungsabhängigen Tantiemen oder Bonuszahlungen stellt sich dann häufig die Frage, inwieweit die Betriebsratstätigkeit Einfluss auf die Vergütungshöhe hatte und damit eine – auch möglicherweise für den Arbeitgeber und das einzelne Betriebsratsmitglied strafbare – Bevorzugung oder Benachteiligung vorliegt.  
 
Helfen können klare Richtlinien oder Vereinbarungen mit den betreffenden Betriebsratsmitgliedern über ihre Vergütung während der Zeit der Freistellung. Auch diese Regelungen müssen allerdings für die einzelnen Vergütungselemente die gesetzlichen Vorgaben berücksichtigen, wie der vorliegende Fall anschaulich zeigt. Darüber hinaus unterliegen Vergütungsrichtlinien für freigestellte Betriebsräte ihrerseits der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats.
 
Dr. Rolf Kowanz / Can Dertürk, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg / Düsseldorf

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Darf der Betriebsrat bei der Vergütung von freigestellten Mitgliedern mitbestimmen?
Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg vom 26. Mai 2023 – 12 TaBV 1/23
 
Das Betriebsratsamt ist als Ehrenamt unentgeltlich, allerdings darf das Arbeitsentgelt von Betriebsratsmitgliedern nicht geringer, aber auch nicht höher bemessen sein als das vergleichbarer Beschäftigter mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung. Meist wird in der Praxis über die Höhe der Vergütung bzw. die Frage gestritten, wie die Vergütung konkret zu ermitteln ist. Das LAG Baden-Württemberg musste jüngst allerdings nicht über die Klage eines freigestellten Betriebsratsmitglieds, sondern über den Antrag des Betriebsratsgremiums entscheiden, das die Mitbestimmung im Rahmen der Bestimmung des Vergleichsentgelts begehrte.
 
Sachverhalt
Die Arbeitgeberin ist ein Produktionsbetrieb, in dem ein Haustarifvertrag (HTV) sowie ein Vergütungstarifvertrag (VTV) zu Anwendung kommen. Der Betriebsratsvorsitzende L ist seit 1986 bei der Arbeitgeberin beschäftigt, zunächst als Dreher, ab 1992 als Schlosser. Die Vergütung erfolgte nach dem HTV in Verbindung mit dem jeweils geltenden VTV. 1994 wurde L in den Betriebsrat gewählt, seit 1998 ist er freigestelltes Betriebsratsmitglied. 2002 erfolgte die Wahl zum Vorsitzenden des Betriebsrats. Zu Beginn seiner Freistellung erhielt L zunächst weiter eine Vergütung nach Tarifvertrag. Nach der Übernahme des Betriebsratsvorsitzes wurden ihm eine „Sonderpauschale“ sowie eine „Funktionspauschale“ gezahlt. Seit 2006 wurde L dann als außertariflicher Angestellter geführt. Die Vergütung wurde mehrfach erhöht und belief sich im Jahr 2021 schließlich auf insgesamt 162.919,57 EUR brutto (im Durchschnitt 13.576,63 EUR brutto pro Monat). Ende 2021 überprüfte die Arbeitgeberin die Bezüge von L und kürzte sie auf 6.338,56 EUR brutto monatlich. Dies entsprach der Tarifgruppe 8/25 einschließlich Leistungs-, Fachkarriere- und Ausgleichszulagen, die die Arbeitgeberin anhand der Vergütungsentwicklung von zehn vergleichbaren Arbeitnehmern ermittelt hatte.
 
Der Betriebsrat machte geltend, dass er bei der Frage der Neufestsetzung der Vergütung ein Mitbestimmungsrecht habe, da die Festsetzung der Vergütung eine mitbestimmungspflichtige Umgruppierung darstelle. Die Arbeitgeberin habe eine wertende Zuordnung zur tariflichen Vergütungsgruppe 8/25 auf Basis der Tätigkeiten der Vergleichsmitarbeiter vorgenommen.
 
Die Entscheidung
Das LAG hat den Antrag zurückgewiesen. Die Bestimmung des Vergleichsentgelts stelle keine Ein- bzw. Umgruppierung dar. Eine Tätigkeit, die den Merkmalen der maßgeblichen Vergütungsgruppen zugeordnet werden könnte, erbringe L gerade nicht. Die Nennung der Tarifgruppe 8/25 sei daher nicht aufgrund einer Bewertung einer konkret erbrachten Tätigkeit erfolgt; vielmehr werde mit der Vergütungsgruppe sowie den aufgeführten weiteren Entgeltbestandteilen lediglich der Durchschnittswert der Vergütung der Vergleichsbeschäftigten mit betriebsüblicher beruflicher Entwicklung ausgedrückt. Ein- oder Umgruppierungen seien zudem stets personenbezogene Einzelmaßnahmen und nicht Durchschnittsbetrachtungen von Eingruppierungsvorgängen einer Vielzahl anderer Beschäftigter. Schließlich sei der Zweck, eine einheitliche und gleichmäßige Anwendung der kollektiven Vergütungsordnung in gleichen und vergleichbaren Fällen zu gewährleisten, durch die Mitbestimmung zu den Eingruppierungen der Vergleichsbeschäftigten bereits erreicht.
 
Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung, eine Ein- bzw. Umgruppierung zu verneinen, wenn die Vergütung eines freigestellten Betriebsrats anhand des gesetzlichen Maßstabs des Arbeitsentgelts vergleichbarer Beschäftigter überprüft wird, überzeugt. Ein- und Umgruppierungen sind stets tätigkeitsbezogen – logischerweise fehlt es bei freigestellten Betriebsräten an einer solchen Tätigkeit, anhand der die zutreffende Anwendung des Entgeltschemas beurteilt werden könnte. Zu beachten ist jedoch, dass das LAG Sachsen im Februar 2023 gegenteilig entschieden und ein Mitbestimmungsrecht angenommen hat, wenn die – fiktive – neue Tätigkeit des freigestellten Betriebsrats eine andere Vergütungsgruppe ergibt. Gegen diesen Beschluss ist beim Bundesarbeitsgericht (BAG) eine Rechtsbeschwerde anhängig; die Frage sollte insofern absehbar höchstrichterlich entschieden werden.
 
Praxistipp
Die Vergütung freigestellter Betriebsratsmitglieder bleibt ein heikles Thema. Arbeitgeber haben nicht mehr nur den schmalen Grat zwischen Begünstigung und Benachteiligung des Betriebsratsmitglieds zu berücksichtigen. Vielmehr kann derzeit auch die Frage, ob der Betriebsrat bei der Ermittlung der Vergütung zu beteiligen ist, nicht rechtssicher beantwortet werden. Zu denken wäre an eine rein vorsorgliche Beteiligung des Betriebsrats. Diese wird aber regelmäßig nicht zielführend sein, wenn der Betriebsrat der (fiktiven) Umgruppierung nicht zustimmt, wovon in solchen Konstellation wohl ausgegangen werden muss. Insofern gilt es hier, die Entscheidung des BAG abzuwarten.
 
Amelie Rothe, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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September 2023

 
 
Kündigung wegen menschenverachtender Äußerungen in einer privaten Chatgruppe
BAG, Urteil vom 24. August 2023 – 2 AZR 17/23

Mitglieder privater Chatgruppen können nicht auf die Vertraulichkeit ihrer Äußerungen vertrauen, wenn es um rassistische Beleidigungen von Arbeitskollegen* geht. Im Fall einer WhatsApp-Gruppe von Mitarbeitern eines Reiseveranstalters hat das BAG geurteilt, dass in solchen Fällen auch eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sein kann.

Sachverhalt
Der Arbeitnehmer war seit 2014 Mitglied einer Chatgruppe mit fünf anderen Mitarbeitern. Alle Gruppenmitglieder waren 'langjährig befreundet', wobei zwei von ihnen miteinander verwandt waren. Neben rein privaten Themen äußerte sich der Arbeitnehmer - ebenso wie mehrere andere Gruppenmitglieder - in beleidigender und menschenverachtender Weise über Vorgesetzte und Arbeitskollegen. Die Äußerungen bezogen sich in äußerst vulgärer Weise unter anderem auf die Religion oder Herkunft der beleidigten Personen. Als die Arbeitgeberin zufällig davon erfuhr, kündigte sie das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos. Der Arbeitnehmer klagte dagegen.
 
Entscheidungsgründe
Die Vorinstanzen hatten dem Arbeitnehmer Recht gegeben. Das BAG hob die Entscheidungen jedoch nun auf. Das Landesarbeitsgericht war aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BAG davon ausgegangen, dass der Arbeitnehmer eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung bezüglich der ihm vorgeworfenen Äußerungen hatte und ein Kündigungsgrund daher nicht vorliege. Das BAG stellt mit seiner Entscheidung allerdings klar, dass eine solche Erwartung nicht generell besteht, sondern vom Inhalt der ausgetauschten Nachrichten sowie von der Größe und Zusammensetzung der Chatgruppe abhängt. Wenn – wie im entschiedenen Fall – beleidigende und menschenverachtende Äußerungen fallen, muss der Arbeitnehmer besondere Gründe darlegen, warum er erwarten durfte, dass der Inhalt von keinem Gruppenmitglied an Dritte weitergegeben wird.
 
Konsequenzen für die Praxis
Es bleibt abzuwarten, ob das BAG mit der Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zu „vertraulichen“ Äußerungen im Kollegenkreis aufgibt. Bislang liegt nur die Pressemitteilung des Gerichts vor, die genauen Entscheidungsgründe folgen noch. In jedem Fall geht von diesem Urteil das Signal aus, dass Unternehmen diskriminierende und herabsetzende Äußerungen ihrer Mitarbeiter nicht hinnehmen müssen, auch wenn diese in vermeintlich vertraulichem Rahmen getätigt werden. Dass die Chatgruppe nicht dienstlich, sondern privat war, ändert daran nichts. Nach der Rechtsprechung des BAG kann auch privates Verhalten eines Arbeitnehmers arbeitsrechtliche Maßnahmen rechtfertigen, wenn es Auswirkungen auf das betriebliche Miteinander hat. Inwieweit dieser Aspekt für die Entscheidung relevant war, geht aus der Pressemitteilung nicht hervor.
 
Praxistipp
Unternehmen, die z. B. im Rahmen ihres Hinweisgebersystems von solchen Äußerungen ihrer Mitarbeiter erfahren, sind grundsätzlich verpflichtet, entsprechenden Vorwürfen nachzugehen. Der bloße Umstand, dass die Äußerung in einer privaten Chatgruppe erfolgt ist, steht dem für sich genommen nicht entgegen.
 
*Allein zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag das generische Maskulin verwendet, das aber stellvertretend für alle Geschlechter stehen soll.
 
Dr. Andreas Krause, Rechtsanwalt und Partner, Carl-Philipp Fischer, Rechtsanwalt, Eversheds Sutherland Germany
 
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„Ein Unglück kommt selten allein“ – Sturz beim Einwerfen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
BSG vom 30.03.2023, B 2 U 1/21 R

Arbeitnehmer* stehen auf dem Weg zum Postbriefkasten unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn sie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheidung an ihren Arbeitgeber übersenden wollen. Mit dem Einwurf erfüllt der Arbeitnehmer seine gesetzliche Pflicht nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz.

Sachverhalt
Eine erkrankte Arbeitnehmerin hatte sich im Winter 2013 auf den Weg zu einem Postbriefkasten gemacht, um ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an ihren Arbeitgeber zu versenden. Sie stürzte auf diesem Weg und musste ärztlich behandelt werden. Die Mitarbeiterin bezog später Krankengeld. Die gesetzlichen Leistungen der Unfallversicherungen hat die Berufsgenossenschaft ihr gegenüber abgelehnt, der Bescheid wurde rechtskräftig. Auch der Versuch der gesetzlichen Krankenkasse, die Behandlungskosten erstattet zu bekommen, blieb erfolglos. Die Klage der gesetzlichen Krankenversicherung auf Erstattung der Behandlungskosten scheiterte sowohl beim Sozialgericht Potsdam, als auch beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg. Beide Instanzen haben das Vorliegen eines Arbeitsunfalls abgelehnt, da die Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht arbeitsvertraglich geschuldet, die Arbeitnehmerin auch nicht von der Arbeitgeberin um Übersendung gebeten worden sei und lediglich eigene Rechte habe wahrnehmen wollen. Die Revision hatte vor dem BSG Erfolg.

Entscheidungsgründe
Nach Auffassung der Kasseler Richter sei der von der Berufsgenossenschaft erlassene Ablehnungsbescheid „nach objektiven Kriterien offenkundig rechtlich fehlerhaft, ohne dass es dafür weiterer Ermittlungen bedarf“. Es handle sich bei der Übermittlung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung um eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Die geschädigte Arbeitnehmerin sei nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz verpflichtet, ihrem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zukommen zu lassen. Mit dem Gang zum Postbriefkasten habe die Arbeitnehmerin dieser Pflicht nachkommen wollen. Der Senat ist außerdem zu dem Ergebnis gekommen, dass der bestandskräftige Bescheid gegenüber der Arbeitnehmerin keine Wirkung auf das Verhältnis zwischen der Berufsgenossenschaft und der gesetzlichen Krankenversicherung entfaltet.

Konsequenzen für die Praxis
Wegeunfälle im klassischen Sinne sind Unfälle, die Arbeitnehmer auf dem Weg zur oder von der Arbeit erleiden. Im Einzelfall kann streitig sein, ob eine vom Arbeitnehmer zurückgelegte Wegstrecke noch als Arbeitsweg zu werten ist. In diesem Zusammenhang kann es zu Unsicherheiten kommen, wenn der Arbeitnehmer von der direkten Wegstrecke abgewichen ist. Nimmt der Arbeitnehmer einen akzeptablen Umweg auf sich, um bspw. Kinder in der Schule abzusetzen, so ist dieser Weg versichert. Ansonsten gilt, dass - wenn der Arbeitnehmer den Weg zu oder von der Arbeitsstätte mehr als geringfügig verlässt -, während dieser Unterbrechung kein Versicherungsschutz besteht. Der Versicherungsschutz lebt jedoch wieder auf, wenn sich der Arbeitnehmer zurück auf den direkten Arbeitsweg begibt.
 
Interessant sind auch Fallgestaltungen, in denen sich der Arbeitnehmer auf dem Weg zur Arbeitsstätte verfährt. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es in diesen Fällen für eine Anerkennung als Wegeunfall darauf an, ob den Arbeitnehmer ein Verschulden trifft. Wurde der Arbeitnehmer bspw. von einer Unterhaltung oder einem Telefonat abgelenkt, wird ein Wegeunfall abzulehnen sein.
 
Vom BSG abgelehnt wurde die Anerkennung eines Dienstunfalls, als ein Arbeitnehmer nach Verlassen des Hauses zunächst prüfen wollte, ob der Straßenbelag vereist ist. Der Arbeitnehmer war auf die Straße getreten und auf dem Rückweg zu seinem Fahrzeug umgeknickt. Das BSG hat das Vorliegen eines Wegeunfalls verneint, weil diese „Prüfung“ des Straßenbelags keinen ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gehabt habe
 
Praxistipp
Ab 2023 werden aufgrund der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weniger Arbeitnehmer einen „gelben Schein“ postalisch an den Arbeitgeber übermitteln. Dies trifft jedenfalls auf diejenigen Arbeitnehmer zu, die gesetzlich krankenversichert sind und deren behandelnder Arzt am elektronischen Meldeverfahren teilnimmt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, müssen Arbeitnehmer keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehr vorlegen, der Arbeitgeber ruft sie digital ab. Für privat Krankenversicherte gilt dieses Verfahren nicht.
 
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat auf ihrer Homepage den Hinweis hinterlegt, dass noch nicht alle Arbeitgeber das digitale Verfahren anwenden. Arztpraxen können daher selbst entscheiden, ob sie zunächst weiterhin neben der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung noch eine Kopie erstellen. Arbeitgeber sollten gegenüber ihren Arbeitnehmern kommunizieren, ob sie auch weiterhin eine schriftliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verlangen.
 
* Hinweis: Nur zur leichteren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag das generische Maskulin verwendet, das jedoch stellvertretend für alle Geschlechter stehen soll.
 
Dr. Stefan Steeger, LL.B., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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August 2023

 
 
Vorsicht vor widersprüchlichem Verhalten nach Ausspruch einer fristlosen Kündigung
BAG, Urteil vom 29.03.2023, 5 AZR 255/22

Kündigt der Arbeitgeber* das Arbeitsverhältnis fristlos, weil er meint, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihm nicht zuzumuten, bietet aber gleichzeitig dem Arbeitnehmer „zur Vermeidung von Annahmeverzug“ die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen während des Kündigungsschutzprozesses an, verhält er sich widersprüchlich. In einer solchen Konstellation spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass das Beschäftigungsangebot nicht ernst gemeint ist. Diese Vermutung kann durch die Begründung der Kündigung durch den Arbeitgeber oder durch entsprechende Darlegungen des Arbeitgebers entkräftet werden.

Sachverhalt
Der Arbeitgeber sprach gegenüber dem Arbeitnehmer eine fristlose „Änderungskündigung“ aus und bot dem Arbeitnehmer einen neuen Arbeitsvertrag an. Als Änderungskündigung bezeichnet man die Kündigung des gesamten Arbeitsverhältnisses, verbunden dem Angebot, das Arbeitsverhältnis zu veränderten Bedingungen einvernehmlich fortzusetzen. Das Kündigungsschreiben enthielt folgenden Hinweis: „Im Fall der Ablehnung der außerordentlichen Kündigung durch Sie (also den Fall, dass Sie von einem unaufgelösten Arbeitsverhältnis ausgehen) oder im Fall der Annahme des folgenden Angebots erwarten wir Sie am 05.12.2019 spätestens um 12:00 Uhr zum Dienstantritt'. Der Arbeitnehmer lehnte das Änderungsangebot ab und erschien nicht zur Arbeit. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis erneut außerordentlich und wies ferner darauf hin, dass er den Arbeitnehmer 'im Fall der Ablehnung dieser außerordentlichen Kündigung' zum Dienstantritt erwarte. Der Arbeitnehmer erschien in der Folge wieder nicht zur Arbeit und erhob Klage auf Vergütung wegen „Annahmeverzugs“.

Entscheidungsgründe
Das BAG entschied, dass sich der Arbeitgeber aufgrund seiner unwirksamen fristlosen Kündigungen im sogenannten Annahmeverzug befunden habe, auch ohne dass es eines Arbeitsangebots des Arbeitnehmers bedurft hätte. Annahmeverzug liegt vor, wenn der Arbeitgeber die Leistung des Arbeitnehmers, die möglich gewesen wäre und vertragsgemäß angeboten wurde, nicht rechtzeitig annimmt. Insbesondere sei der Arbeitgeber selbst davon ausgegangen, dass ihm eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht zuzumuten gewesen sei. Aufgrund dieses widersprüchlichen Verhaltens des Arbeitgebers spräche eine tatsächliche Vermutung dafür, dass er dem Arbeitnehmer kein ernst gemeintes Angebot zu einer Beschäftigung unterbreitet habe. Die Ablehnung des Angebots durch den Arbeitnehmer schließe einen Annahmeverzug nicht aus. Denkbar wäre nur, dass sich der Arbeitnehmer eine böswillig unterlassene Weiterbeschäftigung anrechnen lassen müsse. Eine solche Anrechnung käme im vorliegenden Fall jedoch nicht in Betracht, da dem Arbeitnehmer aufgrund der gegen ihn im Rahmen der Kündigungen erhobenen Vorwürfe eine „Prozessbeschäftigung“ beim Arbeitgeber nicht zuzumuten war. Mit Prozessbeschäftigung ist eine Beschäftigung gemeint, die während einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht. Für den Arbeitgeber hat die Prozessbeschäftigung den Vorteil, die wirtschaftlichen Risiken zu begrenzen – insbesondere solche wegen Annahmeverzugs.

Konsequenzen für die Praxis
Die Entscheidung stellt eine konsequente Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Annahmeverzug dar. Bei der Frage, ob Annahmeverzug vorliegt und der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Annahmeverzugslohn hat, ist zukünftig auch darauf zu achten, ob sich Arbeitgeber oder Arbeitnehmer widersprüchlich verhalten. Hierbei werden zukünftig auch der Kündigungssachverhalt und die damit verbundenen Vorwürfe gegen den Arbeitnehmer von Bedeutung sein.
 
Praxistipp
Für Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung, dass die angebotene Weiterbeschäftigung für den Arbeitnehmer zumutbar sein muss. Zum einen kann dies den Annahmeverzug ausschließen. Zum anderen wäre damit den Weg frei für eine Anrechnung böswillig unterlassenen Zwischenverdiensts. Arbeitgeber müssen daher das Weiterbeschäftigungsangebot und die Kommunikation mit dem Arbeitnehmer gut vorbereiten, um den Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens auszuschließen und die tatsächliche Vermutung zu widerlegen, dass das Beschäftigungsangebot nicht ernst gemeint sei. Es bleibt abzuwarten, in welchen Konstellationen die Arbeitsgerichte im Einzelfall eine solche tatsächliche Vermutung als widerlegt ansehen.
 
* Nur der leichteren Lesbarkeit wegen wird das generische Maskulin verwendet, das jedoch stellvertretend für alle Geschlechter stehen soll.
 
Dr. Johannes Oehlschläger, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Kündbarkeit einer Home-Office-Vereinbarung
LAG Hamm, Urteil vom 16. März 2023, 18 Sa 832/22
 
Die vertragliche Abrede, eine Home-Office-Vereinbarung gesondert kündigen zu können, ist grundsätzlich zulässig. Die Aufnahme von bestimmten Gründen für eine Kündigung ist nicht erforderlich.
 
Sachverhalt
Ein Arbeitgeber schloss mit einem seiner Arbeitnehmer eine Zusatzvereinbarung über eine Tätigkeit im Home-Office ab. Die Vereinbarung sah unter anderem auch eine beiderseitige Kündigungsmöglichkeit dafür vor. Es wurde vereinbart, dass die Kündigung schriftlich und unter Einhaltung einer Frist von einem Monat zu erfolgen habe. Kündigungsgründe zur Beendigung wurden nicht festgeschrieben. Die Zusatzvereinbarung sah ferner vor, dass der Arbeitnehmer bei Kündigung und mit Ablauf der Kündigungsfrist verpflichtet sei, seine Arbeit wieder ausschließlich in den Unternehmensräumen zu erbringen.
 
Es kam, wie es kommen musste: Der Arbeitgeber kündigte die Home-Office-Vereinbarung fristgerecht. Der Arbeitnehmer klagte daraufhin dagegen. Er führte insbesondere an, dass die Kündigungsklausel in der Vereinbarung unwirksam sei, da sie eine Umgehung kündigungsschutzrechtlicher Vorschriften und zudem gegen das für Formularverträge geltende sogenannte Transparenzgebot verstoße.
 
Die Entscheidung
Die Klage blieb erfolglos: Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm kam zu dem Schluss, dass das in der Home-Office-Vereinbarung verankerte (Teil-)Kündigungsrecht zulässig ist. Durch die Abrede über eine Kündbarkeit der Zusatzvereinbarung wird kein zwingender Kündigungsschutz (§§ 1, 2 Kündigungsschutzgesetz) umgangen. Das Kündigungsrecht der Home-Office-Abrede betrifft allein den Ort der Arbeitsleistung, der kündigungsrechtlich nicht besonders geschützt ist. Die Klausel verstößt auch nicht gegen das „Transparenzgebot“. Es ist unschädlich, dass besondere Gründe für den Ausspruch der Kündigung nicht erforderlich sind. Bei der Festlegung des Arbeitsorts handelt es sich gerade nicht um eine vertragliche Leistung, die nach der Rechtsprechung der Angabe von Widerrufsgründen bedarf (wie es zum Beispiel bei einem Widerrufsvorbehalt nötig ist).
 
Im Übrigen liegt durch das Teilkündigungsrecht auch keine nach dem Gesetz unzulässige unangemessene Benachteiligung vor, da das vereinbarte Kündigungsrecht nach Ansicht des Gerichts die Interessen des Arbeitnehmers nicht unangemessen beeinträchtigt. Zugunsten des Arbeitgebers hat das LAG Hamm in diesem Fall insbesondere berücksichtigt, dass dem Arbeitnehmer nie ein Anspruch auf eine ausschließliche Tätigkeit im Home-Office eingeräumt wurde und die Zusatzvereinbarung auch keinen bestimmten Anteil der Tätigkeiten im Home-Office im Verhältnis zur Gesamttätigkeit festgelegt hat.
 
Konsequenzen für die Praxis
 Die Entscheidung schafft mehr Gestaltungsspielraum bei der Vereinbarung einer Tätigkeit im Home-Office. Ein (Teil-)Kündigungsrecht wird im Rahmen einer Home-Office-Abrede nun ohne Angabe von Kündigungsgründen als zulässig erachtet. Dieser Grundsatz ist nicht nur auf reine Home-Office-Vereinbarungen zu beschränken, sondern kann generell auf Vereinbarungen über mobiles Arbeiten übertragen werden. Die Ausgestaltung von Beendigungsmöglichkeiten in Zusatzvereinbarungen über mobiles Arbeiten birgt aber weiterhin Risiken. Zumindest müssen die Interessen der Arbeitnehmer berücksichtigt werden.
 
Praxishinweis
 Arbeitgeber sollten darauf achten, dass bei einem (Teil-)Kündigungsrecht ohne Kündigungsgründe nicht gleichzeitig eine ausschließliche Tätigkeit im Home-Office eingeräumt wird oder die Zusatzvereinbarung einen bestimmten Anteil an Home-Office im Verhältnis zur Gesamttätigkeit festschreibt. In einem ähnlich gelagerten Fall hatte das LAG Düsseldorf die Beendigungsmöglichkeit einer Home-Office-Vereinbarung ohne Kündigungsgründe als unwirksam erachtet, insbesondere weil dort ein fester Anteil an mobiler Arbeit in der Vereinbarung verankert worden war. Gleiches gilt für Abreden über mobile Arbeit, die im Gegensatz zu einer Tätigkeit im Home-Office nicht ortsgebunden, sondern ortsunabhängig erbracht werden kann.
 
Ist eine derart flexible Gestaltung von Home-Office ohne festen Rahmen nicht gewünscht, sollten Arbeitgeber Beendigungsmöglichkeiten mit einem Widerrufsvorbehalt bzw. Kündigungsgründen versehen. Sowohl im Fall des Widerrufsvorbehalts als auch bei der Kündigung sollten beispielhaft einige Beendigungsgründe genannt werden. Dazu können neben den „betrieblichen Gründen“ insbesondere die Nichtbeachtung konkreter Anforderungen durch den Mitarbeiter zählen, z. B. zum Daten- oder Arbeitsschutz.
 
Beachtet werden muss weiterhin, dass sich zu all diesen Fragen rund um die Beendigung von Home-Office das Bundesarbeitsgericht noch nicht geäußert hat, weshalb auf jeden Fall die Rechtsprechungsentwicklungen in den nächsten Jahren im Auge behalten werden sollten.
 
Existiert im Unternehmen ein Betriebsrat, sollte bei der Beendigung von Home-Office oder mobiler Arbeit letztlich auch an Beteiligungsrechte des Betriebsrats gedacht werden. Schließlich stellt der Entzug einer Home-Office-Tätigkeit bzw. mobiler Arbeit regelmäßig eine Versetzung nach § 95 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz dar.
 
Rechtsanwalt Felix Hörl, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

   
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Juli 2023

 
Datenschutz ist kein Täterschutz
BAG, Urteil vom 29.06.2023, 2 AZR 296/22
Wenn dank Aufnahmen einer Videoüberwachung klare Belege für ein pflichtwidriges Verhalten von Arbeitnehmern vorliegen, gehen Arbeitgeber häufig davon aus, dass sie bei einem Kündigungsschutzverfahren nur obsiegen können. Nicht selten werden jedoch Kündigungen gerichtlich kassiert, obwohl offensichtliche Pflichtwidrigkeiten vermeintlich erwiesen sind. Grund sind dann Beweisverwertungsverbote, die einer Verwertung von Aussagen oder Videoaufnahmen entgegen stehen können. Das Bundesarbeitsgericht hat nun eine Entscheidung kassiert, in der eine Kündigung wegen belegbaren Arbeitszeitbetruges in den Vorinstanzen an einer rechtswidrigen Speicherung von Überwachungsvideos gescheitert war. Es bleibt damit bei seiner Linie, dass Datenschutz kein „Täterschutz“ ist.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Der klagende Arbeitnehmer arbeitete in einer Gießerei und war dort Teamsprecher. Das Werksgelände, auf welchem sich die Gießerei befindet, unterliegt einer Videoüberwachung. Das entsprechende Hinweisschild, welches deutlich auf die laufende Überwachung aufmerksam macht, war rechtlich nicht zu beanstandend, und auch die Videokamera war unübersehbar.
Am 02.06.2018 war eine – entsprechend zu vergütende – Mehrarbeitsschicht geplant, für die auch der Kläger eingeteilt war. Tatsächlich war dessen Anwesenheit auf dem Werksgelände nur von kurzer Dauer: zwar betrat er dieses vor Schichtbeginn, jedoch verließ er es auch zeitnah wieder, nachdem er sich zu der Schicht als anwesend (und damit vergütungsberechtigt) gemeldet hatte. Es erfolgte wegen der entsprechenden Dokumentationslage eine Bezahlung für die Mehrarbeitsschicht.
Der Arbeitgeber bekam einige Zeit später einen anonymen Hinweis, dass der Teamsprecher die Ableistung der Mehrarbeitsschicht nur vorgetäuscht habe, um sich entsprechende Vergütung zu erschleichen. Eine sodann vorgenommene Überprüfung der Videoaufzeichnungen am Eingang des Werksgeländes bestätigte die Behauptung, und es war offenkundig, dass der Kläger, statt in der Schicht zu arbeiten, das Werksgelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hatte.
Gegen die daraufhin ausgesprochene außerordentliche Kündigung wehrte sich der Kläger insbesondere mit dem – rechtlich zutreffenden – Hinweis, dass im Zeitpunkt der Überprüfung der Videoaufzeichnungen deren zulässige Speicherdauer bereits abgelaufen war. Da die weitere Aufbewahrung der Aufzeichnungen datenschutzwidrig gewesen sei, dürfe der entsprechende Beweis nicht verwertet werden, und zulässige Beweise für den ihm vorgeworfenen Arbeitszeitbetrug gebe es sonst keine.
Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht gaben der Klage statt, da der Arbeitgeber den der Kündigung zugrunde liegenden Vorwurf des Arbeitszeitbetruges durch die Videoaufzeichnungen nicht habe „beweisen“ dürfen.
 
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten zum Bundesarbeitsgericht hatte Erfolg. Das BAG hob die zweitinstanzliche Entscheidung auf und verwies den Fall zur weiteren Sachaufklärung an das LAG zurück. Aus Sicht des BAG durften die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung verwertet werden, so dass der Arbeitgeber auch den Arbeitszeitbetrug damit belegen konnte.
Das BAG sah es als nicht angemessen an, hier von einem Verwertungsverbot auszugehen. Zwar könnte eine Missachtung von datenschutzrechtlichen Vorgaben durchaus beachtlich sein; die Frage, ob daraus ein Verwertungsverbot folge, bedürfe aber einer entsprechenden Einzelfallabwägung. Demnach ist es ein Unterschied, ob eine rechtswidrige verdeckte Videoüberwachung einen geringfügigen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten aufzeichnet oder ob eine offene und dem Arbeitnehmer bekannte Videoaufzeichnung ein vorsätzlich vertragswidriges, ggf. gar strafrechtlich relevantes Verhalten belegt.
Angesichts der offenkundigen Pflichtwidrigkeit des Arbeitnehmers könne es diesen nicht schützen, dass von Seiten des Arbeitgebers die Datenschutzvorgaben nicht ganz eingehalten worden waren. Der konkrete Verstoß einer zu langen Speicherdauer sei nicht so gravierend, dass dies einer Verwertung des entsprechenden Beweises entgegen stünde.
 
Bewertung
Die Entscheidung des BAG ist praxisgerecht und zu begrüßen. Aus anwaltlicher Sicht ist es betroffenen Arbeitgebern, die entsprechende Verstöße nicht hinnehmen wollen und sich durch den „Videobeweis“ klar im Recht sehen, in der Praxis nicht vermittelbar, dass auch erhebliche Pflichtwidrigkeiten prozessual als nicht existent anzusehen sein sollen und der rechtswidrig handelnde Arbeitnehmer sogar noch dafür belohnt wird, im Prozess objektiv wahrheitswidrig die ihm vorgeworfene Tat zu leugnen. Es ist kein sachgerechtes Ergebnis, wenn in einem Fall, bei dem alle Beteiligten wissen, dass eine erhebliche Pflichtverletzung stattgefunden hat, eine Kündigung trotzdem unwirksam sein soll, obwohl sogar strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt.
Richtig ist zwar, dass der sprichwörtliche Zweck nicht die Mittel heiligt und eine Videoüberwachung, die eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung beinhaltet, sowohl verfahrens- als auch verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Bei einer zu weit ausgedehnten Annahme von Beweisverwertungsverboten liefe aber das Datenschutzrecht Gefahr, zum Täterschutz zu werden. Eine Abwägung im Einzelfall, wie das BAG sie hier vorgenommen hat, führt zwar zu einer gewissen Rechtsunsicherheit, aber letztendlich deutlich eher zu Einzelfallgerechtigkeit als eine sofortige großzügige Annahme von Beweisverwertungsverboten selbst bei verhältnismäßig wenig ins Gewicht fallenden Datenschutzverstößen bei gleichzeitig offenkundig gegebenen arbeitnehmerseitigen Pflichtverstößen.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B.Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

   
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Berechnung des Mutterschaftslohns bei variabler Vergütung
LAG Niedersachsen, Urteil vom 20. Februar 2023 – 1 Sa 702/22
 
Gegenstand dieses Verfahrens vor dem LAG Niedersachsen war die Frage, inwieweit eine Arbeitnehmerin Anspruch auf Zahlung einer Provision hat, wenn diese während eines ärztlichen Beschäftigungsverbots fällig wird. Die Arbeitnehmerin hat nach dieser Entscheidung entweder Anspruch auf Zahlung einer Provision entsprechend der arbeitsvertraglichen Vereinbarung i.V.m. § 611a Abs. 1 BGB oder Anspruch auf Zahlung von Mutterschaftslohn nach § 18 S. 1 MuSchG. Beide Ansprüche bestehen aber nicht kumulativ nebeneinander.
 
Sachverhalt und Vorinstanz
 
Die Arbeitnehmerin ist bei der Arbeitgeberin als Vertriebsmitarbeiterin tätig und erhält neben einer monatlich fixen Vergütung auch eine variable Vergütung in Form einer Provision, die mit Installation und Abnahme des von ihr zu verkaufenden Produktes beim Kunden fällig wird. Der Zeitpunkt des Auftragseingangs ist unbeachtlich.
 
Die Arbeitnehmerin erhielt aufgrund des Bestehen eines ärztlichen Beschäftigungsverbots nach § 16 Abs. 1 MuSchG Mutterschaftslohn in Höhe der in den letzten drei Monaten vor der Schwangerschaft abgerechneten und gezahlten Bruttomonatsvergütungen inklusive eines Provisionsanteils. Die Arbeitnehmerin begehrte mit ihrer Klage zusätzlich Provisionen für drei weitere Monate während der für sie geltenden Schutzfrist i.S.d. § 16 Abs. 1 MuSchG. Die Provisionsansprüche, die der Höhe nach unstreitig sind, entstanden zwar aufgrund von Aktivitäten der Arbeitnehmerin vor Eintritt des ärztlichen Beschäftigungsverbots, sind allerdings erst nach Beginn der Schutzfrist fällig geworden.
 
Die Arbeitnehmerin ist der Auffassung, dass sie einen weiteren Anspruch auf Zahlung dieser Provisionen hat und dieser Anspruch nicht durch die von der Arbeitgeberin gewährte Pauschale abgegolten sei. Andernfalls würde die Arbeitnehmerin im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, die keinen Verdienstausfall nach Wiederaufnahme der Tätigkeit aufgrund Ablaufs einer Schutzfrist bis zur Entstehung neuer Provisionszahlungen befürchten müssen, benachteiligt werden und die Arbeitgeberin verstoße mit diesem Verhalten gegen §§ 7, 1 AGG.
 
Die Arbeitgeberin hingegen verneint einen kumulativen Anspruch der Arbeitnehmerin auf Mutterschaftslohn plus Provisionszahlungen. Insbesondere liege auch kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot vor, da maßgeblicher Zeitraum für einen Vergleich lediglich der Zeitraum des ärztlichen Beschäftigungsverbotes i.S.d. § 16 Abs. 1 ArbGG sei.
 
Das ArbG Hildesheim hat mit Urteil vom 24. August 2022 (Az. 2 Ca 27/22) entschieden, dass der Arbeitnehmerin kein Anspruch auf Zahlung einer Provision i.H.v. EUR  3.004,58 brutto nebst Zinsen zusteht. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung der Arbeitnehmerin wurde vom LAG Niedersachsen mit Urteil vom 20. Februar 2023 (Az. 1 Sa 702/22) als unbegründet zurückgewiesen. Das LAG Niedersachsen hat die Revision zum BAG gem. § 72a Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen. Die Arbeitnehmerin hat von der Einlegung eines weiteren Rechtsmittels gegen die Entscheidung des LAG Niedersachsens vom 20. Februar 2023 (Az. 1 Sa 702/22) abgesehen.
 
Die Entscheidung
 
Das LAG Niedersachsen bestätigt die erstinstanzliche Entscheidung des ArbG Hildesheim und hat die Berufung der Arbeitnehmerin als unbegründet zurückgewiesen.
 
Zwar hat die Arbeitnehmerin grundsätzlich einen Anspruch auf Zahlung einer Provision gem. § 611a BGB i.V.m. den Regelungen des Arbeitsvertrages. Denn während des Zeitraums des ärztlichen Beschäftigungsverbots sind Provisionen fällig geworden, die aufgrund der Tätigkeit der Arbeitnehmerin vor dem Zeitpunkt des Beginns der Schutzfrist entstanden sind. Allerdings besteht dieser Anspruch nicht kumulativ neben dem Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Mutterschutzlohn gem. § 18 S. 1 MuSchG, den die Beklagte unstreitig dem Grunde und der Höhe nach ordnungsgemäß nach § 18 S. 2 MuSchG erfüllt hat. Als Mutterschutzlohn wird gem. § 18 S. 2 MuSchG das durchschnittliche Arbeitsentgelt der letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor dem Eintritt der Schwangerschaft gezahlt. Die Höhe des der Arbeitnehmerin insoweit während des Zeitraums des ärztlichen Beschäftigungsverbots zustehenden Mutterschutzlohns hat die Arbeitgeberin zutreffend berechnet und insoweit auch eine Pauschale für Provisionen berücksichtigt. Daneben hat die Arbeitnehmerin keinen zusätzlichen auf die Regelungen des Arbeitsvertrages i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB gestützten Anspruch auf Zahlung der streitgegenständlichen Provisionsansprüche. Denn die Arbeitgeberin muss bei mehreren, für die Erfüllung von Vergütungsansprüchen in Betracht kommenden, Anspruchsgrundlagen nur eine erfüllen. Dieser Verpflichtung ist die Arbeitgeberin durch die Auszahlung von Mutterschutzlohn in Höhe der letzten drei Bruttomonatsverdienste samt Provisionspauschale nachgekommen. Diese Handhabung entspricht auch dem Zweck der Mutterschaftsrichtlinie, Arbeitnehmerinnen eine wirtschaftliche Absicherung zu gewährleisten, um keinen Anreiz für eine die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes gefährdende zusätzliche Tätigkeit zu setzen. Nach Auffassung des LAG Niedersachsen muss insoweit der jeweils höhere Anspruch durch die Arbeitgeberin erfüllt werden, was diese vorliegend auch so gehandhabt hat.
 
Im Übrigen liegt keine Benachteiligung der Arbeitnehmerin i.S.d. §§ 7, 1 AGG vor, wenn diese nach Rückkehr aus Mutterschutz / Elternzeit zunächst keine Provision erhält, bis sie wieder Geschäfte entsprechend der arbeitsvertraglichen Regelungen abgeschlossen hat, die einen Provisionsanspruch entstehen lassen. Denn insoweit richten sich die Ansprüche der Parteien eines Arbeitsverhältnisses alleine nach dem arbeitsvertraglich Vereinbarten. Der Zweck von § 18 MuSchG, eine wirtschaftliche Absicherung der Arbeitnehmerin während einer Schutzfrist zu bieten, ist insoweit nicht (mehr) einschlägig.
 
Das LAG Niedersachsen hat die Revision zum BAG nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen, da es sich bei der Frage des Verhältnisses von Mutterschaftslohn und zeitgleich fällig werdenden Provisionsansprüchen um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handelt.
 
Folgen für die Praxis
 
Die Entscheidung des LAG Niedersachsen berücksichtigt konsequent den Sinn und Zweck des § 18 MuSchG, für Arbeitnehmerinnen eine wirtschaftliche Absicherung während des Zeitraums eines individuellen Beschäftigungsverbots zu gewährleisten. Arbeitnehmerinnen sollen während des Zeitraums eines ärztlichen Beschäftigungsverbots i.S.d. § 16 Abs. 1 MuSchG so gestellt werden, wie sie stünden, wenn keine Schutzfrist für sie eingreifen würde und sie tatsächlich beschäftigt werden könnten. Der Anspruch nach § 18 MuSchG begründet aber keinen zusätzlichen Vergütungsanspruch von Arbeitnehmerinnen; der Arbeitgeber muss lediglich einen der beiden Vergütungsansprüche – arbeitsvertragliche Regelung i.V.m. § 611a Abs. 1 BGB oder § 18 S. 1 MuSchG –, und zwar den höheren Anspruch erfüllen.
 
Rechtsanwältin Svenja Heizmann, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Juni 2023



Dank Tarifvertrag kein „Equal-Pay“ für Leiharbeitnehmer? – Ausgleich erlaubt Ungleichbehandlung
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 31. Mai 2023 – 5 AZR 143/19
 
Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern mit Stammbeschäftigten ist ein zentrales Anliegen der europäischen Leiharbeitsrichtline (RL 2008/104/EG). In diesem Zusammenhang soll der Grundsatz des „Equal-Pay“ soll dafür sorgen, dass Leiharbeitnehmer finanziell genauso behandelt werden wie ihre dauerhaft beschäftigten Kollegen in vergleichbarer Anstellung. Der Anspruch auf Equal-Pay wird in § 8 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) geregelt und greift, sobald der Leiharbeitnehmer neun Monate ununterbrochen im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung beschäftigt ist. Das Bundesarbeitsgericht entschied jüngst – nach einem Umweg über den Europäischen Gerichtshof –, dass ein Tarifvertrag nach § 8 Abs. 2 AÜG von diesem Grundsatz „nach unten“ abweichen könne, mit der Folge, dass der Verleiher dem Leiharbeitnehmer nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen müsse. Die Ungleichbehandlung hinsichtlich der Bezahlung – so die Richterinnen und Richter aus Erfurt – werde nämlich durch angemessene Vorteile kompensiert.
Sachverhalt und Vorinstanzen
Die beiden Parteien streiten über Entgeltdifferenzansprüche („Equal Pay“) der Klägerin wegen des Gleichstellungsgrundsatzes nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG).
Die Klägerin, selbst Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft (ver.di), war von April 2016 bis April 2017 aufgrund eines nach § 14 Abs. 2 TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten, die gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin in Teilzeit beschäftigt. Die Klägerin war einem Unternehmen des Einzelhandels für dessen Auslieferungslager als Kommissioniererin überlassen und verdiente zuletzt 9,23 Euro brutto pro Stunde.
Der Arbeitsvertrag enthielt unter anderem folgende Regelungen:
„§ 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag
 (1) Die Rechte und Pflichten der Parteien dieses Arbeitsvertrages bestimmen sich nach den Tarifverträgen in ihrer jeweiligen gültigen Fassung, welche der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. (IGZ) mit einer oder mehreren der Gewerkschaften IG BCE, NGG, IG Metall, GEW, ver.di, IG Bau, GdP, EVG geschlossen hat oder künftig schließen wird.
[…].“
Der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.), dessen Mitglied die Beklagte ist, hat mit mehreren Gewerkschaften des DGB – darunter ver.di – Mantel-, Entgeltrahmen- und Entgelttarifverträge geschlossen, die eine Abweichung von dem in § 8 Abs. 1 AÜG verankerten Grundsatz der Gleichstellung vorsehen, insbesondere auch eine geringere Vergütung als diejenige, die vergleichbare Stammarbeitnehmer im Entleihbetrieb erhalten.
Die Klägerin war der Auffassung, diese Tarifverträge seien nicht mit Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeitsrichtline (RL 2008/104/EG) und der dort verlangten Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer vereinbar. Die Klägerin trug vor, dass vergleichbare Stammarbeitnehmer bei der Entleiherin nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet würden und im streitgegenständlichen Zeitraum einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto erhalten hätten. Gemäß den Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sei der Arbeitgeber jedoch verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren (Gleichstellungsgrundsatz, § 8 Abs. 1 AÜG).
Mit ihrer Klage verlangte die Klägerin – unter Berufung auf den Gleichstellungsgrundsatz – für den Zeitraum von Januar bis April 2017 eine entsprechende Differenzvergütung. Die Beklagte war dagegen der Auffassung, aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit schulde sie nur die für Leiharbeitnehmer vorgesehene tarifliche Vergütung. Das Unionsrecht sei zudem nicht verletzt.
Das Arbeitsgericht Würzburg (Urteil vom 8. Mai 2018 – Az. 2 Ca 1248/17) hat die Klage abgewiesen. Es hat u.a. ausgeführt, dass der Gleichstellungsgrundsatz vorliegend keine Anwendung fände, weil eine zulässige Abweichung durch Tarifvertrag vorläge und diese Abweichung zudem europarechtskonform sei.
Das Landesarbeitsgericht Nürnberg (Urteil vom 7. März 2019 – Az. 5 Sa 203/18) folgte den Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Arbeitsgerichts Würzburg und hat die Berufung der Klägerin abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht Nürnberg zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klage vor dem Bundesarbeitsgericht weiter.
Entscheidung
Nach § 8 Abs. 2 Sätze 1-3 AÜG können die Arbeitsvertragsparteien vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, wenn ein für die Parteien anzuwendender Tarifvertrag gilt und dieser Tarifvertrag, die in einer Rechtsverordnung nach § 3a AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte nicht unterschreitet.
Aufgrund der (unstreitigen) beiderseitigen Tarifbindung kommen die Tarifverträge zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen und den unterzeichnenden Mitgliedsgewerkschaften des DGB aufgrund beiderseitiger Mitgliedschaft zur Anwendung. Darüber hinaus haben die Parteien in § 1 des Arbeitsvertrags die Anwendung der jeweils geltenden Tarifverträge zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen mit einer oder mehreren der Gewerkschaften – u.a. auch ver.di – vereinbart.
Zur Klärung unionsrechtlicher Fragen, hatte das Bundesarbeitsgericht das Verfahren zunächst ausgesetzt (Beschluss vom 16. Dezember 2020 – 5 AZR 143/19) und dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt. Das Bundesarbeitsgericht wollte im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG vom deutschen Gesetzgeber richtlinienkonform umgesetzt worden sind. Die entscheidende Frage war, wie „unter Achtung des Gesamtschutzes“ in Art. 5 Abs. 3 die Leiharbeitsrichtlinie auszulegen ist.
Eine Antwort aus Luxemburg folgte im Dezember 2022 (Urteil vom 15. Dezember 2022 – Az. C-311/21): Ein Tarifvertrag, der eine Ungleichbehandlung auf wesentliche Arbeitsbedingungen vergleichbarer Stammarbeitnehmer zulässt, wahrt nur dann den in Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104/EG genannten „Gesamtschutz“, wenn er im Gegenzug Vorteile gewährt, die die Auswirkungen der Ungleichbehandlung ausgleichen sollen. Mit anderen Worten, sieht ein Tarifvertrag ein niedrigeres Entgelt für Leiharbeitnehmer vor, müssen ihnen ihm Gegenzug andere wesentliche Vorteile gewährt werden – wie etwa durch zusätzliche Freizeit.
Die von der Klägerin im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Ansprüche auf Zahlung der Differenz zwischen dem erhaltenen Entgelt und dem in dem Entleiherbetrieb für vergleichbare Arbeitnehmer gezahlten Entgelt sind nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts nicht entstanden.
Nach den Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts habe die Klägerin zwar möglicherweise einen Nachteil erlitten, weil sie eine geringere Vergütung erhalten habe, als sie erhalten hätte, wenn sie unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz von dem entleihenden Unternehmen eingestellt worden wäre. Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeitsrichtlinie lasse eine solche Schlechterstellung jedoch ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolge. Nach der Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs ermöglichen Ausgleichsvorteile also eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung.
Einen solchen Ausgleichsvorteil sieht das Bundesarbeitsgericht in dem Fall der Klägerin, weshalb sie keinen Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt, d.h. auf ein Arbeitsentgelt habe, wie es vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers erhielten.
Ein Ausgleichsvorteil der Klägerin liege darin, dass sie auch in der verleihfreien Zeit ihr Entgelt bekomme. Dies sehe das Tarifwerk des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen und ver.di vor und sei auch bei befristeten Arbeitsverträgen – wie dem der Klägerin – anwendbar. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts genüge dieses Tarifwerk im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Leiharbeitnehmer den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeitsrichtlinie (RL 2008/104/EG).
Der im Tarifwerk vorgesehene Ausgleich sei der Klägerin auch sicher und könne nicht einfach umgangen werden. Der deutsche Gesetzgeber habe mit § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG für den Bereich der Leiharbeit zwingend sichergestellt, dass die Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten tragen, weil der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 Satz 1 BGB – der an sich abdingbar ist – im Leiharbeitsverhältnis nicht abbedungen werden könne. So heißt es in § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG:
„Das Recht des Leiharbeitnehmers auf Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers (§ 615 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) kann nicht durch Vertrag aufgehoben oder beschränkt werden; § 615 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bleibt unberührt.“
Ferner, so argumentierte das Bundesarbeitsgericht, habe der Gesetzgeber auch dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Leiharbeitnehmern staatliche Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten dürfe. Letztlich sei seit dem 1. April 2017 zudem die Abweichung vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts nach § 8 Abs. 4 Satz 1 AÜG zeitlich grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses begrenzt.
Im Ergebnis werde also die „Ungleichbehandlung“ der Klägerin ausreichend kompensiert und die Beklagte war – aufgrund des wegen der beiderseitigen Tarifgebundenheit auf das Leiharbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und ver.di – nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG (und § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG a.F.) nur verpflichtet, die tarifliche Vergütung zu zahlen. 
Bewertung
Die Leiharbeitsrichtlinie legt EU-weit einheitliche Mindeststandards für die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit fest. Ziel dieser Richtlinie ist es nach Art. 2, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird.
Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 2022 den „Gesamtschutz“ von Leiharbeitnehmern definiert. Lässt ein Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf den Gleichstellungsgrundsatz zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag – um den Gesamtschutz zu wahren – den Leiharbeitnehmern im Gegenzug Ausgleichsvorteilte hinsichtlich der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die die Ungleichgleichhandlung ausgleichen. Ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes erfüllt ist, beurteilt sich anhand eines Vergleichs der für einen bestimmten Arbeitsplatz geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen, die für das Stammpersonal des Entleiherbetriebs gelten mit denen, die für die Leiharbeitnehmer gelten. Erst durch diesen Vergleich kann festgestellt werden, ob die in Bezug auf diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.
Die Entscheidungsgründe des Bundesarbeitsgerichts stehen derzeit noch aus. Erst mit Vorliegen der Entscheidungsgründe dürfte absehbar werden, ob und welche weiteren Konsequenzen sich für unbefristete und befristete Arbeitsverhältnisse der in Deutschland rund 800.000 beschäftigten Leiharbeitnehmer ergeben werden. Insbesondere wird abzuwarten bleiben, welche Konsequenzen sich im Hinblick auf die Gestaltung von gesetzlichen und tariflichen Rahmenbedingungen in der Leiharbeit ergeben werden, denn aus der Argumentation des Bundearbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs kann der Umkehrschluss gezogen werden, dass einer Klage dann stattzugeben sein könnte, wenn ein Tarifvertrag jedenfalls keine hinreichenden Ausgleichsvorteile für eine nachteilig abweichende Vergütung gewährt.
Auf Grundlage der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darf die Bedeutung von Tarifverträgen und der Schutz, den sie bieten, nicht unterschätzt werden. Tarifverträge können insbesondere Vergünstigungen und Sicherheiten beinhalten, die nachteilige Abweichungen von wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ausgleichen können. Vor diesem Hintergrund ist es empfehlenswert, sich über die genauen Bedingungen der einschlägigen Tarifwerke zu informieren.
 
Katharina Rebecca Kurch, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Düsseldorf
 
 
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Keine Fiktion eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses durch Urlaubsgewährung
BAG, Urteil vom 09.02.2023 – 7 AZR 266/22
 
Das Teilzeit- und Befristungsgesetz bietet in der Praxis für Arbeitgeber zahlreiche Fallstricke, die oftmals durch vorausschauendes Handeln vermieden werden können. Wer dies als Arbeitgeber nicht im Blick hat, läuft Gefahr, sich trotz zunächst zulässig vereinbarter Befristung in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis wiederzufinden. In der vorliegenden Entscheidung hatte das BAG zu bewerten, ob allein die Urlaubgewährung über den Ablauf der Befristung hinaus geeignet ist, das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Dem erteilt das Gericht eine deutliche Absage.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
 
Der Arbeitnehmer und Kläger war zunächst als Beamter der Deutschen Bundespost und nach deren Privatisierung bei der Beklagten als Bundesbeamter auf Lebenszeit beschäftigt. Seit dem 1. Juli 1999 war er dort aufgrund einer Reihe befristeter Verträge als Angestellter tätig und zeitgleich jeweils als Beamter beurlaubt. Zuletzt schlossen die Parteien für die Zeit vom 1. August 2019 bis zum 30. April 2020 einen Arbeitsvertrag, der insgesamt zweimal, schließlich bis zum 30. September 2020 unter gleichzeitiger Beurlaubung des Arbeitnehmers im Hinblick auf dessen Beamtenstatus verlängert wurde. Im September wurde dem Arbeitnehmer Erholungsurlaub für den gesamten Monat Oktober 2020 mit Ausnahme der Wochenenden gewährt. Seit dem 1. Oktober 2020 wird der Kläger wieder als Bundesbeamter geführt.
 
In der Folge reichte der Arbeitnehmer Klage beim Arbeitsgericht Hamburg auf Feststellung des Bestehens eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses ein, verbunden mit einem gegen die vertragliche Befristung zum 30. September 2020 gerichteten Befristungskontrollantrag.
 
Das LAG Hamburg hat die Berufung des Klägers und in diesem Zusammenhang den gegen die Befristungsabrede gerichteten Befristungskontrollantrag rechtskräftig abgewiesen, ließ jedoch die Frage, ob Urlaubsgewährung im Rahmen von § 15 Abs. 5 TzBfG aF (seit 1. August 2022 Absatz 6) für eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses auf unbestimmte Zeit ausreichen kann, zur Revision zu.
 
Die Entscheidung
 
Das BAG teilt die Auffassung der Vorinstanzen und hat die Revision des Klägers als unbegründet zurückgewiesen.
 
Laut § 15 Abs. 5 TzBfG aF gilt ein Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn es nach Ablauf der Befristung mit Wissen des Arbeitgebers fortgesetzt wird und der Arbeitgeber der Weiterarbeit nicht unverzüglich widerspricht. D.h. das Gesetz fingiert in diesem Fall ein auf unbestimmte Zeit geschlossenes, unbefristetes Arbeitsverhältnis zu den Konditionen des befristeten Arbeitsvertrages. Voraussetzung dafür ist, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung bewusst und in der Bereitschaft fortsetzt, die Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis weiter zu erfüllen. Ob die Parteien tatsächlich das Arbeitsverhältnis als ein unbefristetes fortsetzen wollen, ist dabei nicht relevant. Nach der Entscheidung des BAG wird ein befristetes Arbeitsverhältnis jedoch nicht dadurch stillschweigend fortgesetzt, dass dem Arbeitnehmer über die Beendigung hinaus Urlaub gewährt wird. Für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses müsse der Arbeitnehmer auch tatsächlich weiter arbeiten, d.h. eine Arbeitsleistung erbringen.
 
Insbesondere ließ das BAG das Argument des Klägers nicht gelten, die Wahrnehmung des Erholungsurlaubs stelle eine arbeitsvertragliche Pflicht dar und sei daher äquivalent zur Erbringung der Arbeitsleistung. Vielmehr stellte das BAG klar, dass zwar der Arbeitgeber durch die Urlaubsgewährung eine ihm obliegende gesetzliche Pflicht erfüllt, diese jedoch mit keiner relevanten Gegenleistung des Arbeitnehmers – abgesehen vom Verbot der anderweitigen Erwerbstätigkeit während des Urlaubs – verbunden ist.
 
Folgen für die Praxis
 
Der Entscheidung ist zuzustimmen. Zu begrüßen ist dabei, dass das BAG in zwei Bereichen, die sich in der Praxis konfliktreich gestalten und bei vielen Arbeitgebern für Unsicherheit sorgen, Klarstellungen vornimmt bzw. Grundsätze bestätigt.
 
So betont das Gericht, dass Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber und Urlaubsnahme durch den Arbeitnehmer keine arbeitsvertraglich bedingte Leistung und Gegenleistung darstellen. Vielmehr entspricht der Arbeitgeber seiner gesetzlichen Verpflichtung, dem Arbeitnehmer, die Möglichkeit zu geben, sich von der Arbeitsleistung zu erholen. Ob und wie dies geschieht, bleibt dem Arbeitnehmer überlassen.
 
Für das Befristungsrecht bedeutet dies, dass der Arbeitnehmer seine vertragsgemäßen Dienste tatsächlich erbringen muss, um die Fiktion des § 15 Abs 5 TzBfG aF auszulösen und damit ein unbefristetes Arbeitsverhältnis über den Ablauf der Vertragszeit hinaus zu begründen. In Konsequenz genügt die Bewilligung von Erholungsurlaub oder Freizeitausgleich für geleistete Überstunden ebenso wenig um das Arbeitsverhältnis fortzusetzen wie die Entgeltfortzahlung an einen arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer.
 
Louisa Brennecke, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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Mai 2023



Eher etwas für „Flinke Frauenhände“ – Entschädigung für diskriminierende Jobabsage
LAG Nürnberg, 13. Dezember 2022 – 7 Sa 168/22
 
Wenn es um Diskriminierungen in Stellenanzeigen geht, kennt das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) kein Pardon. „Kräftiger junger Mann gesucht“, „Junges Team sucht“ oder „Muttersprachler gesucht“– Formulierungen wie diese in Stellenausschreibungen können für Arbeitgeber teuer werden. Denn: abgelehnte Bewerberinnen und Bewerber könnten sich diskriminiert fühlen und sich auf das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) berufen und hieraus eine Entschädigung fordern. Um juristische Folgen zu vermeiden gilt als Faustregel, Stellenausschreibungen möglichst neutral zu formulieren. Dass jedoch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auch bei scheinbar neutralen Einstellungskriterien vorliegen kann, verdeutlicht eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 13. Dezember 2022. Das Landesarbeitsgericht sah in dem Ablehnungsgrund, die Tätigkeit sei „eher etwas für flinke Frauenhände“, eine geschlechterbezogene Diskriminierung des männlichen Bewerbers.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
 
Das beklagte Unternehmern produziert und vertreibt Modellfahrzeuge im Maßstab 1:87 mit 100 bis 150 Einzelteilen. Mit undatierter Stellenausschreibung bei der Bundesagentur für Arbeit suchte die Beklagte einen „Bestücker für Digitaldruckmaschine (m/w/d)“ mit folgendem Text:
 
„Für unsere filigranen Automodelle im Maßstab 1/87 H0 suchen wir Mitarbeiter (m/w/d) für unsere Digitaldruckmaschine. Die Teile müssen in die Maschine eingelegt und entnommen werden. Anforderungen:
- Fingerfertigkeit/Geschick
- Deutschkenntnisse in Wort und Schrift
- Zuverlässiges, sorgfältiges und konzentriertes Arbeiten
- Teamorientierung, Belastbarkeit und ausgeprägte Motivation
- Fachkenntnisse sind nicht zwingend notwendig Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!“
 
Die in der Ausschreibung genannten Teile waren sehr klein (zwischen 2 und 20 Millimeter groß) und mussten teilweise bei der Montage der Modelle mit Hilfe von Pinzetten positioniert werden. Die Stelle war mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet.
 
Der Kläger – gelernter Einzelhandelskaufmann, welcher zuletzt in drei verschiedenen Unternehmen der Automobilzubehör- bzw. Keramikbranche als Produktionshelfer tätig war – bewarb sich am 19. April 2022 auf die zuvor genannte Stellenausschreibung.
 
Mit E-Mail-Nachricht vom selben Tag erteilte die Beklagte dem Kläger eine Absage mit den folgenden Worten:
 
Sehr geehrter Herr (...),
vielen Dank für Ihre Bewerbungsunterlagen. Unsere sehr kleinen, filigranen Teile sind eher etwas für flinke Frauenhände. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Sie für diese Stelle nicht in Frage kommen. Ich wünsche Ihnen für Ihren weiteren Berufs- und Lebensweg alles Gute.“
 
Der Kläger fühlte sich aufgrund der Absage geschlechterbezogen diskriminiert und machte Anfang Juni 2022 gegenüber der Beklagten Entschädigungsansprüche in Höhe von nicht unter drei Monatsgehältern geltend. Daraufhin lud die Beklagte den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch und Probearbeiten ein, da die Stelle noch nicht besetzt wurde. Der Kläger bestätigte diesen Termin und es kam zu einem Gespräch im Betrieb der Beklagten. Zu dem geplanten Probearbeiten kam es jedoch nicht, da sich die Beklagte auf einen Ausfall der Druckmaschine berief. Auch ein weiterer vereinbarter Termin zu einem Vorstellungsgespräch und Probearbeiten wurde seitens der Beklagten abgesagt. Als die Beklagte dem Kläger sodann erneut einen Termin anbot, lehnte der Kläger diesen ab, da er zwischenzeitlich eine neue Stelle angetreten habe. Die Beklagte teilte dem Kläger schließlich mit, dass die Absage nicht wegen seines Geschlechts erfolgt und die Formulierung mit den Frauenhänden „offensichtlich nicht erst gemeint“ gewesen sei.
 
In seiner beim Arbeitsgericht Nürnberg auf Entschädigung in Höhe von 8.000,00 Euro gerichteten Klage, stellte sich der Kläger auf den Standpunkt, dass er für die ausgeschriebene Tätigkeit geeignet sei, zumal der von der Beklagten zuletzt geltend gemachte filigrane Zusammenbau von Fahrzeugen nicht Bestandteil der Ausschreibung gewesen sei. Zudem sei es widersprüchlich, wenn sich die Beklagte auf den filigranen Zusammenbau der Fahrzeuge als Teil der geschuldeten Tätigkeit berufe, ihm gleichzeitig aber nicht wenigstens ein Probearbeiten in dieser Abteilung ermöglicht habe, obwohl er im Termin mehrmals diesen Wunsch zum Ausdruck gebracht habe.
 
Das Arbeitsgericht Nürnberg gab der Klage insoweit statt, als es die Beklagte zu einer Zahlung von 3.300,00 Euro verurteilte.
 
Entscheidung
 
Das Landesarbeitsgericht Nürnberg stimmte dem Kläger dem Grunde nach zu und entschied, dass die Absage wegen fehlender „flinken Frauenhände“ ein Indiz für eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle, welches die Beklagte auch nicht entkräften könnte. Die Höhe des Schadens bewertete das Landesarbeitsgericht jedoch geringer und sprach dem Kläger letztlich eine Entschädigung in Höhe von 2.500,00 Euro zu.
 
Den Einwand der Beklagten, es sei ihr mit der Formulierung „flinke Frauenhände“ lediglich darum gegangen, die Bedeutung kleiner Hände und feingliedriger Finger für die Arbeit als Bestücker der Digitaldruckmaschinen zu verdeutlichen, ließ das Landesarbeitsgericht nicht gelten. Selbst wenn man zugunsten der Beklagten – und gegen den eindeutigen Wortlaut des Absageschreibens – davon ausgehe, dass das Ablehnungsschreiben selbst noch keine unmittelbare Benachteiligung des Klägers wegen seines Geschlechts zum Ausdruck bringe, so habe das Absageschreiben jedenfalls den Charakter einer entsprechenden Indiztatsache nach § 22 AGG. Damit müsse die Beklagte darlegen und beweisen, dass sie nicht gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen habe. Diesen Beweis konnte die Beklagte allerdings nicht führen.
 
Dem Argument des beklagten Unternehmens bei der Internetrecherche auf Bilder des betroffenen Bewerbers gestoßen zu sein, die dessen großen Hände zeigten, folgte das Landesarbeitsgericht nicht. Denn hieraus lasse sich nach Ansicht der Kammer nichts über die Fingerfertigkeiten des Bewerbers ableiten. Dem Kläger sei außerdem die Gelegenheit, mittels Probearbeiten nachzuweisen, dass er zu der kleinteiligen Arbeit bei der Beklagten willens und in der Lage ist, deshalb nicht gegeben worden, „eben weil er ein Mann war.“ Dieses Verhalten sei unmittelbar benachteiligend nach § 3 Abs. 1 AGG wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals und verstoße damit gegen § 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG. Darüber konnte auch nicht hinweghelfen, dass die Beklagte den Kläger zu Vorstellungsgesprächen und Probearbeiten eingeladen habe. Denn Anlass für die Einladung zum Probearbeiten sei das Schreiben des Klägers mit der Geltendmachung einer Entschädigung gewesen. Die Einladungen zum Vorstellungsgespräch seien aus diesem Grund eher der Vermeidung einer Entschädigungsklage und nicht einem ehrlichen Interesse an der Arbeitskraft des Klägers geschuldet.
 
Das Landesarbeitsgericht sah auch keine Rechtsmissbräuchlichkeit seitens des Klägers. Es ergaben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger nur in Hoffnung einer Absage auf die Stelle beworben habe, um später eine Entschädigung nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zu kassieren (sog. „AGG-Hopping“).
 
Da der Kläger bereits eine neue Stelle gefunden habe, sei sein Schaden allerdings nicht so hoch zu bewerten. Hinsichtlich der Bemessung der Entschädigung hielt das Landesarbeitsgericht schließlich eine Entschädigung in Höhe von 2.500,00 Euro, was dem 1,5-fachen des auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttogehalts entspricht, für angemessen, um die notwendige abschreckende Wirkung bei der Beklagten zu erzielen. Dies auch weil der Kläger bereits selbst über seinen Fall in den sozialen Medien berichtet habe und die Beklagte durch dessen Berichterstattung in Zukunft davon abgehalten werde, weitere Absagen ähnlich zu begründen.
 
Bewertung
 
Da das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erhebliche Auswirkungen auf das Bewerbungsverfahren hat, müssen Arbeitsgerichte Stellenausschreibungen oder abgelehnte Bewerbungen immer wieder unter die Lupe nehmen. Diskriminierungen im Bewerbungsprozess, sei es in den Stellenausschreibungen, in Fragen im Vorstellungsgespräch oder bei Stellenabsagen, führen daher nicht selten zu rechtlichen Auseinandersetzungen mit teuren Konsequenzen.
 
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg verdeutlicht, dass eine Benachteiligung aufgrund des Geschlechts selbst bei scheinbar neutralen Einstellungskriterien vorliegen und ein diskriminierender Ablehnungsgrund zu einer Entschädigungspflicht des Unternehmens führen kann.
 
 
In der Praxis hat der Entschädigungsanspruch höchste Relevanz. Denn Bewerber und Bewerberinnen können, selbst wenn sie gar keinen Schaden erlitten haben, eine Entschädigung – sozusagen als Schmerzensgeld für die erlittene Diskriminierung – nach § 15 Abs. 2 AGG einfordern. Der Entschädigungsanspruch setzt dabei weder ein Verschulden des Arbeitgebers wegen der Benachteiligung voraus noch dass die Bewerberin oder der Bewerber auch tatsächlich eingestellt worden wäre. Insoweit kann sich der Arbeitgeber also auch nicht darauf berufen, dass die Bewerberin oder der Bewerber nicht für die Stelle geeignet sei.
 
Hinsichtlich der Höhe ist die Entschädigung grundsätzlich unbegrenzt. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG wird die Höhe der Entschädigung allerdings auf drei Monatsgehälter „gedeckelt“, wenn es sich um eine Diskriminierung einer Bewerberin oder eines Bewerbers handelt, die oder der auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
 
Ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot begründet allerdings keinen Anspruch auf Einstellung in den Betrieb - und auch der Anspruch auf Entschädigung besteht nur, soweit die Bewerbung auch tatsächlich ernst gemeint war. So sollen die sog. „AGG-Hopper“ ausgeschlossen werden, die sich ganz bewusst auf offene Stellen bewerben, in der Hoffnung, diese unter diskriminierenden Umständen nicht zu bekommen, um so anschließend auf Entschädigung zu klagen.
 
Katharina Rebecca Kurch, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Düsseldorf


   
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Einwand der Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung in der Zwangsvollstreckung
BAG, Beschluss vom 28. Februar 2023 – 8 AZB 17/22
 
Gegenstand der Rechtsbeschwerde vor dem BAG war die Frage, inwiefern der Einwand der Unmöglichkeit der zu vollstreckenden Handlung durch den Schuldner im Zwangsvollstreckungsverfahren zu berücksichtigen ist. Für den Fall, dass dies aufgrund der eingeschränkten Erkenntnis- und Beweismöglichkeiten im Zwangsvollstreckungsverfahren nicht möglich ist, hat der Arbeitgeber andere prozessuale Möglichkeiten – einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung bei Einlegung eines Rechtsmittels gegen das den Weiterbeschäftigungsanspruch titulierende Urteil oder Erhebung einer Vollstreckungsabwehrklage – um den Einwand der Unmöglichkeit gegen den Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers geltend zu machen.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
 
Der Arbeitnehmer und Gläubiger war bei der Arbeitgeberin und Schuldnerin zuletzt als kaufmännischer Leiter beschäftigt. Die Arbeitgeberin kündigte dieses Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich.
 
Der Arbeitnehmer hat die außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung gerichtlich angegriffen und zugleich einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung geltend gemacht. Das ArbG Kassel hat dem Kündigungsschutzantrag des Arbeitnehmers stattgegeben und die Arbeitgeberin verpflichtet, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als kaufmännischen Leiter weiter zu beschäftigen. Den Antrag der Arbeitgeberin auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses wies das ArbG Kassel ab. Diese legte gegen das Urteil des ArbG Kassel Berufung ein, stellte einen weiteren Antrag auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses gem. § 9 KSchG und beantragte zugleich, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des ArbG Kassel einzustellen. Das Hessische LAG hat den Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung mangels Glaubhaftmachung der Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung zurückgewiesen.
 
Der Arbeitnehmer stellte zwischenzeitlich einen Antrag auf Festsetzung von Zwangsgeld, ersatzweise Zwangshaft gegen die Arbeitgeberin zur Durchsetzung des titulierten Anspruchs auf Weiterbeschäftigung als kaufmännischer Leiter bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens. Er war der Auffassung, dass die Arbeitgeberin der Weiterbeschäftigungspflicht nicht den Einwand des angeblichen Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit entgegen halten könne. Die Arbeitgeberin begründete ihre Auffassung, dass ihr eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers als kaufmännischer Leiter unmöglich sei, mit dem ersatzlosen Wegfall dieses Arbeitsplatzes und einer Umverteilung der ihm bisher obliegenden Aufgaben. Die Geschäftsführung habe die unternehmerische Entscheidung getroffen, auf die Position des kaufmännischen Leiters zukünftig zu verzichten. Die Gesellschafterversammlung habe diese unternehmerische Entscheidung durch entsprechenden Beschluss bestätigt. Daher sei die Beschäftigungsmöglichkeit ersatzlos entfallen.
 
Das ArbG Kassel (vgl. Beschluss vom 6. Juli 2022 - 2 Ca 302/21) hat entschieden, dass gegen die Arbeitgeberin zur Erzwingung der Weiterbeschäftigungspflicht aus dem Urteil des ArbG Kassel ein Zwangsgeld i.H.v. EUR 7.073,48 EUR – dies entspricht einem Bruttomonatsgehalt des Gläubigers – ersatzweise für je 1.000,00 EUR einen Tag Zwangshaft festgesetzt wird. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde wurde vom Hessischen LAG (vgl. Beschluss vom 5. September 2022 – 10 Ta 328/22) zurückgewiesen. Das Hessische LAG hat die Rechtsbeschwerde zum BAG zugelassen.
 
Die Entscheidung
 
Das BAG teilt die Auffassung der Vorinstanzen und hat die Rechtsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen.
 
Zwar liegen die allgemeinen Voraussetzung der Zwangsvollstreckung nach § 888 ZPO, d.h. der Durchsetzung einer unvertretbaren Handlung durch Verhängung eines Zwangsgeldes, ersatzweise Zwangshaft, vor. Allerdings ist der Arbeitgeberin die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers als kaufmännischer Leiter aufgrund der von ihr getroffenen unternehmerischen Entscheidung und des damit verbundenen ersatzlosen Wegfalls des Arbeitsplatzes nicht unmöglich.
 
Grundsätzlich erfordert die Verhängung von Zwangsmitteln i.S.d. § 888 Abs. 1 S. 1 ZPO, dass dem Schuldner die Vornahme der zu erzwingenden Handlung möglich ist. Der Schuldner kann daher auch im Zwangsvollstreckungsverfahren den Einwand der Unmöglichkeit geltend machen, soweit dieser noch nicht Gegenstand des Erkenntnisverfahrens war. Vorliegend war der Arbeitgeberin als Schuldnerin eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers als kaufmännischer Leiter allerdings nicht unmöglich. Die Arbeitgeberin hat selbst die unternehmerische Entscheidung getroffen, dass sie zukünftig auf die Stelle des kaufmännischen Leiters verzichten wird. Diese unternehmerische Entscheidung hat aus Sicht der Arbeitgeberin zum ersatzlosen Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit für den Gläubiger geführt. Allerdings ergibt sich, so die Auffassung des BAG, aus dem Vortrag der Arbeitgeberin nicht, dass eine Organisation des Betriebs nicht dergestalt möglich wäre, dass der Arbeitnehmer als kaufmännischer Leiter bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens beschäftigt werden könnte. Insbesondere kommt das BAG zu dem Ergebnis, dass der hiesige Sachverhalt nicht vergleichbar ist mit demjenigen, welcher der Entscheidung des BAG vom 5. Februar 2020 (Az. 10 AZB 31/19) zugrunde gelegen hatte. Denn in hiesigem Fall hängt die getroffene unternehmerische Entscheidung alleine vom Willen der Schuldnerin als Vertragsarbeitgeberin des Gläubigers ab und ist nicht Gegenstand einer europaweiten Umstrukturierung, wie diejenige unternehmerische Entscheidung, die in der zitierten Entscheidung des BAG zum grundsätzlich im Zwangsvollstreckungsverfahren zu berücksichtigenden Einwand der Unmöglichkeit geführt hat. Im Übrigen ändert sich an dieser Auffassung auch nichts aufgrund der grundsätzlich gebotenen gerichtlichen Missbrauchskontrolle unternehmerischer Entscheidungen.
 
Unabhängig davon, dass die Arbeitgeberin eine Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung nicht dargelegt und auch selbst vorgetragen hat, dass diese einzig und alleine auf ihrer Entscheidung beruht, wäre eine Unmöglichkeit im Zwangsvollstreckungsverfahren auch nur dann zu berücksichtigen, wenn der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit unstreitig oder offenkundig wäre. Denn umfangreiche Feststellungen, die eine Prüfung des Wegfalls einer Beschäftigungsmöglichkeit aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung erfordern, sind dem Zwangsvollstreckungsverfahren aufgrund der eingeschränkten Erkenntnis- und Beweismöglichkeiten fremd. Zudem ist im Zwangsvollstreckungsverfahren auch das Gebot der frühzeitigen Durchsetzung der Ansprüche des Arbeitnehmers zu beachten. Auch dies schließt umfangreiche Feststellungen des Wegfalls einer Beschäftigungsmöglichkeit nach Auffassung des BAG aus. Ferner besteht bei Berücksichtigung eines streitigen und nicht offenkundigen Wegfalls einer Beschäftigungsmöglichkeit aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung zum einen die Gefahr widerstreitender Entscheidungen im Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren. Zum anderen wird die Durchsetzung eines Weiterbeschäftigungstitels erheblich erschwert, wenn der Schuldner es in der Hand hätte, per se den Einwand der Unmöglichkeit geltend zu machen und hierdurch umfangreiche Feststellungen des Gerichts herauszufordern.
 
Dem steht nach Einschätzung des BAG auch nicht das Gebot des wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG, auf welches sich die Arbeitgeberin berufen kann, entgegen. Denn diese kann den Einwand der Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung durch Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gem. § 62 Abs. 1 S. 2 und S. 3 ArbGG i.V.m. §§ 707, 719 ZPO, für den Fall, dass sie Berufung gegen das den Weiterbeschäftigungsanspruch titulierende Urteil eingelegt hat, geltend machen. Sollte sie Schuldnerin keine Berufung eingelegt haben, kann sie den Einwand der Unmöglichkeit durch Erhebung einer Vollstreckungsabwehrklage nach §§ 767, 769 ZPO ebenfalls gerichtlich geltend machen. Auch kann sie sich nicht darauf berufen, dass durch den in der 2. Instanz erneut gestellten Auflösungsantrag eine weitere Ungewissheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses entstanden sei. Denn hierbei handelt es sich um einen materiell-rechtlichen Einwand, der nicht im Zwangsvollstreckungs-, sondern im Erkenntnisverfahren gem. § 62 Abs. 1 S. 2 und S. 3 ArbGG i.V.m. §§ 707, 719 ZPO zu berücksichtigen ist.
 
Folgen für die Praxis
 
Die Entscheidung des BAG behandelt einen in der Praxis häufigen Fall, dass dem titulierten Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers der Einwand der Unmöglichkeit durch die Arbeitgeberseite entgegengesetzt wird. Die Arbeitgeberin ist hierbei grundsätzlich auf die Argumentation mit einer Unmöglichkeit aus persönlichen Gründen, die bspw. im Verhalten des Arbeitnehmers liegen können, oder, wie im vorliegenden Fall, aus betriebsbedingten Gründen aufgrund Wegfalls des Arbeitsplatzes infolge einer unternehmerischen Entscheidung, beschränkt. Auch diese Entscheidung des BAG betont den in der Rechtsprechung anerkannten Grundsatz, dass lediglich der unstreitige oder offensichtliche Wegfall einer Beschäftigungsmöglichkeit im Zwangsvollstreckungsverfahren für das Vorliegen einer Unmöglichkeit aus betriebsbedingten Gründen zu berücksichtigen ist. Allerdings erschwert dies für Arbeitgeber grundsätzlich die Verteidigungsmöglichkeiten im Zwangsvollstreckungsverfahren. Denn sobald der Arbeitnehmer hier Umstände anführt, welche die unternehmerische Entscheidung als missbräuchlich oder willkürlich erscheinen lassen können oder der Arbeitgeber den ersatzlosen Wegfall der Tätigkeit des Arbeitnehmers nicht glaubhaft machen kann, liegt keine von der Rechtsprechung geforderte „unstreitige oder offensichtliche“ Unmöglichkeit vor. Demnach mag es zwar zutreffen, wie das BAG in der hiesigen Entscheidung betont, dass die Durchsetzung des Weiterbeschäftigungstitels für den Arbeitnehmer nicht erheblich erschwert werden darf. Allerdings muss dies umgekehrt auch für die Verteidigung des Arbeitgebers gegen die Durchsetzung eines Weiterbeschäftigungstitels gelten, wenn ihm eine Beschäftigung des Arbeitnehmers objektiv unmöglich (geworden) ist. Denn der Arbeitgeber als Schuldner der Beschäftigungspflicht kann nicht zu etwas gezwungen werden, was er nicht im Stande vorzunehmen ist. Dies muss unabhängig davon gelten, ob diese Unmöglichkeit durch eine rechtmäßige und nicht willkürliche Entscheidung des Arbeitgebers eingetreten oder Teil einer globalen Entscheidung auf Konzernebene ist, die auf den Vertragsarbeitgeber Auswirkung hat. Denn objektive Unmöglichkeit liegt unabhängig von dem hinter dem Entscheidungsträger, der hinter der zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit führenden unternehmerischen Entscheidung steht, vor.
 
Rechtsanwältin Svenja Heizmann, Eversheds Sutherland (Germany), Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

   
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April 2023



Verjährung des Urlaubsabgeltungsanspruches
 
BAG, Urteil vom 31. Januar 2023 – 9 AZR 456/20
 
Der Urlaubsabgeltungsanspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG unterliegt der Verjährung. Grundsätzlich beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren mit dem Ende des Jahres, in dem das Arbeitsverhältnis beendet wurde, da in diesem Moment der Abgeltungsanspruch erst entsteht. Abweichendes gilt jedoch, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Entscheidung des EuGH vom 6. November 2018 (C-684/16) endete und dem Arbeitnehmer die Erhebung einer Klage auf Abgeltung nicht zumutbar war. In dieser Fallkonstellation konnte die Verjährungsfrist nicht vor dem Ende Jahres 2018 beginnen.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
 
Die Beklagte ist Betreiberin einer Flugschule und beschäftigte den Kläger dort seit dem 9. Juni 2010 als Ausbildungsleiter. Seitdem wurde dem Kläger in keinem Jahr sein voller Jahresurlaub von 30 Arbeitstagen gewährt. Am 19. Oktober 2015 vereinbarten die Parteien, dass der Kläger in der Folgezeit als selbstständiger Dienstnehmer für die Beklagte tätig werden sollte. Mit seiner im August 2019 erhobenen Klage machte der Kläger u.a. Urlaubsabgeltung aus seiner Beschäftigungszeit vor der Vertragsänderung geltend. Die Beklagte erhob die Verjährungseinrede.
 
Nachdem die Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, legte der Kläger Revision vor dem BAG ein.
 
Entscheidung
 
Die Revision des Klägers vor dem BAG hatte Erfolg, soweit es um die Urlaubsabgeltung für die Jahre 2010 bis 2014 ging. Im Hinblick auf die Urlaubsabgeltung für das Jahr 2015 blieb die Revision dagegen erfolglos.

Zur Begründung führte das BAG ausweislich der Pressemitteilung wie folgt aus:

Der Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegt der Verjährung. Grundsätzlich beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren für den Urlaubsabgeltungsanspruch mit dem Ende des Jahres, in dem das Arbeitsverhältnis beendet wurde.

Anders als der Beginn der Verjährungsfrist für den Urlaubsanspruch (BAG, Urteil vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 266/20) hängt der Beginn der Verjährungsfrist für den Urlaubsabgeltungsanspruch nicht von der Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ab.

Der Hintergrund für diese Differenzierung ist wie folgt: Die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellt eine Zäsur dar. Anders als der Urlaubsanspruch ist der Urlaubsabgeltungsanspruch nicht auf die Freistellung von der Arbeitsleistungspflicht zu Erholungszwecken unter Fortzahlung der Vergütung gerichtet. Vielmehr ist der Urlaubsabgeltungsanspruch auf dessen finanzielle Kompensation beschränkt. Die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers, aus welcher der EuGH dessen Schutzbedürftigkeit bei der Inanspruchnahme von Urlaub ableitet, endet mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich des Beginns der Verjährungsfrist eine Besonderheit zu beachten: Zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers war der Senat noch von einem automatischen Verfall von Urlaubsansprüchen mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums unabhängig von der Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ausgegangen. Aufgrund seiner Rechtsunkenntnis war es dem Kläger bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses am 19. Oktober 2015 nicht zumutbar, seinen Urlaubsabgeltungsanspruch bzgl. des bis dahin nicht gewährten Urlaubs aus den Jahren 2010 bis 2014 im Wege einer Klage geltend zu machen. Erst nachdem der EuGH mit Urteil vom 6. November 2018 (C-684/16) neue Regeln für den Verfall von Urlaub vorgegeben hatte, konnte von dem Kläger erwartet werden, seinen Urlaubsabgeltungsanspruch des bis dahin nicht gewährten Urlaubs aus den Jahren 2010 bis 2014 gerichtlich durchzusetzen.

Zu diesem Ergebnis kommt das BAG im Wege einer verfassungs- und unionsrechtskonformen Anwendung der Verjährungsvorschriften. Nach Auffassung des BAG kann die Verjährungsfrist nicht beginnen, solange eine Erhebung der Klage aufgrund einer entgegenstehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung von dem Kläger nicht erwartet werden kann und diesem daher nicht zumutbar ist.
Unter Anwendung dieser Grundsätze war es dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 19. Oktober 2015 nicht zumutbar, seinen Urlaubsabgeltungsanspruch bzgl. des bis dahin nicht gewährten Urlaubs aus den Jahren 2010 bis 2014 im Wege einer Klage geltend zu machen.

Dagegen ist der Anspruch des Klägers auf Abgeltung von Urlaub aus dem Jahr 2015 verjährt. Insoweit musste der Kläger bereits auf Grundlage der früheren Rechtsprechung erkennen, dass die Beklagte Urlaub aus dem Jahr, in welchem das Arbeitsverhältnis endete, abzugelten hatte. Daher begann die dreijährige Verjährungsfrist Ende des Jahres 2015 und endete mit Ablauf des Jahres 2018. Die Klageerhebung erfolgte jedoch erst im Jahr 2019.
 
Bewertung
 
Erneut knüpft das BAG an eine Entscheidung des EuGH an und entwickelt das Urlaubsrecht weiter.
 
Sowohl der Urlaubsanspruch als auch der Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegen der Verjährung. Allerdings ist hinsichtlich des Beginns der Verjährungsfrist zu differenzieren: Anders als für den Beginn der Verjährungsfrist bezüglich des Urlaubsanspruches ist für den Beginn der Verjährungsfrist bezüglich des Urlaubsabgeltungsanspruches nicht entscheidend, ob der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten erfüllt hat.
 
Im vergangenen Jahr hatte das BAG geurteilt (Urteil vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 266/20), dass Urlaubsansprüche zwar verjähren können. Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt aber erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch informiert und ihn im Hinblick auf Verfallfristen aufgefordert hat, den Urlaub tatsächlich zu nehmen. Ist der Arbeitgeber diesen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen, kann der nicht erfüllte gesetzliche Urlaub aus möglicherweise mehreren Jahren im laufenden Arbeitsverhältnis weder nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen noch nach § 195 BGB verjähren. Daher ist der Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten.
 
Dies löste bei einigen Arbeitgebern Besorgnis aus. Sie rechneten mit einer Klagewelle wegen Urlaubsabgeltung aufgrund offener Urlaubsansprüche aus bereits beendeten Arbeitsverhältnissen. Dem ist das BAG nunmehr insofern entgegengetreten, als es klargestellt hat, dass der Beginn der Verjährungsfrist für den Urlaubsabgeltungsanspruch – anders als der Beginn der Verjährungsfrist für den Urlaubsanspruch – nicht von der Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers abhängt.
 
Vor diesem Hintergrund sollte der Arbeitgeber auch in Zukunft auf die Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten achten. Denn nur, wenn der Arbeitgeber diesen Obliegenheiten nachkommt und damit seinerseits das Erforderliche tut, um den Verfall des Urlaubs herbeizuführen, kann der Urlaubsanspruch verfallen. Damit minimiert der Arbeitgeber letztlich sein Risiko, den Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in erheblichem Umfang abgelten zu müssen.
 
Überdies hat das BAG in der hier besprochenen Entscheidung eine Besonderheit hinsichtlich des Beginns der Verjährungsfrist herausgearbeitet. Nach Auffassung des BAG kann bei einer verfassungs- und unionsrechtskonformen Anwendung der Verjährungsvorschriften die Verjährungsfrist nicht beginnen, solange eine Erhebung der Klage aufgrund einer entgegenstehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung dem Kläger nicht zumutbar ist.
 
Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH seine Rechtsprechung auch für den Urlaubsabgeltungsanspruch noch weiter konkretisieren und das BAG auch dann entsprechend nachziehen wird.
Davia Vijesh Kumar, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg
 
 
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Annahmeverzugsansprüche: Indizien für die Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Erwerbs
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.09.2022 – 6 Sa 280/22
 
Das LAG Berlin-Brandenburg füllt im vorliegenden Urteil die zutreffende Entscheidung des BAG, Urteil vom 27.05.2020 – 5 AZR 387/19, mit Leben und gibt dem Arbeitgeber ein Bündel an möglichen Indizien an der Hand, die dafür streiten können, dass Annahmeverzugsansprüche eines gekündigten Arbeitnehmers unbegründet sind. Diese und ähnliche gleichlaufende unterinstanzliche Entscheidungen haben das Potential, etwaige Kündigungserwägungen von Arbeitgebern zu befeuern und die Vorzeichen von etwaigen Abfindungsverhandlungen zu verschieben.
 
Sachverhalt und erstinstanzliche Entscheidung
Die Parteien streiten nach rechtskräftig abgeschlossenen Kündigungsschutzverfahren auszugsweise über Annahmeverzugsansprüche für den Zeitraum Mai 2017 bis einschließlich April 2021.
 
Der Kläger obsiegte rechtskräftig mit seinen Klagen gegen zwei fristlose, hilfsweise fristgerecht ausgesprochene Kündigungen (vom 4. Mai 2017 sowie vom 19. Juni 2019). Die Beklagte beschäftigt den Kläger zwischenzeitlich wieder.
 
Der Kläger erhielt im streitgegenständlichen Zeitraum zunächst Arbeitslosengeld und im Anschluss Arbeitslosengeld II. In den Jahren 2017 bis 2021 unterbreitete die Bundesagentur für Arbeit dem Kläger insgesamt 23 Vermittlungsvorschläge. Der Kläger erzielte während des streitgegenständlichen Zeitraums keinen Zwischenverdienst.
 
Der Kläger behauptet, seit Oktober 2018 insgesamt 104 Bewerbungen auf Offerten der Bundesagentur für Arbeit hin versandt zu haben. Beigefügt habe er das Zeugnis seines einzigen Vorarbeitgebers und einen Lebenslauf; der Bewerbungstext habe bis auf eine Ausnahme jeweils gleich gelautet. Er habe 75 Absagen und in 29 Fällen keine Reaktion erhalten. Die Beklagte ist Annahmeverzugsansprüchen mit dem Einwand böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes entgegengetreten. Sie ist der Auffassung, ihr stünden Auskunftsansprüche gegen den Kläger auch bezogen auf seine eigenen Erwerbsbemühungen zu.
 
Das Arbeitsgericht folgte der Argumentation der Beklagten. Die Zahlungsanträge seien unbegründet. Annahmeverzugsansprüchen des Klägers stehe § 615 S. 2 BGB entgegen, weil der Kläger anderen Erwerb böswillig unterlassen habe.
 
Die Entscheidung
Hiergegen legte der Kläger Berufung ein. Auch das LAG Berlin-Brandenburg ist der Auffassung, dass die auf Annahmeverzug gerichteten Zahlungsansprüche zutreffend abgewiesen worden seien, weil diese unbegründet sind.
 
Der Anspruch belaufe sich gemäß § 11 S. 1 Nr. 2 KSchG / § 615 S. 2 letzte Alternative BGB wegen böswilligen Unterlassens der Annahme zumutbarer Arbeit der Höhe nach auf null. Die genannten Normen stellten darauf ab, ob dem Arbeitnehmer die Aufnahme einer anderweitigen Arbeit zumutbar ist. Aus § 11 S. 1 Nr. 2 KSchG könne nicht abgeleitet werden, der Arbeitnehmer dürfe in jedem Falle ein zumutbares Angebot abwarten. Biete sich dem Arbeitnehmer eine realistische Arbeitsmöglichkeit und gehe es nicht um eine Arbeitsmöglichkeit bei der bisherigen Arbeitgeberin, dürfe der Arbeitnehmer nicht untätig bleiben.
 
Die Arbeitgeberin trage für die Einwendungen nach § 615 S. 2 BGB / § 11 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 KSchG die Darlegungs- und Beweislast. Den Arbeitnehmer treffe eine sekundäre Darlegungslast, sich zu den von der Arbeitgeberin behaupteten Tatsachen zu erklären. Mit der erteilten Auskunft stehe nicht fest, dass der Arbeitnehmer es böswillig unterlassen hat, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Fordert der Arbeitnehmer Vergütung wegen Annahmeverzugs, habe die Arbeitgeberin gegen den Arbeitnehmer einen Auskunftsanspruch über die von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter unterbreiteten Vermittlungsvorschläge. Die Auskunft habe sich zu erstrecken auf die Vorschläge unter Nennung von Tätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsort und Vergütung. Nur wenn die Arbeitgeberin insofern Kenntnis habe, sei sie in der Lage, Indizien für die Zumutbarkeit der Arbeit und eine mögliche Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Erwerbs vorzutragen. Sodann obliege es im Wege abgestufter Darlegungs- und Beweislast am Arbeitnehmer, darzulegen, weshalb es nicht zu einem Vertragsschluss gekommen ist (BAG, Urteil vom 27.05.2020 – 5 AZR 387/19).
 
Zwar habe der Kläger vorliegend die ihm von der Bundesagentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter unterbreiteten Vermittlungsvorschläge mitgeteilt. Im vorliegenden Verfahren könne es zudem offen bleiben, ob sich seine Auskunftspflicht darüber hinaus auch auf Bemühungen aufgrund eigener Initiative erstreckt. Die Beklagte sei aber ihrer Darlegungslast nachgekommen und habe Indizien vorgetragen, aus denen sich die Zumutbarkeit der Arbeit und eine mögliche Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Erwerbs ergeben. Der Kläger habe sich schon nach seinem eigenen Vortrag lediglich auf drei der ihm unterbreiteten Vermittlungsvorschläge beworben. Auch mit den anderen, von der Bundesagentur bzw. dem Jobcenter benannten möglichen Arbeitgebern, habe der Kläger nach Überzeugung des Gerichts keinen Kontakt aufgenommen. Ferner hätte, so das LAG Berlin-Brandenburg, ein nachdrücklich an einer Beschäftigung interessierter Bewerber in den 29 Fällen, in denen der Kläger jedenfalls keine Absage erhalten habe, nach einigen Wochen nach dem Sachstand der Bewerbung fragen müssen. Zudem stelle auch die Anzahl der eigenen 103 Bewerbungen des Klägers ein Indiz im vorgenannten Sinne dar. Rechnerisch habe der Kläger noch nicht einmal eine Bewerbung pro Woche geschrieben, obwohl er im fraglichen Zeitraum ohne Arbeit war. Überdies sei die Qualität der verfassten Bewerbungen des Klägers ein weiteres Indiz. Die Bewerbungen seien ohne Betreff sowie weitgehend ohne individualisierte Anrede erfolgt. Zudem seien die Bewerbungen inhaltlich nicht an die zu besetzende Stelle und den angeschriebenen Arbeitgeber angepasst gewesen und wiesen auch noch sprachliche bzw. inhaltliche Unzulänglichkeiten auf. Diesen Indizien sei der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten.
 
Die Revision wurde nicht gesondert zugelassen.
 
Bewertung
Es häufen sich aus Arbeitgeberperspektive erfreuliche Entscheidungen zur Konkretisierung der abgestuften Darlegungs- und Beweislast im Nachgang der BAG-Entscheidung aus 2020 zur Auskunft hinsichtlich anderweitigen Erwerbs. Jüngst hat bspw. auch das ArbG Stuttgart mit Urteil vom 23.02.2023 – 25 Ca 956/22 klargestellt, dass wenn ein Arbeitnehmer seiner sekundären Darlegungslast nicht nachkommt, die Klage nicht nur als „zur Zeit“ unbegründet, sondern als „insgesamt“ unbegründet abzuweisen ist. Zutreffend wird hier darauf hingewiesen, dass die prozessuale Situation sich nicht von anderen Situationen einer sekundären Darlegungslast des Arbeitnehmers unterscheidet. So ist auch das vorliegende Urteil des LAG Berlin-Brandenburg zu verstehen. Das Annahmeverzugslohnrisiko kann sich vor diesem Hintergrund massiv zu Ungunsten von Arbeitnehmern verschieben. Arbeitgeber, die den Arbeitnehmer mit zumutbaren Stellenangeboten aus bspw. Online-Jobbörsen im Laufe eines Kündigungsschutzprozesses konfrontieren, können dazu ihr Übriges beitragen.
Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin
 
 
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März 2023

 
 
Frauen profitieren vom Verhandlungsgeschick der Männer!
BAG vom 16.02.2023, 8 AZR 450/21
 
Forderungen nach Entgeltgleichheit und Schließung des „Gender Pay Gap“ beschäftigen bereits seit längerer Zeit Wissenschaft und Praxis. Das Bundesarbeitsgericht hat nun mit einer aktuellen Entscheidung den Boden dafür bereitet, dass Frauen eine Gehaltsangleichung an die Vergütung vergleichbarer männlicher Kollegen verlangen können. Insbesondere wurde Arbeitgebern hierbei die Verteidigungslinie abgeschnitten, dass die Gehaltsdifferenzen allein im unterschiedlichen Verhandlungsgeschick begründet seien.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Streitgegenstand waren – unter Vereinfachung des auch tarifrechtlich geprägten Sachverhalts – Gehaltsdifferenzen insbesondere zwischen zwei vergleichbaren Beschäftigten, die der gleichen Tätigkeit nachgingen. Die Klägerin des hiesigen Verfahrens forderte unter Verweis auf die Bezahlung ihres männlichen Kollegen einen Ausgleich für Gehaltsunterschiede sowie dazu eine Entschädigung wegen geschlechtsbedingter Diskriminierung.
 
Die Tatsache, dass beide unterschiedliche Vergütung bezogen, war unstreitig; allerdings berief sich der Arbeitgeber darauf, dass der männliche Kollege für den Betrag, den die Klägerin erhielt, nicht zur Tätigkeitsaufnahme bereit gewesen war. Da er eine höhere Vergütung verlangt hatte und der Arbeitgeber ihn für sich gewinnen wollte, wurde ihm eine entsprechend höhere Vergütung zugesagt. Letztendlich machte der Arbeitgeber geltend, dass das höhere Gehalt schlicht darauf zurückzuführen sei, dass der männliche Kollege ein höheres Gehalt gefordert hatte, während das Geschlecht hierbei keine Rolle gespielt habe.
 
Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht hatten die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin führte überwiegend zum Erfolg.
 
Die Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht arbeitete unter Berücksichtigung der anwendbaren tariflichen Vorgaben heraus, in welchen Zeiträumen die geringere Vergütung der Klägerin eine Benachteiligung wegen ihres Geschlechts dargestellt habe. Es kam zu dem Ergebnis, dass ihr über längere Zeiträume ohne sachlichen Differenzierungsgrund ein unzulässig niedrigeres Grundentgelt gezahlt worden war als ihrem männlichen Kollegen.
 
Der Arbeitgeber konnte im Rahmen der ihm obliegenden Beweislast nach § 22 AGG den Verdacht der Benachteiligung des Geschlechts auch nicht unter Berufung darauf entkräften, dass das höhere Gehalt hier nicht an „den Mann“ ging, sondern an die Person mit dem größeren Verhandlungsgeschick.
 
Im Ergebnis erkannte das Bundesarbeitsgericht der Klägerin daher nicht nur gestützt auf Art. 157 AEUV und §§ 3 Abs. 1, 7 Entgelttransparenzgesetz einen Anspruch auf das gleiche Grundentgelt zu, sondern auch auf eine angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG infolge einer Benachteiligung wegen des Geschlechts.
 
Bewertung
Die praktischen Konsequenzen der Entscheidung lassen sich derzeit nur schwer absehen. Während das Ansinnen der Förderung einer Entgeltgleichheit zu begrüßen ist, stellt sich schon die Frage, wohin – konsequent zu Ende gedacht – dieser Ansatz führt. Wenn die These zugrunde liegt, dass es ein spezifisches Geschlecht gibt, welches „besser verhandelt“ als das andere, so kann die Angleichung nur in eine Richtung gehen. Konsequenterweise müsste dann jeweils der männliche Beschäftigte mit dem höchsten Einkommen (oder auch den dreistesten, aber erfolgreich durchgesetzten Forderungen) der Maßstab für alle weiblichen Beschäftigten sein, während andere männliche Beschäftigte mit unterdurchschnittlichem Einkommen sich werden entgegenhalten lassen müssen, dass sie halt „schlecht verhandelt“ hätten. Dies müsste demnach auch für Frauen im Vergleich zu forscher auftretenden anderen Frauen gelten. Es ist zwar nachvollziehbar, dass mit einem einfachen „der hat halt besser verhandelt“ jegliches Ansinnen der Entgeltgleichheit unterlaufen werden könnte, weil diese Erklärung im Ergebnis scheinbar immer passt. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Bundesarbeitsgericht hier dem Anliegen der Entgeltgleichheit nicht sogar einen Bärendienst erwiesen hat. Man darf insoweit auf die derzeit noch nicht vorliegenden Entscheidungsgründe gespannt sein und insbesondere auf die darin enthaltenen Ausführungen, welche Bedeutung der Grundsatz der Vertragsfreiheit noch hat.
 
Es spricht Einiges dafür, dass Arbeitgeber sich bei Einstellung hochpreisiger männlicher Beschäftigter fortan auch die Frage stellen müssen, ob diese zumindest alle vorhandenen vergleichbaren Frauen auf ihr Niveau „hochziehen“ werden und ob daher nicht von einer Einstellung eines zu teuren Kandidaten deshalb abgesehen werden sollte, weil die Folgekosten durch anderweitig ausgelöste Gehaltserhöhungen unüberschaubar werden. Im Zweifel könnten Arbeitgeber dazu neigen, dann lieber Frauen einzustellen und so letztlich Männer zu diskriminieren. In jedem Fall ist zu empfehlen, Gründe für Vergütungsunterschiede so zu dokumentieren, dass man sich gegen den Vorwurf einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung zur Wehr setzen kann.
 
Im Ergebnis wird die Entscheidung vermutlich ausreichend Begehrlichkeiten wecken, die zahlreiche Folgerechtsstreitigkeiten auslösen dürften. Die entscheidenden Regelungen des Entgelttransparenzgesetzes gelten unabhängig von der Größe des Betriebs oder Unternehmens. Die Konsequenzen der Entscheidung könnten die Praxis daher vor zahlreiche derzeit kaum prognostizierbare Schwierigkeiten stellen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B.Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg/Berlin

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Eine Kündigung kann man nicht „zurücknehmen“
LAG Thüringen vom 17.01.2023, 5 Sa 243/22
 
Nicht selten hört man in der Praxis – meist von Arbeitgebern – die Aussage, sie würden „die Kündigung zurücknehmen“. Während dies in einem Großteil der Fälle tatsächlich dazu führt, dass man sich letztlich auf eine Fortsetzung des bisherigen Arbeitsverhältnisses verständigt, bedarf es für eine solche Fortsetzung eben doch übereinstimmender Willenserklärungen. Fehlt das Korrelat des Vertragspartners, geht die „Kündigungsrücknahme“ ins Leere – wie ein Arbeitnehmer im vorliegenden Fall zu seinem Leidwesen erfahren musste.
 
Sachverhalt und Vorinstanz
Der Kläger hatte mit Schreiben vom 7. April 2021 gegenüber der Beklagten die Kündigung seines langjährigen Arbeitsverhältnisses „zum nächstmöglichen Zeitpunkt unter Einhaltung der vertraglich festgelegten Frist“ erklärt. Auslöser waren Differenzen hinsichtlich der Durchführung des Arbeitsverhältnisses, welche dann allerdings kurz darauf mit der zuständigen Werksleitung geklärt wurden. Dies veranlasste den Kläger, mit E-Mail vom 18. April 2021 gegenüber der Personalabteilung zu erklären, er „ziehe hiermit [seine] Kündigung vom 7.4.2021 zurück“. Er bat insoweit um Bestätigung, ob die Geschäftsleitung die Rücknahme akzeptiere. Am 21. April 2021 fragte er insoweit nochmals nach, ob sich die Geschäftsleitung zur Rücknahme der Kündigung geäußert habe, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.
 
Der Kläger ging weiter normal seiner Tätigkeit nach, bis er in einem Gespräch am 19. November 2021 zur Rückgabe seiner Arbeitsmittel aufgefordert und ihm Resturlaub erteilt wurde. Die Arbeitgeberin erklärte, dass es bei der durch die Kündigung ausgelösten Beendigung bleiben solle, die zum 30. November 2021 wirke. Nach diesem Stichtag nahm der Kläger noch einmal als Ersatzmitglied an einer Betriebsratssitzung teil.
 
In seiner auf Feststellung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses gerichteten Klage stellte sich der Kläger auf den Standpunkt, dass die Weiterarbeit zu einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses geführt habe, zumal er sich mit dem Werksleiter ja auch hinsichtlich der aufgetretenen Differenzen geeinigt und auf dieser Basis weitergearbeitet habe. Aus seiner Sicht hätte sonst im November das Arbeitsverhältnis bereits nicht mehr bestanden. Er berief sich insoweit auf eine vertragliche Regelung, die sowohl eine dreimonatige Quartalskündigungsfrist (Folge: Beendigung zum 30. September 2021) als auch die gesetzlichen Kündigungsfristen (Folge: Beendigung zum 30. November 2021) in Bezug genommen hatte. Darin sah er eine Unklarheit und damit letztendlich die Wiederbegründung eines Arbeitsverhältnisses, da die Weiterarbeit ab Oktober das insoweit anzunehmende Vertragsende überschritten habe. Darüber hinaus sei er auch nach dem von der Beklagten angenommen Beendigungsstichtag noch als Betriebsrat aktiv gewesen.
 
Das Arbeitsgericht folgte dem Kläger in keinem der genannten Punkte und wies die Klage ab.
 
Die Entscheidung
Das LAG Thüringen bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung, so dass die Kündigung des Arbeitnehmers Bestand hatte. Die Arbeitgeberin habe zu keiner Zeit – sei es ausdrücklich, sei es konkludent – die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erklärt. Allein die einseitige Erklärung des Arbeitnehmers genügte hier nicht.
 
Zunächst bedurfte es insoweit einer Klärung der anwendbaren Kündigungsfrist – hier empfand das LAG die entsprechende Klausel als hinreichend transparent und nicht benachteiligend; vielmehr sei im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs unzweifelhaft gewesen, dass die als „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ ausgesprochene Kündigung zum 30. November 2021 wirken würde.
 
Weiterhin stellt das LAG klar, dass eine reine Weiterbeschäftigung auch kein Grund gewesen wäre, eine unbefristete Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses anzunehmen – vielmehr müssten noch weitere Umstände hinzutreten, aus denen sich für einen objektiven Dritten aus dem Verhalten des Arbeitgebers ableiten lässt, dass dieser das Arbeitsverhältnis fortsetzen will. Dazu müsse auf Arbeitgeberseite auch das Bewusstsein bestehen, dass das Arbeitsverhältnis eigentlich beendet sei – davon sei jedoch gerade nicht auszugehen, weil die Arbeitgeberin insbesondere nicht von einem Beendigungszeitpunkt zum 30. September 2021 ausgegangen war.
 
Eine Ausräumung der Differenzen mit dem Werksleiter bedeute keine Fortsetzungsabsicht des Unternehmens, zumal es dem Werksleiter auch an einer Vertretungsbefugnis für das Unternehmen fehlte. Der Kläger konnte auch nichts aus seiner Teilnahme an einer Betriebsratssitzung herleiten, denn dies war nicht vom Willen der Arbeitgeberin getragen und das Verhalten des Betriebsratsvorsitzenden – Ladung zur Sitzung trotz Kenntnis der Beendigung –, insoweit nicht zurechenbar.
 
Bewertung
Die Entscheidung zeigt geradezu lehrbuchmäßig auf, auf welchen Wegen eine Kündigung grundsätzlich „aus der Welt geschafft“ werden kann – und auf welche Weise dies eben gerade nicht gelingt. Eine Kündigung ist als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung – wenn es keine anderweitig entgegenstehenden Gründe gibt – bereits mit ihrem Ausspruch wirksam. Eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erfordert daher eine neue Vereinbarung, die der Arbeitnehmer trotz mehrerer „kreativer“ Ansätze im vorliegenden Fall nicht konstruieren konnte. Es zeigt sich, dass der mit dem vor 20 Jahren eingeführten Schriftformgebot intendierte Übereilungsschutz noch immer nicht jeden vor vorschnellen Handlungen und deren Konsequenzen schützt.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B.Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg/Berlin

Februar 2023

 
 
Kein automatischer Verfall von Resturlaub – Konsequenzen für die Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des Arbeitgebers
 
BAG, Urteil vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 245/19
 
Hat der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet, bevor er aus gesundheitlichen Gründen seinen Urlaub nicht mehr nehmen konnte, verfällt sein Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub aus diesem Urlaubsjahr nur dann nach 15 Monaten, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
 
Der Kläger ist bei einer Flughafengesellschaft als Frachtfahrer im Geschäftsbereich Bodenverkehrsdienste beschäftigt. Er ist anerkannt als schwerbehinderter Mensch.
 
Im Zeitraum vom 1. Dezember 2014 bis mindestens August 2019 war der Kläger wegen voller Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Infolgedessen konnte er seinen Urlaub nicht nehmen.
 
Im Wege der Klage machte der Kläger u. a. Resturlaub aus dem Jahr 2014 geltend. Er war der Auffassung, der geltend gemachte Resturlaub sei nicht verfallen. Die Beklagte sei ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen.
 
Nachdem die Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, legte der Kläger Revision vor dem BAG ein.
 
Entscheidung
 
Die Revision des Klägers hatte hinsichtlich des Resturlaubs aus dem Jahr 2014 überwiegend Erfolg.
 
Grundsätzlich gilt, dass Urlaubsansprüche nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG) erlöschen, wenn der Arbeitgeber zuvor gegenüber dem Arbeitnehmer seine sog. Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten erfüllt und damit den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
 
Konnte der Arbeitnehmer seinen Urlaub aus gesundheitlichen Gründen nicht nehmen, so gingen nach bisheriger Rechtsprechung des BAG die gesetzlichen Urlaubsansprüche – bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit – ohne Weiteres mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres unter („15-Monatsfrist“).
 
Diese Rechtsprechung hat das BAG nun weiterentwickelt und damit einmal mehr aktuelle Vorgaben des EuGH (Urteil vom 22. September 2022 – C-518/20, C-727/20) umgesetzt.
 
Der Urlaubsanspruch verfalle weiterhin mit Ablauf der 15-Monatsfrist, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, seinen Urlaub anzutreten. Dies gelte unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nachgekommen ist. Die Erfüllung dieser Obliegenheiten durch den Arbeitgeber hätte schließlich nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs beitragen können.
 
Etwas anderes gelte jedoch, wenn der Arbeitnehmer – wie im vorliegenden Fall der Kläger – im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden ist. In dieser Fallkonstellation verfalle der Urlaubsanspruch nur dann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. Dies bedeutet also, dass es in dieser Fallkonstellation nicht zu einem Verfall des Urlaubsanspruchs komme, sofern der Arbeitgeber seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht erfüllt hat. Der Arbeitnehmer wäre bis zum Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit dazu imstande gewesen, den Urlaub zu nehmen. Hierzu hätte der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auffordern können und müssen.
 
Demnach konnte in dem der Entscheidung des BAG zugrundeliegenden Fall der für das Jahr 2014 im Umfang von 24 Arbeitstagen noch nicht erfüllte Urlaubsanspruch nicht allein deshalb mit Ablauf des 31. März 2016 erlöschen, weil der Kläger nach Eintritt seiner vollen Erwerbsminderung mindestens bis August 2019 aus gesundheitlichen Gründen außerstande war, seinen Urlaub anzutreten. Vielmehr blieb ihm der Resturlaub für dieses Jahr erhalten, denn die beklagte Flughafengesellschaft war ihren Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten bis zum 1. Dezember 2014 nicht nachgekommen, obwohl ihr dies möglich gewesen wäre.
 
Bewertung
 
Mit dieser Entscheidung hat das BAG seine Rechtsprechung zum Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs mit Blick auf die Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten weiterentwickelt. Die Entscheidung stärkt die Rechte der Arbeitnehmer, insbesondere im laufenden Arbeitsverhältnis. Ferner wird erneut deutlich, wie stark das Urlaubsrecht durch Unionsrecht geprägt ist.
 
Für den Arbeitgeber gilt es, seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten stets im Blick zu behalten, auch wenn dies für ihn mehr Bürokratie schafft.
 
Das BAG hat bereits aufgezeigt, wie der Arbeitgeber seine Obliegenheiten erfüllt (vgl. dazu BAG,  Urteil vom 19. Februar 2019 – 9 AZR 541/15 sowie BAG, Urteil vom 19. Februar 2019, Az. 9 AZR 423/16).
 
Konkret erfüllt der Arbeitgeber seine Obliegenheiten, wenn er dem Arbeitnehmer
 
  • zu Beginn des Kalenderjahres
  • zumindest in Textform mitteilt
  • wie viele Arbeitstage Urlaub ihm im Kalenderjahr zustehen,
  • ihn auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass dieser innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann und
  • ihn über die Konsequenzen belehrt, die eintreten, wenn er den Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragt.
 
Spätestens jetzt sollte ein regelmäßiger präziser Hinweis auf den Resturlaub zur Routine für jeden Arbeitgeber werden. Der Hinweis muss geeignet sein, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nehmen möchte. Nur wer diesen Nachweis erbringt, kann sich als Arbeitgeber im Streitfall auf den Verfall berufen.
 
Die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor. Ausgehend von der Pressemitteilung kann unter manchen Aspekten zunächst nur gemutmaßt werden, wie weitreichend die Konsequenzen für die Praxis ausfallen werden.
 
Es stellt sich die Frage, welche Anforderungen das BAG an das Kriterium „rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzen“ stellt. Im zugrundeliegenden Fall konnte der Kläger ab dem 1. Dezember 2014 seine Arbeitsleistung nicht mehr erbringen. In dieser Fallkonstellation lässt sich dem Arbeitgeber vermeintlich leicht der Vorwurf machen, dass er den Arbeitnehmer schon früher in die Lage hätte versetzen müssen, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. Fraglich erscheint aber, wie mit solchen Fällen umzugehen ist, in denen der Arbeitnehmer bspw. im März arbeitsunfähig erkrankt, eine Unterrichtung allerdings im Unternehmen regelmäßig erst später stattfindet. Offen bleibt auch, wie der Arbeitgeber den Arbeitnehmer überhaupt rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzen soll, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen – den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers kann der Arbeitgeber schließlich nicht vorhersehen. Es bleibt daher abzuwarten, ob und wie das BAG das Kriterium „rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzen“ in den Entscheidungsgründen konkretisieren wird.
 
Davia Vijesh Kumar, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg
 
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Berücksichtigung der Rentennähe bei der Sozialauswahl
 
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 6 AZR 31/22
 
Die Durchführung der ordnungsgemäßen Sozialauswahl im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung ist in der Praxis nach wie vor fehleranfällig und nicht selten liegt das Hauptaugenmerk bei genau dieser Frage zur Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung. Dabei richtet sich der Fokus häufig auf das Lebensalter der betroffenen Arbeitnehmer als eines der in § 1 Abs. 3 KSchG genannten Kriterien. Hier gilt oftmals der Grundsatz, dass jüngere Mitarbeiter prinzipiell weniger schutzwürdig und folglich eher von einer betriebsbedingten Kündigung betroffen sind.
 
Doch ganz so trivial ist es nicht. Vielmehr hat das Bundesarbeitsgericht jüngst entschieden, dass das Lebensalter im Rahmen der Sozialauswahl ein „ambivalentes“ Kriterium darstelle und nicht nur eine bestehende Rentenberechtigung, sondern auch bereits eine Rentennähe zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden könne.
 
Sachverhalt
Die 1957 geborene Klägerin war seit 1972 bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt. Zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Kündigung, die das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2020 beenden sollte, war die Klägerin 63 Jahre alt und hatte die Möglichkeit, ab dem 1. Dezember 2020 eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte (§§ 38, 236b SGB VI)zu beziehen.
 
Der Kündigung vorausgegangen war ein zwischen dem Insolvenzverwalter der Arbeitgeberin und dem Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah und auch die Klägerin aufführte.
 
Die Klägerin hielt die Kündigung auch im Hinblick auf die Sozialauswahl für unwirksam. Der beklagte Insolvenzverwalter hingegen war der Auffassung, dass die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe - auch in Bezug auf einen von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen - sozial am wenigsten schutzwürdig sei, da sie zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine abschlagsfreie Altersrente beziehen könne.
 
Die Vorinstanzen befanden die streitgegenständliche Kündigung für unwirksam, da sowohl die Auswahlentscheidung als auch das Auswahlergebnis hinsichtlich des Kriteriums „Lebensalter“ grob fehlerhaft gewesen sei.
 
Entscheidung
Das BAG hielt die streitgegenständliche Kündigung im Ergebnis zwar ebenfalls für unwirksam. Allerdings sei die Berücksichtigung der Rentennähe der Klägerin im Rahmen der Sozialauswahl entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ordnungsgemäß gewesen. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ sei nämlich ambivalent: Zunächst nehme die soziale Schutzbedürftigkeit mit steigendem Lebensalter zu, weil ältere Arbeitnehmer typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Verfüge der Arbeitnehmer aber über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters oder könne eine solche spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses in Anspruch nehmen, reduziere sich die Schutzbedürftigkeit wieder, weshalb der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien dies bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ im Rahmen ihres Wertungsspielraums zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen könnten. Eine Ausnahme macht das BAG hier lediglich bei der Bezugsberechtigung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – diese dürfe nicht zu Lasten des Arbeitnehmers gewertet werden.
 
Dennoch sei die gegenständliche Kündigung unwirksam, da bei der Auswahl der Klägerin allein auf ihre Rentennähe abgestellt worden sei und die anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ unberücksichtigt geblieben seien, weshalb die Sozialauswahl grob fehlerhaft gewesen sei.
 
Bewertung
Das BAG hat bereits mit Urteil vom 27. April 2017, Az. 2 AZR 67/16, entschieden, dass die Berechtigung zum Bezug einer Regelaltersrente im Rahmen der Sozialauswahl zu einer geringeren Schutzbedürftigkeit gegenüber Arbeitnehmern führt, die noch keine Altersrente beanspruchen können.
 
Nunmehr weitet das BAG diese Rechtsprechung auch auf solche Arbeitnehmer aus, die rentennah sind oder eine vorgezogene Altersrente abschlagsfrei beziehen können. Es konkretisiert damit den dem Arbeitgeber nach § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO zustehenden Wertungsspielraum. Der vom BAG für die Rentennähe bestimmte Zeitraum von zwei Jahren ist durchaus großzügig bemessen und dürfte mit der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I korrelieren, die für Personen, die 58 Jahre und älter sind, 24 Monate beträgt.
 
Dennoch können sich Arbeitgeber nicht allein auf die Rentennähe eines zu kündigenden Arbeitnehmers als Auswahlkriterium stützen, sondern müssen bei der Sozialauswahl gleichwohl die weitere Kriterien der Unterhaltspflichten, der – bei älteren Arbeitnehmern regelmäßig beachtlichen – Betriebszugehörigkeit und eine gegebenenfalls vorliegende Schwerbehinderteneigenschaft berücksichtigen.
 
Amelie Rothe, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
 
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Januar 2023



Verfallsklausen – Transparenzgebot ersetzt nicht gesunden Menschenverstand
BAG, Urteil vom 24.05.2022 – 9 AZR 461/21
 
Ausschlussfristen, nach denen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer bestimmten Frist nach Fälligkeit verfallen, sind in Arbeitsverträgen weit verbreitet. Die Frage der Wirksamkeit solcher Klauseln nach einer AGB-Kontrolle, insbesondere mit Blick auf das Transparenzgebot, hat zu einer Fülle an höchstrichterlicher Judikatur geführt. Während einige Entscheidungen wegen ihres strengen Maßstabes für Verunsicherung und auch Unmut auf Arbeitgeberseite geführt haben, behandelt die vorliegende Entscheidung den Arbeitnehmer als mündigen Bürger und zeigt erfreulicherweise auf, dass auch unter dem Gesichtspunkt des Transparenzgebotes nicht jede denkbare Fallkonstellation einer ausdrücklichen Ausnahme von der Ausschlussfrist bedarf. Das BAG beseitigt mit der Entscheidung auch Unsicherheiten, die nach seiner Entscheidung im Urteil vom 03.12.2019 – 9 AZR 44/19 entstanden waren. ? 
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Gegenstand des Rechtsstreits war eine Klage auf Urlaubsabgeltung, die eine gekündigte Arbeitnehmerin gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin geltend machte.
 
Der Arbeitsvertrag der Arbeitnehmerin enthielt die folgende, zweistufige Ausschlussfrist:
 
„Alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit gegenüber dem Vertragspartner in Textform geltend gemacht werden und im Falle einer Ablehnung durch den Vertragspartner innerhalb von weiteren drei Monaten eingeklagt werden. Hiervon unberührt bleiben Ansprüche, die auf Handlungen wegen Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhen. Die Ausschlussfrist gilt nicht für den Anspruch des Arbeitnehmers/in auf den gesetzlichen Mindestlohn. Über den Mindestlohn hinausgehende Vergütungsansprüche des Arbeitnehmers unterliegen hingegen der vereinbarten Ausschlussfrist.
 
Bleibt die Geltendmachung erfolglos, erlöschen sie, wenn der Anspruch nicht innerhalb einer weiteren Frist von drei Monaten nach der schriftlichen Geltendmachung gerichtlich anhängig gemacht wird.“
 
Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien war durch Kündigung zum 19. Juli 2019 beendet worden. Erstmals mit Klage vom 16. Januar 2020 verlangte die Arbeitnehmerin Urlaubsabgeltung. Ihre Ansprüche seien nicht nach der Ausschlussfrist verfallen. Mit zahlreichen Angriffspunkten machte die Arbeitnehmerin geltend, die Ausschlussfrist in ihrem Arbeitsvertrag sei intransparent und damit unwirksam. Das ArbG Mannheim (Urteil vom 09.11.2020 – 11 Ca 22/20) hielt die Klausel dagegen für wirksam und die Ansprüche für verfallen, die Klage wurde abgewiesen. Das LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 24.08.2021 – 19 Sa 7/21) schloss sich der Auffassung des ArbG Mannheim an und hielt die vorgebrachten Anhaltspunkte ebenfalls für unbeachtlich. Insbesondere sei entgegen der Auffassung der Klägerin die Klausel auch nicht deshalb intransparent und unwirksam, weil in der Ausnahmeregelung im zweiten Satz Ansprüche, deren Erfüllung die Arbeitgeberin zugesagt, anerkannt oder streitlos gestellt hat, nicht ausdrücklich Erwähnung finden. Gegenteiliges lasse sich auch aus der Entscheidung des BAG, Urteil vom 03.12.2019 – 9 AZR 44/19 nicht lesen.
 
Entscheidung
Auch das BAG hat die Klausel als nicht intransparent angesehen und die zahlreichen vorgebrachten Angriffspunkte verworfen. Zunächst stellt das BAG klar, dass die Klausel nicht deshalb unwirksam ist, weil sie Schäden aus der Verletzung der Lebens, des Körpers oder der Gesundheit, die auf einer fahrlässigen Pflichtverletzung beruhen, entgegen § 309 Nr. 7 a) BGB nicht ausdrücklich von dem Verfall ausnimmt und bestätigt damit die bereits mit dem Urteil vom 22.10.2019 – 9 AZR 532/18) eingeschlagene Linie. Weiter führt das BAG grundlegend zum Transparenzgebot aus und verdeutlicht, dass bei der Beurteilung, ob eine Regelung dem Transparenzgebot genüge, auf einen „aufmerksamen und sorgfältigen Teilnehmer im Wirtschaftsverkehr“ abzustellen sei. Es bedürfe nicht jede denkbare Fallkonstellation einer ausdrücklichen Ausnahme von der Ausschlussfrist. Vielmehr seien allzu detaillierte Regelungen wiederum unübersichtlich und damit nicht interessengerecht. Vor diesem Hintergrund sei die Klausel entgegen der Auffassung der Klägerin nicht deshalb intransparent, weil in der Ausnahmeregelung zugesagte, anerkannte oder streitlos gestellte Ansprüche nicht ausdrücklich erwähnt sind. Es bedürfte insoweit keiner Klarstellung, dass ein Gläubiger seine Ansprüche nicht innerhalb der Ausschlussfrist geltend machen muss, wenn der Schuldner hierauf verzichtet. Die Klausel sei auch nicht deshalb intransparent, weil die Haftung für Schäden, die auf vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung eines gesetzlichen Vertreters beruhen, nicht ausdrücklich ausgenommen sei. Durch die Ausnahme der vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Pflichtverletzung im Allgemeinen sei dem sorgfältigen Leser bewusst, dass das Eintreten für Erfüllungsgehilfen mit umfasst sei. Die Ausschlussklausel sei außerdem auch nicht deshalb intransparent, weil sie Urlaubsansprüche im bestehenden Arbeitsverhältnis nicht ausdrücklich ausnehme. Es sei selbsterklärend, dass der Anspruch auf den Jahresurlaub im laufenden Arbeitsverhältnis nicht lediglich innerhalb der ersten drei Monate des Jahres geltend gemacht werden könne. Die Ausschlussfrist sei schließlich auch nicht deshalb intransparent, weil Ansprüche aus einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht in der Ausnahme genannt sind – dies allerdings schon deshalb, weil solche Ansprüche einer Ausschlussfrist unterfallen, wie das BAG (die Vorinstanz hatte dies offen gelassen) klarstellte.
 
Bewertung
Die Entscheidung ist aus Arbeitgebersicht zu begrüßen. Während sich inzwischen wohl herumgesprochen haben dürfte, dass Ansprüche auf Mindestlohn sowie Ansprüche wegen Vorsatz und grober Fahrlässigkeit explizit aus dem Anwendungsbereich von Ausschlussklauseln herauszunehmen sind, bestand hinsichtlich zahlreicher weiterer unverzichtbarer Ansprüche stets Unsicherheit, inwieweit eine Herausnahme „expressis verbis“ erforderlich ist. Umso erfreulicher ist die erfrischend deutliche Klarstellung des BAG, dass es sich bei einem Arbeitnehmer um einen mündigen Bürger mit gesundem Menschenverstand handelt, der nicht auch auf noch so Offensichtliches hinzuweisen ist.
 
Auch beseitigt das BAG mit der Entscheidung Unsicherheiten, die seit dem Urteil vom 03.12.2019 – 9 AZR 44/19 (vgl. die Besprechung der Verfasserin in der Ausgabe Juni/2020) bestanden hatten. In dieser Entscheidung hatte das BAG eine – zugegeben höchst unglückliche – Formulierung einer Ausschlussfrist in äußerst strenger Anwendung des Transparenzgebotes dahin gedeutet, dass von der dortigen Ausschlussfrist auch solche Ansprüche umfasst seien, die bereits anerkannt oder streitlos gestellt worden waren. Mit der hiesigen Entscheidung ist nunmehr zumindest klargestellt, dass diese strenge Anwendung des Transparenzgebotes aber nicht so weit geht, dass anerkannte oder streitlos gestellte Ansprüche auch ausdrücklich von der Anwendung der Ausschlussfrist auszunehmen sind.
 
Trotz der insoweit erfolgten Klarstellung sind Arbeitgeber auch weiterhin gut beraten, die Rechtsprechung zu Ausschlussklauseln genau zu verfolgen und die verwendeten Klauseln regelmäßig überprüfen zu lassen.
 
Janine Gebhart, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
 
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Aufhebungsverträge und das Gebot des fairen Verhandelns - Schadensersatz in Form der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses?
Arbeitsgericht Heilbronn, Urteil vom 18. Mai 2022 – 2 Ca 60/22
 
Der Abschluss von Aufhebungsverträgen stellt grundsätzlich ein valides Mittel zur rechtssicheren und einvernehmlichen Beendigung von Arbeitsverhältnissen dar. Nachdem das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2019 erstmals das Gebot des fairen Verhandelns in Bezug auf den Abschluss von Aufhebungsverträgen aufstellte, kam es teils zu Verunsicherungen. Wohl aus diesem Grund schränkte das Bundesarbeitsgericht mit seiner Entscheidung aus 2022 den Anwendungsbereich des Gebots des fairen Verhandelns erheblich ein. Das Bundesarbeitsgericht hielt es nicht mehr für erforderlich, Arbeitnehmern eine Bedenkzeit zum Abschluss eines Aufhebungsvertrags einzuräumen.
 
Das Arbeitsgericht Heilbronn stellte sich nun ausdrücklich gegen das neuste Urteil des Bundesarbeitsgerichts und führte besondere Anhaltspunkte an, die Arbeitgeber dennoch beachten müssen. Im konkreten Fall durfte der Arbeitgeber die „psychischen Schwächen“ des Arbeitnehmers nicht ausnutzen und hätte diesem eine Bedenkzeit einräumen müssen.
 
Sachverhalt
Der Kläger war bei der beklagten Arbeitgeberin seit dem 26. August 1985 als Mitarbeiter mit dem Trennen von Kabeln bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von zuletzt 30 Stunden beschäftigt. Der Kläger hatte lediglich die Sonderschule besucht; eine Ausbildung hatte er nicht abschließen können. Auch besitzt er keinen Führerschein. Der Intelligenzquotient des Klägers ist weit unterdurchschnittlich.
 
Am 18. Februar 2022 suchte der Prokurist und Betriebsleiter der Beklagten den Kläger um kurz vor 11:00 Uhr an dessen Arbeitsplatz auf und bat ihn, in einer Viertelstunde in das Büro zu kommen. Gründe für das Personalgespräch nannte er hierbei nicht. Der Kläger leistete dieser Aufforderung Folge. Zu dem Gespräch brachte der Prokurist und Betriebsleiter der Beklagten zwei Schriftstücke mit. Hierbei handelte es sich um eine durch die Beklagte bereits unterschriebene Abmahnung, datiert auf den 15. Februar 2022, und einen durch die Beklagte ebenfalls bereits unterschriebenen Aufhebungsvertrag, datiert auf den 18. Februar 2022. Das folgende Gespräch dauerte ca. eine halbe Stunde. Zum Ende des Gesprächs übergab der Prokurist und Betriebsleiter der Beklagten dem Kläger einen Kugelschreiber, woraufhin der Kläger die Empfangsbestätigung betreffend die streitgegenständliche Abmahnung und den Aufhebungsvertrag vom 18. Februar 2022 unterzeichnete. Zuvor las der Kläger die Schriftstücke nicht durch, da er bis zum regulären Ende der Arbeitszeit weiterarbeiten wollte.
 
Gegenstand der Abmahnung waren zwei Vorfälle vom 21. Januar 2022 und 28. Januar 2022. An beiden Tagen war der Kläger nicht zur Arbeit erschienen, wobei er sich am 28. Januar 2022 auch nicht abgemeldet hate. Laut Aufhebungsvertrag sollte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022 enden – was einer um vier Monate verkürzten Kündigungsfrist entsprach. Eine Verpflichtung zur Zahlung einer Abfindung enthielt der Aufhebungsvertag nicht. Nach der Unterzeichnung des Aufhebungsvertrages arbeitete der Kläger noch bis zum planmäßigen Schichtende um 12:00 Uhr weiter.
 
Noch am gleichen Tag erzählte der Kläger seiner Schwester, dass er eine Kündigung erhalten habe. Die Schwester stellte nach Durchsicht der Unterlagen fest, dass der Kläger keine Kündigung erhalten, sondern einen Aufhebungsvertrag unterschrieben hatte. Daraufhin organisierte die Schwester einen Anwaltstermin für den 24. Februar 2022, welchen der Kläger abends nach Beendigung seiner Arbeit wahrnahm. Mit anwaltlichem Schreiben vom 25. Februar 2022 focht der Kläger den Aufhebungsvertrag unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten an.
 
Der genaue Gesprächsverlauf am 18. Februar 2022 war zwischen den Parteien bis zuletzt streitig. Der Kläger trug vor, dass ihm der Aufhebungsvertrag als Kündigung vermittelt worden sei („Da hasch die Kündigung. Am 31. Mai isch Schluss. So lang kansch noch schaffe.“). Weiter sei ihm – so der Kläger – der Kugelscheiber mit den Worten „da unterschreib.“ überreicht worden. Die Beklagte stellte den Verlauf dagegen so dar, dass dem Kläger der Inhalt des Aufhebungsvertrags genau erläutert worden sei. Dass es sich um eine Kündigung handelte, sei nicht behauptet worden. Auch wurde die Aufforderung zur Unterzeichnung des Dokuments von der Beklagten bestritten.
 
Entscheidung
Das Arbeitsgericht Heilbronn gab dem Kläger im Ergebnis Recht. Das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis wurde nicht durch den Aufhebungsvertrag vom 18. Februar 2022 zum 31. Mai 2022 aufgelöst. Zur Begründung stützte sich das Arbeitsgericht auf einen schuldhaften Verstoß der Beklagten gegen das Gebot des fairen Verhandelns, was zu einer Rechtsunwirksamkeit des Aufhebungsvertrages und damit zu einer Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages zu unveränderten Bedingungen führte.
 
Die Kammer ist der Auffassung, dass die Beklagte vorliegend die psychische Schwäche des Klägers ausgenutzt hat, um zum Abschluss des Aufhebungsvertrages zu gelangen. Die den Abschluss des Aufhebungsvertrags begleitenden Umstände, die Sozialdaten des Klägers und seine psychische Konstitution führten dazu, dass die Beklagte in der vorliegenden Konstellation den Kläger zumindest hätte darauf hinweisen müssen, dass er berechtigt ist, den Abschluss des Aufhebungsvertrages außerhalb der Räumlichkeiten der Beklagten für eine gewisse Zeit nochmals zu überdenken. Dies hätte dem Kläger auch die Möglichkeit eröffnet, ihm nahestehende Außenstehende bezüglich des Entwurfs und seiner Unterzeichnung um Hilfe zu bitten.
 
Des Weiteren berücksichtigte die Kammer auch die Begleitumstände des Zustandekommens des streitgegenständlichen Aufhebungsvertrags. So wirkte sich für die Beklagte negativ aus, dass dem Kläger zusammen mit dem bereits unterschriebenen Aufhebungsvertrag eine Abmahnung übergeben wurde, deren Empfang der Kläger durch seine Unterschrift bestätigte. Dabei hat die Beklagte durch die Abmahnung der Vorfälle im Januar signalisiert, dass sie diese nicht mehr für kündigungsrechtlich relevant hält. Die Kammer konnte somit nicht nachvollziehen, warum dem Kläger gemeinsam mit der Abmahnung ein Aufhebungsvertrag, welcher die Kündigungsfrist des Klägers zudem noch um vier Monate verkürzt, ausgehändigt wurde. Hätte die beklagte Arbeitgeberin die Vorfälle für kündigungsrechtlich relevant gehalten, wäre das Angebot eines Aufhebungsvertrages, ohne die Aushändigung einer Abmahnung, oder der Ausspruch einer Kündigung die logische Folge gewesen. Die Kammer deutete das gewählte Verhalten als bewusstes Ausnutzen der fehlenden intellektuellen Fähigkeiten des Klägers.
 
Im Ergebnis führte der Verstoß gegen das Gebot des fairen Verhandelns nach der Ansicht des Arbeitsgerichts Heilbronn zu einer Rechtsunwirksamkeit des Aufhebungsvertrages und damit zu einer Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages zu unveränderten Bedingungen.
 
Bewertung
Das Arbeitsgericht stellte sich damit ausdrücklich gegen die neuste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 24. Februar 2022 - 6 AZR 333/21), wonach es mit Rücksicht auf das Gebot des fairen Verhandelns unschädlich ist, wenn dem Arbeitnehmer keine Bedenkzeit zur Unterschrift eines Aufhebungsvertrags eingeräumt wurde. In dem dort zu Grunde liegenden Sachverhalt war es darüber hinaus unschädlich, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor die Wahl zwischen zwei Optionen – außerordentliche Kündigung oder Aufhebungsvertrag – gestellt hatte. Ebenso hielt es das Bundesarbeitsgericht für tragbar, dass dem Arbeitnehmer die Erstattung einer Strafanzeige für den Fall des Nichtabschlusses eines Aufhebungsvertrags in Aussicht gestellt worden war.
 
Das Arbeitsgericht Heilbronn gelangte hingegen zu der Auffassung, dass der Arbeitgeber in besonderen Fallkonstellationen gehalten sein kann, dem Arbeitnehmer nach der Unterbreitung eines Aufhebungsvertrages eine Bedenkzeit einzuräumen, um nicht gegen das Gebot des fairen Verhandelns zu verstoßen. Besondere Fallkonstellationen können sich laut Arbeitsgericht Heilbronn etwa durch die Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers, die Dauer eines störungsfreien Verlaufs des Arbeitsverhältnisses sowie die psychische und körperliche Konstitution des Arbeitnehmers ergeben.
 
Arbeitgeber können sich – trotz des Urteils des Arbeitsgerichts Heilbronn – in der Regel auch weiterhin auf die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätze verlassen. Ist ein vermeintliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers Auslöser für die Vorlage eines Aufhebungsvertrags und kann das Verhalten des Arbeitnehmers dem Grunde nach eine Kündigung rechtfertigen, ist es möglich, den Arbeitnehmer vor die Wahl zwischen außerordentlicher Kündigung oder Aufhebungsvertrag zu stellen. Um jegliche Angriffsfläche in Bezug auf das Gebot des fairen Verhandelns zu nehmen, empfiehlt es sich dennoch, dem Arbeitnehmer in Zweifelsfällen eine kurze Bedenkzeit einzuräumen. Denn auch das Bundesarbeitsgericht stellt stets auf den jeweiligen Einzelfall ab.
 
Christian Böhm, Rechtsanwalt, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München
  
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Dezember 2022



Die unendliche Geschichte der Ansammlung von Urlaubsansprüchen?
EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C-120/21
 
Die Abgeltung von Urlaubsansprüchen kann für Arbeitgeber am Ende eines Arbeitsverhältnisses oft noch einmal für ein böses Erwachen sorgen. Gerade wenn dem Urlaub im laufenden Arbeitsverhältnis wenig Beachtung geschenkt wurde, kann sich schnell bei der Beendigung eine hohe Summe anhäufen. Die im deutschen Recht geltende regelmäßige Verjährung von Ansprüchen innerhalb von drei Jahren konnte hier bisher eine gewisse Eindämmung bieten. Nun hat der EuGH eine solche Einschränkung jedoch ganz klar an die Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit des Arbeitgebers geknüpft, den Arbeitnehmer auf das Bestehen seines Urlaubsanspruches hinzuweisen.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Ausgangssachverhalt war dem EuGH vom BAG vorgelegt worden. Eine von 1996 bis 2017 bei der Arbeitgeberin beschäftigte Arbeitnehmerin begehrte nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses die Abgeltung von 101 Tagen nicht genommenen Jahresurlaubs aus den Jahren 2013 bis 2017. Die Arbeitgeberin hatte zuvor nicht im Rahmen ihrer Informations- und Unterrichtungsobliegenheit auf die Urlaubsgewährung hingewiesen.
 
In erster Instanz gewährte das ArbG Solingen der Arbeitnehmerin lediglich die Urlaubsabgeltung für die Tage aus dem Jahr 2017 und wies die übrigen Urlaubsansprüche aufgrund der von der Beklagten geltend gemachten Einrede der Verjährung aus §§ 194 ff. BGB zurück. Das LAG Düsseldorf hingegen gab der Arbeitnehmerin in zweiter Instanz vollumfänglich Recht. Das daraufhin damit befasste BAG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 II EU-Grundrechtecharta der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 I i.V.m. § 195 BGB entgegenstehe, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt habe, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Art. 7 RL 2003/88/EG als Konkretisierung des Art. 31 II EU-Grundrechtecharta sieht die Sicherstellung eines mindestens vierwöchigen Jahresurlaubs durch die Mitgliedsstaaten vor.
 
Entscheidung
Der EuGH sah hier durch die Verjährungsvorschriften in §§ 194 ff. BGB das in Art. 7 RL 2003/88/EG konkretisierte und in Art. 31 II EU-Grundrechtecharta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub verletzt. Als Grundsatz des Sozialrechts der Union komme diesem Anspruch besondere Bedeutung zu. Die strikte Anwendung des deutschen Verjährungsrechtes habe jedoch zur Folge, dass die unionsrechtlich gewährten Grundrechte einer Einschränkung unterliegen würden. Eine solche müsse an den strengen Bedingungen der Einschränkungsmöglichkeit in der Grundrechtecharta gemessen werden.
 
Zwar schränke eine nationale Verjährungsregelung, welche die Modalitäten des Urlaubsanspruches regele, nicht grundsätzlich den Wesensgehalt des unionsrechtlichen Urlaubsanspruches ein. Dies gelte aber nur, sofern die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer in die Lage versetzt habe, diesen Anspruch auch tatsächlich wahrzunehmen. Der EuGH machte hier deutlich, dass zwar nicht zu verkennen sei, dass auch die Arbeitgeberin ein berechtigtes Interesse daran haben könne, mit keiner unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen konfrontiert zu werden, der Arbeitnehmer als schwächere Partei jedoch nicht allein für die tatsächliche Wahrnehmung des Jahresurlaubsanspruches verantwortlich sein dürfe. Diese Situation sei nicht vergleichbar mit der Ansammlung von Urlaubsansprüchen aufgrund längerer Krankheit des Arbeitnehmers. In diesem Fall sei ein berechtigtes Interesse der Arbeitgeberin an einer Begrenzung von Urlaubsansprüchen anzuerkennen, auch im Hinblick auf die Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation.
 
Daher dürfe der Anspruch auf Jahresurlaub durch nationale Verjährungsregelungen nur verloren gehen, wenn der betroffene Arbeitnehmer tatsächlich durch Aufklärung seitens der Arbeitgeberin die Möglichkeit hatte, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Ansonsten würde eine solche nationale Regelung zu einer unrechtmäßigen Bereicherung der Arbeitgeberin führen. Dabei könne auch das Argument der Rechtssicherheit durch Verjährungsregelungen nicht herangezogen werden, da die Arbeitgeberin sonst aus ihrem eigenen Versäumnis zur Aufklärung einen Vorteil ziehen könne, indem sie sich auf Verjährung berufe.
 
Bewertung
Die sehr arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung des EuGH zur Urlaubsgewährung, die sich bereits in der Entscheidung zur Vererblichkeit des Urlaubsabgeltungsanspruches (EuGH, Urteil vom 6.11.2018 – C?569/16 & C-570/16) abgezeichnet hat, wird mit dieser Entscheidung fortgesetzt.
 
Zu begrüßen ist, dass der EuGH klargestellt hat, dass der hier behandelte Sachverhalt nicht vergleichbar ist mit der Verjährung von Urlaubsansprüchen, die sich aufgrund von langjähriger Krankheitsabwesenheit angesammelt haben. Hier sei ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an einer nicht unbegrenzten Ansammlung von Ansprüchen anzuerkennen. Mit der Frage, wie es sich mit der Verjährung von Urlaubsansprüchen verhält, die noch während einer Phase der Arbeitsfähigkeit entstanden sind, dann jedoch aufgrund einer krankheitsbedingten Abwesenheit nicht genommen werden konnten, beschäftigt sich der EuGH in seinen beiden Entscheidungen vom 22.09.2022 (C-518/20 und C-727/20).
 
Es dürfte nun abzuwarten sein, welche Anforderungen das BAG nun nachfolgend an die Geltendmachung sowie die Darlegungs- und Beweislast eines solchen Urlaubsanspruches stellt. Insbesondere dürfte für Arbeitgeber hier die Frage nach den tatsächlichen Erfolgen eines Hinweises und dem tatsächlichen Nichtnehmen von Urlaub von Interesse sein. 
 
Die neue Rechtsprechung des EuGH zu dem Thema Urlaubsverjährung zeigt aber in jedem Fall auf, dass die Thematik mehr Beachtung verdient in Personalabteilungen und nicht als „Beiwerk“ mitlaufen sollte, wenn man sich am Ende nicht einer hohen Abgeltungssumme gegenübergestellt sehen möchte.
 
 
Nora-Franziska Först, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Berücksichtigung von Urlaubstagen für die Ermittlung von Mehrarbeitszuschlägen
BAG vom 16.11.2022 – 10 AZR 210/19
 
Das BAG erhielt durch Entscheidung des EuGH vom 13.01.2022 (Aktenzeichen C-514/20) die Auskunft, dass im Lichte der Richtlinie 2003/88/EG auf Urlaubstage entfallende fiktive Arbeitsstunden bei der Berechnung von auf einen Kalendermonat entfallenden Mehrarbeitszuschlägen zu berücksichtigen sind. Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung gab es daher der Klage eines Leiharbeitnehmers statt, der Überstundenzuschläge für ein Stundenvolumen, welches auch durch fiktiv anzusetzende Urlaubsstunden zustande gekommen war, gefordert hatte.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Die auf den Kläger anwendbare tarifliche Regelung sah Überstundenzuschläge vor für den Fall, dass in einem Monat die Schwelle von 184 Stunden überschritten werde. In einem Monat, in dem er diese Schwelle nicht erreicht hatte, machte er dennoch Überstundenzuschläge geltend und erklärte, dass er die maßgebliche Schwelle nur deshalb nicht erreicht habe, da er in dem fraglichen Monat Urlaub genommen habe. Da die Urlaubstage als jeweils 8 geleistete Stunden mitzuzählen seien, erreiche er daher trotz effektiv weniger geleisteter tatsächlicher Arbeitsstunden letztlich die Schwelle der Zuschlagspflicht.
 
Sowohl das Arbeitsgericht Dortmund als auch das Landesarbeitsgericht Hamm hatten die Klage noch abgewiesen, da sich die Forderung nicht mit der Formulierung des Tarifvertrages, der auf „geleistete“ Stunden abstellte, in Einklang bringen ließe. Das BAG hatte den Vorgang dann dem EuGH vorgelegt. Laut EuGH dürfen die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht von der Berücksichtigung des für Überstundenzuschläge maßgeblichen Stundenvolumens ausgenommen werden. Andernfalls führe die Inanspruchnahme von Urlaub zu einem geringeren Entgelt und halte den Arbeitnehmer ggf. davon ab, von seinem Recht auf Urlaub Gebrauch zu machen. Darin liege ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG.
 
Die Entscheidung
Das BAG hatte vor diesem Hintergrund unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH neu über den Vorgang zu entscheiden. Die gegen die Klagabweisung des Landesarbeitsgerichts eingelegte Revision war daher erfolgreich. Die maßgebliche tarifliche Regelung sei so auszulegen, dass für die Bemessung der monatlich geleisteten Stunden auch Urlaubsstunden mitzuzählen seien, so dass einschließlich dieser Stunden die Schwelle zu Mehrarbeitszuschlägen erreicht werde. Der Arbeitgeber wurde daher zur Leistung der geforderten Mehrarbeitszuschläge verpflichtet.
 
Bewertung
Die Entscheidung liegt konsequent auf der Linie der Rechtsprechungsentwicklung zum Thema Urlaub, erscheint aber in ihrer – letztlich durch den EuGH geschaffenen – Konsequenz nicht restlos überzeugend. Richtig ist, dass das Argument, dass Beschäftigte von der Inanspruchnahme von Urlaub abgehalten würden, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, unwillige Arbeitnehmer zum Verbrauch von Urlaub anzuhalten und darüber dessen Erholungszweck zu sichern.
 
Darüber hinaus sollen Mehrarbeitszuschläge nach ihrem Sinn und Zweck eine nachhaltige Belastung ausgleichen und zugleich einen Anreiz für Arbeitgeber setzen, die Arbeit so zu planen, dass möglichst keine Mehrarbeit stattfindet. Während letzteres Ziel auch für die tatsächlichen Arbeitstage eines Monats gilt, an denen – um mit den Urlaubstagen über die Schwelle zu kommen – die Arbeitsbelastung entsprechend hoch gewesen sein muss, ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass bei einer Gesamtbetrachtung die mit 8 Stunden angesetzten Urlaubstage weniger belastend sein dürften als 8 Stunden Arbeit. Zumindest das Argument der Mehrbelastung ist daher nicht in gleicher Weise wie bei der Addition regulärer Arbeitsstunden einschlägig. Auch das implizite Postulat, dass man immer in der Lage sein müsse, die Schwelle für Mehrarbeitszuschläge zu erreichen, erscheint nicht zwingend. Das erstinstanzlich mit dem Vorgang befasste Arbeitsgericht hatte außerdem zu bedenken gegeben, dass die Anerkennung solcher Stunden ein Anreiz sein könne, unter Verweis auf die Berücksichtigungsfähigkeit jeglicher bezahlter Stunden auch mit möglicherweise zweifelhaften Arbeitsunfähigkeitszeiten das Stundenvolumen aufzustocken, während dadurch die Arbeitsbelastung für die anwesenden Beschäftigten noch weiter steige.
 
Die praktische Folgefrage wird sein, ob entsprechende tarifliche Regelungen zukünftig eine Klarstellung dazu enthalten könnten, was unter Berücksichtigung von Urlaubstagen (und auch Krankheitstagen) in Bezug auf Mehrarbeitszuschläge für eine Monatsbelastung gilt und ob die Praxis ggf. abweichende Vereinbarungen entwickeln wird, die dann auch als europarechtlich haltbar qualifiziert werden.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B.Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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November 2022



„Einmal da – immer da?“ – Zum Fortbestand der Schwerbehindertenvertretung auch bei absinken unter den Schwellenwert
BAG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 7 ABR 27/12
 
Schwellenwerte haben seit jeher eine große Bedeutung im Arbeitsrecht, insbesondere im Bereich der Interessenvertretung der Beschäftigten. So ist beispielsweise in § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG geregelt, dass ein Betriebsrat nur in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern gewählt werden kann. Für die Schwerbehindertenvertretung bestimmt § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX: „In Betrieben und Dienststellen, in denen wenigstens fünf schwerbehinderte Menschen nicht nur vorübergehend beschäftigt sind, werden eine Vertrauensperson und wenigstens ein stellvertretendes Mitglied gewählt, das die Vertrauensperson im Falle der Verhinderung vertritt.“ Es ist allerdings weder im BetrVG für den Betriebsrat, noch im SGB IX für die Schwerbehindertenvertretung explizit geregelt, welches Schicksal die jeweilige Interessenvertretung trifft, sollte die Anzahl des relevanten Personenkreises nach durchgeführter Wahl unter den gesetzlich vorgesehenen Schwellenwert sinken.
 
Während das Schicksal des Betriebsrats bei Absinken unter den Schwellenwert als geklärt angesehen werden kann, wurde diese Frage bei der Schwerbehindertenvertretung bislang kontrovers diskutiert und jüngst erstmals durch das BAG entschieden: Sinkt die Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter im Betrieb unter den Schwellenwert von fünf, ist das Amt der Schwerbehindertenvertretung nicht vorzeitig beendet.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Streitgegenstand des Verfahrens war die Frage, welche Folgen ein Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter, d. h. schwerbehinderter Menschen und diesen Gleichgestellte, in einem Betrieb unter den Schwellenwert von fünf für die Schwerbehindertenvertretung hat. Die Arbeitgeberin, die mehrere Betriebe unterhält, betreibt in Köln einen Betrieb mit ca. 120 Mitarbeitern, für den auch ein Betriebsrat gebildet ist. Im Betrieb in Köln wurde am 13. November 2019 eine Schwerbehindertenvertretung gewählt. Zuvor wurden die Interessen der schwerbehinderten Beschäftigten des Betriebs in Köln durch die Schwerbehindertenvertretung eines anderen Betriebs der Arbeitgeberin vertreten. Zum 1. August 2020 sank die Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb in Köln unter die Anzahl von fünf auf vier ab. Nachdem die Arbeitgeberin der Schwerbehindertenvertretung aufgrund dieses Absinkens mitteilte, dass aus ihrer Sicht eine Schwerbehindertenvertretung nicht mehr existiere und die schwerbehinderten Beschäftigten künftig wieder von der Schwerbehindertenvertretung des anderen Betriebs vertreten werden, begehrte die gewählte Vertrauensperson der Schwerbehindertenvertretung vor dem Arbeitsgericht Köln die Feststellung, dass die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung nicht aufgrund des Herabsinkens der Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten unter fünf beendet ist.
 
Die Schwerbehindertenvertretung hat die Auffassung vertreten, dass eine nach bereits durchgeführter Wahl eintretende Änderung der Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten keine Auswirkungen auf die Existenz der Schwerbehindertenvertretung habe, sodass die Amtszeit bis zur nächsten Wahl fortdauere. Insbesondere sei der Grundsatz aus dem BetrVG, dass das Absinken der wahlberechtigten Beschäftigten zum Ende der Amtszeit des Betriebsrats führe, nicht übertragbar. Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, dass die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung ende, wenn der Schwellenwert des § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX unterschritten wird. Zwar sehe das SGB IX keine ausdrückliche Regelung für diesen Fall vor, doch sei für den Betriebsrat bei Absinken unter den Schwellenwert des § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG anerkannt, dass sodann seine Amtszeit ende. Für die Schwerbehindertenvertretung müsse dieser Grundsatz ebenfalls gelten.
 
Das Arbeitsgericht Köln hat den Antrag zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss hat die Schwerbehindertenvertretung Beschwerde zum LAG Köln eingelegt, welche erfolglos blieb. Das LAG Köln entschied, dass die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb unter fünf endet. Die Grundsätze für das Ende der Amtszeit des Betriebsrats aus dem BetrVG seien auf die Schwerbehindertenvertretung zu übertragen, was sich insbesondere aus der Systematik der Interessenvertretungen von Beschäftigten und der Systematik des Gesetzes, u.a. der vergleichbaren Struktur und Dauer der Amtszeit beider Interessenvertretungen und des Verweises in § 177 Abs. 8 SGB IX auf § 21a BetrVG, ergebe. Im Hinblick auf die Beteiligungsrechte sei ein Gleichlauf geboten. Zudem spreche Sinn und Zweck der Schwellenwerte in § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX und § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG ebenfalls für eine Übertragung des Grundsatzes zum Ende der Amtszeit bei Absinken unter den Schwellenwert. Es handle sich bei der Einführung des Schwellenwertes um eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung, nach der nur solche Betriebe mitbestimmt sein sollen, bei denen eine gewissen Mindestgröße bzw. Mindestanzahl an schwerbehinderten Beschäftigten gegeben ist. Dann aber sei es geboten, den Schwellenwert nicht nur für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung, sondern auch als Voraussetzung für den Bestand einer gewählten Vertretung anzusehen.
 
Entscheidung
Die Rechtsbeschwerde der Schwerbehindertenvertretung hatte vor dem BAG Erfolg. Das BAG entschied, dass das Amt der Schwerbehindertenvertretung im Falle des Absinkens der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter im Betrieb unter den Schwellenwert von fünf nicht vorzeitig beendet ist. Die Begründung der Entscheidung, die bislang nur als Pressemitteilung vorliegt, ist knapp gehalten: Eine ausdrückliche Regelung, die das Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter den Schwellenwert nach § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX vorsieht, besteht im Gesetz nicht. Eine vorzeitige Beendigung der Amtszeit sei auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen oder im Hinblick auf Sinn und Zweck des Schwellenwerts geboten.
 
Bewertung
Mit dieser Entscheidung stärkt das BAG die Schwerbehindertenvertretung und damit auch die Rechte der schwerbehinderten Beschäftigten, deren Interessen auch bei Absinken unter den Schwellenwert weiter durch eine durch sie gewählte Schwerbehindertenvertretung vertreten werden. Zudem kann die Schwerbehindertenvertretung insbesondere dann, wenn lediglich eine geringe Anzahl von schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb beschäftigt wird, weiterhin die Eingliederung schwerbehinderter Beschäftigter durch Neueinstellungen fördern und so die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben unterstützen.
 
Auch wenn diese Entscheidung im Sinne eines Stärkungs- und Förderungsgedankens zu begrüßen sein mag, bleibt die rechtliche Begründung in den Entscheidungsgründen abzuwarten. Allein anhand der Pressemitteilung vermag die Entscheidung nicht zu überzeugen. Das LAG Köln hat nachvollziehbar dargelegt, warum die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb unter fünf endet. Insbesondere der Vergleich zur Beendigung der Amtszeit des Betriebsrats bei Absinken unter den Schwellenwert, für die es im Übrigen ebenfalls keine gesetzliche Regelung gibt, überzeugt aufgrund des vom LAG Köln dargelegten Gleichlaufs der Interessenvertretungen und der gesetzlichen Regelungen, ebenso wie der Rückgriff des LAG Köln auf die gesetzgeberische Entscheidung bei Einführung der Schwellenwerte, die ebenfalls für den Bestand einer gewählten Vertretung maßgeblich sein sollten. Schließlich überzeugt gerade auch die normative Anknüpfung an § 177 Abs. 8 SGB IX und dem dort enthaltenen Verweis auf § 21a BetrVG, der bedeutet, dass ein Übergangsmandat der Schwerbehindertenvertretung bei einer Betriebsspaltung nur dann besteht, wenn im verbleibenden Betriebsteil der Schwellenwert aus § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX überschritten wird. Daraus aber kann geschlussfolgert werden, dass ein nachträgliches Absinken unter den Schwellenwert für den Bestand der Schwerbehindertenvertretung gerade nicht irrelevant ist. Jedenfalls schien das BAG dem Umstand, dass in einem anderen Betrieb der Arbeitgeberin eine Schwerbehindertenvertretung existiert, die für die schwerbehinderten Beschäftigten des Betriebs in Köln bei Beendigung des Amts der dortigen Schwerbehindertenvertretung zuständig gewesen wäre (vgl. § 180 Abs. 1 S. 2, Abs. 6 S. 1 SGB IX), keine entscheidende Bedeutung beizumessen.
 
Für die Praxis bedeutet diese Entscheidung, dass die Schwerbehindertenvertretung auch bei Absinken unter den Schwellenwert von fünf im Amt verbleibt, und dies mit sämtlichen Konsequenzen. Insbesondere ist die Schwerbehindertenvertretung bei Kündigungen vor Kündigungsausspruch anzuhören, andernfalls ist die Kündigung unwirksam. Ebenfalls sollte selbst dann, wenn in dem betreffenden Betrieb keine Schwerbehindertenvertretung existiert, stets im Blick behalten werden, ob in einem anderen Betrieb des Arbeitgebers eine Schwerbehindertenvertretung im Amt ist, die auch für die Betriebe, für die keine Schwerbehindertenvertretung gewählt wurde oder gewählt werden konnte, zuständig ist und die entsprechenden Aufgaben wahrnimmt.
 
Dr. Elisa Kottlors, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Wartezeitkündigung eines Impfverweigerers
LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 07.07.2022 – 5 Sa 461/21
 
Das LAG Rheinland-Pfalz geht in der vorliegenden Entscheidung der Frage nach, ob eine Wartezeitkündigung gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstößt, wenn der Arbeitgeber die Kündigung damit begründet, dass ein in der Patientenversorgung eines Krankenhauses eingesetzter Arbeitnehmer nicht gegen SARS-CoV-2 geimpft ist und sich auch nicht dagegen impfen lassen will. Zutreffend hält das LAG fest, dass dies – unabhängig vom Bestehen einer gesetzlichen Impfpflicht – nicht der Fall ist, und der Arbeitgeber grundsätzlich frei kündigen kann, ohne auf entgegenstehende Interessen des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen zu müssen.
 
Sachverhalt und erstinstanzliche Entscheidung
Die Parteien streiten darüber, ob die gegenüber der Klägerin ausgesprochene Wartezeitkündigung wirksam ist.
 
Die Klägerin war seit dem 1. Februar 2021 im Rahmen eines bis zum 31. Januar 2022 sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags als medizinische Fachangestellte beschäftigt und wurde in der Patientenversorgung der Beklagten, die als gemeinnützige GmbH in kommunaler Trägerschaft ein Krankenhaus der Maximalversorgung betreibt, eingesetzt. Die Klägerin wollte sich nicht gegen SARS-CoV-2 impfen lassen und nahm auch Impfangebote der Beklagten nicht an. Von 3.100 Arbeitnehmern der Beklagten waren bis Mitte November 2021 insgesamt 250 nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft.
 
Die Beklagte hörte den zuständigen Betriebsausschuss mit Schreiben vom 28. Juni 2022 zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin an. Sie führte aus, das Arbeitsverhältnis beenden zu wollen, da die Klägerin nicht gegen SARS-CoV-2 geimpft sei. Zudem habe die Klägerin der zuständigen Pflegedienstleiterin mitgeteilt, sich auch nicht impfen lassen zu wollen. Der Betriebsausschuss widersprach der Kündigung, die am 22. Juli 2022 ausgesprochen wurde.
 
Die Klägerin erhob rechtzeitig Kündigungsschutzklage und machte geltend, dass die Kündigung gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstoße. Das Arbeitsgericht folgte der Argumentation der Klägerin. Die Beklagte habe das Maßregelungsverbot verletzt. Die Entscheidung der Klägerin sei durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt, insbesondere da eine Impfpflicht nicht bestanden habe. Hiergegen legte die Beklagte Berufung ein.
 
Die Entscheidung
Das LAG Rheinland-Pfalz hält die Kündigung für wirksam. Die Klage sei abzuweisen.
 
Ein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot liege nicht vor. Erst ab dem 16. März 2022 gelte eine gesetzliche Impfpflicht gegen COVID-19 für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich. Hierzu verweist das LAG auf den Beschluss des BVerfG vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21), wonach die in § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1a IfSG geregelte Pflicht, eine COVID-19-Impfung nachzuweisen, das Krankenhauspersonal nicht in dessen Rechten, insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Es sei ein besonders gewichtiger Belang von Verfassungsrang, vulnerable Personen vor einer schwerwiegenden oder sogar tödlich verlaufenden Erkrankung zu schützen.
 
Vorliegend verstoße die Kündigung nicht gegen § 612a BGB, auch wenn im Zeitpunkt des Zugangs der Wartezeitkündigung noch keine gesetzliche Covid-19-Impfpflicht für die Klägerin bestand. In der gesetzlichen Wartezeit unterliegt die Meinungsbildung des Arbeitgebers, ob ein Arbeitnehmer seinen Vorstellungen entspricht, von Missbrauchsfällen abgesehen, keiner Überprüfung nach objektiven Maßstäben. In der gesetzlichen Wartezeit von sechs Monaten habe die Beklagte mit Blick auf den Infektionsschutz der Patienten und der übrigen Beschäftigten ihre Anforderungen so ausgestalten dürfen, dass sie nur noch Pflegepersonal mit Covid-19-Schutzimpfung beschäftigen will. In den ersten sechs Monaten könne der Arbeitgeber Arbeitnehmern grundsätzlich frei kündigen. Die Klägerin habe nach § 1 Abs. 1 KSchG keinen Kündigungsschutz. Deshalb könne sie keine Gleichbehandlung mit den Arbeitnehmern beanspruchen, die dem Kündigungsschutz unterliegen, weshalb es auch unerheblich sei, dass 250 Arbeitnehmer der Beklagten ungeimpft sind. Auch eine Diskriminierung aufgrund des befristeten Arbeitsverhältnisses der Klägerin bestehe nicht, da in den ersten sechs Monaten der Arbeitgeber sowohl befristet als auch unbefristet Beschäftigten grundsätzlich frei kündigen kann.
 
Bewertung
Das LAG führt zutreffend aus, dass die Kündigungsfreiheit des privaten Arbeitgebers durch Art. 12 Abs. 1 GG bzw. durch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist. Insofern sind Arbeitgeber auch frei darin, nur Mitarbeiter, die ihren Vorstellungen entsprechen, zu beschäftigen. Auch öffentliche Arbeitgeber dürfen in der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG prüfen, ob der Arbeitnehmer ihren Vorstellungen entspricht. Auf entgegenstehende Interessen des Arbeitnehmers muss dabei keine Rücksicht genommen werden, jedenfalls liegt im vorliegenden Sachverhalt zutreffend keine Maßregelung begründet.
 
Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Oktober 2022



Beginn der Kündigungserklärungsfrist gem. § 626 Abs. 2 S. 1 BGB bei Compliance-Untersuchungen
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 05.05.2022 – 2 AZR 483/21
 
Kommt es in Unternehmen zur Aufdeckung von Rechtsverstößen, die durch die eigenen Beschäftigten begangen wurden, ist regelmäßig Eile geboten, sofern das Recht zur außerordentlichen Kündigung bemüht werden soll. Im Rahmen von internen Untersuchungen stellt sich dabei regelmäßig die Frage, ab wann die zweiwöchige Ausschlussfrist zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 2 S. 1 BGB zu laufen beginnt. Insbesondere wenn eine umfangreiche Aufklärung – ggf. sogar durch externe Rechtsberater – erforderlich scheint, um die Vorgänge umfassend aufzuklären, ist der Beginn der Kündigungserklärungsfrist oft Gegenstand von internen Interessenskonflikten (Stichwort: „effektive und sorgfältige Aufklärung“ vs. „wirksame Kündigung“).
 
Eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts schafft nun Klarheit in diesem äußerst praxisrelevanten Bereich.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
 
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die die beklagte Arbeitgeberin im Rahmen einer insgesamt ca. 18 Monate dauernden Compliance-Untersuchung gegenüber dem bei ihr tariflich unkündbar als Vertriebsleiter beschäftigten Kläger aussprach.
 
Im Juli 2018 erhielt die Arbeitgeberin den Hinweis, dass Beschäftigten des Unternehmens vertrauliche Dokumente des Bundesministeriums der Verteidigung unrechtmäßig vorlägen. Zur Aufklärung des Sachverhalts wurde umgehend eine externe Rechtsanwaltskanzlei beauftragt. Am 27.06.2019 entschied das unternehmensinterne Compliance-Team sich für eine Unterbrechung der Untersuchung und die Vorlage eines Zwischenberichts, der die bis dato ermittelten Pflichtverletzungen des Klägers und weiterer Personen enthielt, an die Geschäftsführung, um diese in die Lage zu versetzen, über etwaige weitere, unter anderem auch arbeitsrechtliche Maßnahmen zu entscheiden. Dieser Zwischenbericht wurde dem zur Erklärung einer Kündigung berechtigten Geschäftsführer am 16.09.2019 übergeben. Elf Tage nach Erhalt dieses Zwischenberichts kündigte die Arbeitgeberin dem Vertriebsleiter außerordentlich.
 
Das Arbeitsgericht Ulm gab der Kündigungsschutzklage in erster Instanz statt. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg wies die Berufung der Beklagten mit der Begründung zurück, dass die Beklagte ein Organisationsverschulden in der Hinsicht treffe, sich nicht regelmäßig über die Zwischenstände der Untersuchung informiert zu haben und sich daher die Kenntnis des Leiters des unternehmensinternen Compliance-Teams zurechnen lassen müsse. Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB sei demnach bereits verstrichen gewesen.
 
Mit der Revision verfolgte die Beklagte den Klageabweisungsantrag weiter.
 
Die Entscheidung
 
Das Bundesarbeitsgericht erteilte der Argumentation des Landesarbeitsgerichts in wesentlichen Punkten eine deutliche Absage und stärkte die rechtlichen Möglichkeiten, einen Sachverhalt vor einer Kündigungsentscheidung „auszuermitteln“.
 
Der Senat entschied, dass die Kündigungserklärungsfrist (erst) in dem Moment beginne, in dem eine zu Kündigung berechtigte Person von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlange. Dabei sei für den konkret zu entscheidenden Fall – wie auch allgemein – unbeachtlich, wenn die Kenntniserlangung anderer Personen im Unternehmen vorher geschehe. Eine Wissenszurechnung anderer Personen – hier insbesondere auch vom Leiter der unternehmensinternen Compliance-Abteilung – erfolge nicht, da diese gerade nicht kündigungsberechtigt seien.
Die Beklagte treffe in Bezug auf die Kenntnisnahme der Geschäftsleitung kein Organisationsverschulden; ein solches könne den Fristbeginn des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB nicht auslösen.
 
Im Rahmen der Kenntniserlangung von allen für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen sei zudem ein Zuwarten auf einen kohärenten (Zwischen-) oder Abschlussbericht einer externen Rechtsanwaltskanzlei nicht zu beanstanden, da erst durch einen solchen eine verlässliche Entscheidungsgrundlage geschaffen werde.
 
Etwas Anderes soll nur gelten, wenn die Kenntnisnahme der kündigungsberechtigten Personen über die Kündigungsumstände durch bzw. währen der Aufklärung durch Dritte ohne sachliche Rechtfertigung treuwidrig verzögert würde oder wenn die Gesellschaftsorgane tatsächlich bereits vor Abgabe des Untersuchungsberichts über die Berichtsgegenstände und „Findings“ (etwa durch Besprechungen) in Kenntnis gesetzt worden seien. Die entsprechende Kündigung erwies sich damit als wirksam.
 
Bewertung
 
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist unter praktischer Perspektive begrüßenswert und von grundlegender Bedeutung für Compliance-Untersuchungen. Es bringt Klarheit hinsichtlich des Fristbeginns und ermöglicht eine umfassende, sachgerechte Aufklärung, ohne dass etwaige Kündigungserklärungsfristen verwirkt werden oder eine vorschnelle Entscheidung (unter Umständen zulasten des Arbeitnehmers) zu treffen ist. Zum anderen wird deutlich, dass ein im Verdacht stehender Arbeitnehmer nicht auf erste Hinweise hin unverzüglich anzuhören ist, solange noch kohärente Ermittlungsmaßnahmen ausstehen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass betroffene Personen nicht frühzeitig durch Anhörungen gewarnt und Ermittlungsergebnisse sodann kompromittiert werden.
 
Eine hinreichend professionell strukturierte unternehmensinterne Untersuchung – insbesondere durch externe Rechtsberater – kann demnach dem Risiko einer potenziell unvollständigen oder gar verfrühten Kenntniserlangung des Kündigungsberechtigten von Teilinformationen und dem Vorwurf einer verfristeten Kündigung vorbeugen. Es ist indes penibel darauf zu achten und zu dokumentieren, welche unternehmensinternen Stellen zu welchem Zeitpunkt über welche Untersuchungsergebnisse in welchem Umfang aufgeklärt werden. Dies sollte ebenso dokumentiert werden, wie auch der jeweilige Zweck, zu dem konkrete Untersuchungsmaßnahmen umgesetzt werden: Denn das Bundesarbeitsgericht hat erkennen lassen, dass Untersuchungsmaßnahmen, die etwa allgemeine Präventionsziele verfolgen, gerade nicht länger der kohärenten Sachverhaltsaufklärung dienen, sodass solche fortdauernden Untersuchungen einen etwaigen Fristbeginn in Bezug auf § 626 Abs. 2 S. 1 BGB gerade nicht mehr verhindern. Im Ergebnis sollten Unternehmen ihre interne Untersuchungspraxis so koordinieren, dass (nur) vollständige Zwischenberichte zu Compliance-Untersuchungen an kündigungsberechtigte Personen herangetragen werden – dies jedoch wiederum ohne schuldhafte Verzögerungen (im Rahmen der Prüfung bzw. der Vorlage entsprechender Berichte).
 
Dr. David Rieks, LL.M. (Columbia / UvA), FA für Strafrecht, Partner, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Hamburg

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Datenschutzrechtliche Nachlässigkeiten
LAG Sachsen, Urteil vom 07.04.2022 – 9 Sa 250/21
 
Selten werden Entscheidungen mit solch unterschiedlichem Zungenschlag rezipiert wie die vorliegende – manche Portale betiteln die entsprechenden Kommentierungen des vorliegenden Urteils als Fall einer Kündigung wegen bloßer „Nachlässigkeit“ bzw. eines „Flüchtigkeitsfehlers“, andere stellen in ihren Überschriften den kündigungsrelevanten Datenschutzverstoß in den Vordergrund. Festzuhalten ist, dass Nachlässigkeiten in datenschutzrelevanten Angelegenheiten den Arbeitsplatz kosten können, wie der vorliegende Fall zeigt.
 
Sachverhalt und Vorinstanz
Die klagende Arbeitnehmerin war bei der Beklagten seit etwa vier Jahren als Kreditsachbearbeiterin Baufinanzierung beschäftigt und im Rahmen ihrer Tätigkeit u. a. mit der Arbeitsanweisung „Procedure zur Informationssicherheit am Arbeitsplatz und Clean Desk Policy“ vertraut. Diese Policy enthielt u. a. die Anforderungen, dafür Sorge zu tragen, dass „schützenswerte oder geheime Informationen… nicht durch Dritte eingesehen werden können“, dass entsprechende Akten beim Verlassen des Arbeitsplatzes „ordnungsgemäß wegzuschließen“ sind und vertrauliche Dokumente „in eine Schublade, einen Schrank oder dergleichen gesperrt werden“ müssen.
 
Die Klägerin nahm es mit dieser Richtlinie jedoch nicht so genau und hatte nach mehreren fruchtlosen Ermahnungen für Verstöße u. a. gegen die Policy wiederholt Abmahnungen erhalten, wobei sie auch nochmals an die genannte Policy erinnert wurde. Vorwurf waren u. a. offen auf dem Schreibtisch herum liegende Unterlagen, nicht ordnungsgemäß entsorgter Datenmüll, Klebezettel mit Darlehensnummern, keine ordnungsgemäße Abmeldung von IT-Systemen sowie einige weitere Pflichtverstöße außerhalb der Datenschutzthematik.
 
Im November 2020 erfolgte während einer krankheitsbedingten Abwesenheit der Klägerin ein Büroumzug. Sie erteilte zu diesem Zweck ihr Einverständnis zur Durchführung des Umzugs durch den zuständigen Gruppenleiter im Beisein eines BR-Mitglieds. Dabei wurden in ihrem unverschlossenen Schreibtisch mehrere Markt- und Beleihungswertermittlungen und Prüfbögen der Qualitätssicherung mit den jeweiligen Kundendaten gefunden. Daraufhin reichte es dem Arbeitgeber, und die Arbeitnehmerin erhielt eine ordentliche Kündigung.
 
Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage war vor dem Arbeitsgericht Leipzig erfolgreich. Aus Sicht des Arbeitsgerichts sei nicht von einer negativen Prognose auszugehen. Eine Abmahnung habe ausgereicht, denn unter den bisherigen Abmahnungen habe sich keine befunden, die sich auf einen Pflichtenverstoß wegen fehlenden Abschließens des Schreibtisches bezogen habe. Eine diesbezügliche Kündigungsandrohung habe daher durchaus zu einer Verhaltensänderung führen können, so dass die unmittelbare Kündigungserklärung unverhältnismäßig gewesen sei.
 
Die Entscheidung
 
Auf die Berufung der Beklagten änderte das Landesarbeitsgericht die Entscheidung und wies die Klage ab. Die Kündigung stelle sich nicht als unverhältnismäßig dar. Die Klägerin habe wiederholt, und sei es in marginal abweichenden Facetten, die ihr unstreitig bekannte Policy missachtet und auch auf eine einschlägige Abmahnung in Bezug auf die Vertraulichkeitsverpflichtungen aus der Policy keine Verhaltensänderung gezeigt.
 
Die von Seiten der Klägerin vorgebrachten Argumente hielt das Landesarbeitsgericht für nicht durchgreifend – weder konnte sie mit dem Hinweis überzeugen, dass eine Kenntnisnahme ja nur durch ebenfalls zur Verschwiegenheit verpflichtete Interne erfolgt sei, noch verfing ihre Wortlautargumentation, das „wegsperren“ noch lange nicht bedeute, dass man den Schreibtisch auch abschließen müsse.
 
Aus Sicht des Landesarbeitsgerichts handelte es sich außerdem entgegen der Behauptung der Klägerin auch nicht lediglich um eine Nebenpflichtverletzung; vielmehr beziehe sich die Policy auf die Hauptleistungspflicht, da die Policy die Art der Arbeitserbringung beschreibe.
 
Auch genüge bereits eine fahrlässige Begehungsweise für eine Pflichtverletzung – es müsse keine Absicht zur Missachtung der Policy festgestellt werden. Dass es sich vermeintlich um einen „Flüchtigkeitsfehler“ gehandelt habe, sei daher kein Argument gegen die Zulässigkeit einer Kündigung.
 
Insgesamt sei, nicht zuletzt aufgrund der einschlägigen Abmahnung und der unstreitigen Verletzung der Policy, von einer negativen Prognose auszugehen. Die Kündigung erweise sich in Relation zu dem Vorfall auch nicht als Verletzung des Übermaßverbots. Schließlich gehe auch die Interessenabwägung zugunsten der Beklagten aus. Ihr sei es nicht mehr zuzumuten, noch weitere (fruchtlose) Abmahnungen auszusprechen. Die Kündigung erweise sich daher insgesamt als wirksam.
 
Bewertung
 
Die Entscheidung ist, wie eingangs angedeutet, insofern polarisierend, weil es sich bei dem zum Anlass für die Kündigung genommenen Sachverhalt um einen eigentlich nicht sonderlich dramatischen Vorgang handelte. Letztlich spielten hier die eigentlich durch die vorherigen Ermahnungen und Abmahnungen verbrauchten Sachverhalte mit hinein, da der vorliegende Vorfall gewissermaßen das Fass zum Überlaufen brachte. Der Fall zeigt deutlich, dass Uneinsichtigkeit den Arbeitsplatz kosten kann und dass Arbeitgeber gut beraten sind, bei einer Summe von vermeintlichen Kleinigkeiten mit Abmahnungen nachzuhalten. Für Arbeitnehmer wird hieraus deutlich, dass es ihnen nicht frei steht, einzelne Arbeitsanweisungen, deren Notwendigkeit sie in Frage stellen, nachhaltig zu ignorieren. Gerade im Bereich des Datenschutzes herrscht eine zunehmende Sensibilität, so dass auch dies dazu beigetragen haben dürfte, dass die Entscheidung letztlich zu Lasten der Arbeitnehmerin ausging.
  
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B.Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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September 2022


Auskunftsanspruch über schwerbehinderte Beschäftigte
LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.05.2022 – 12 TaBV 4/21

In einem Verfahren mit mehreren spannenden Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg sich mit Fragen der Reichweite des Auskunftsanspruchs des Betriebsrats in Bezug auf schwerbehinderte Beschäftigte sowie den datenschutzrechtlichen Anforderungen an die Verarbeitung sensibler Daten durch den Betriebsrat befasst. Eine abschließende Klärung wird voraussichtlich erst durch das Bundesarbeitsgericht erfolgen.

Sachverhalt und Vorinstanzen
In dem betroffenen Betrieb, dessen Betriebspartner sich vorliegend gegenüber standen, gibt es bislang keine Schwerbehindertenvertretung. Der Betriebsrat bemühte sich daher um die Einleitung eines entsprechenden Wahlverfahrens und wollte dazu wissen, welche der im Betrieb Beschäftigten schwerbehindert sind. Er verwies dazu auf § 163 Abs. 1 SGB X, wonach der Arbeitgeber ohnehin verpflichtet ist, eine entsprechende Liste zu führen – diese wollte der Betriebsrat haben.

Der Arbeitgeber hielt dem entgegen, dass er die sensiblen, gesundheitsbezogenen Daten der betroffenen Beschäftigten nur mit deren Einwilligung weitergeben könne, hierzu aber nicht alle Beschäftigten die Einwilligung erklärt hätten. Der Betriebsrat habe auch kein ausreichendes Datenschutzkonzept dargelegt, um solche Daten rechtmäßig verarbeiten zu können. Die genannte Liste sei unternehmensbezogen zu führen und gehe damit über den Kompetenzbereich des lokalen Betriebsrats hinaus, so dass ihm diese nicht zur Verfügung gestellt werden müsse. Für die Einleitung einer Wahl der Schwerbehindertenvertretung müsse der Betriebsrat ohnehin keine solch detaillierte Prüfung vornehmen. Es genüge, dass er abstrakt wisse, dass – wie hier – die notwendige Zahl schwerbehinderter Beschäftigter erreicht sei.

Das Arbeitsgericht hatte auf Bestehen eines Auskunftsrechts über die Namen der im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten erkannt und sah in der Unterlassung der vom Betriebsrat hierzu angeforderten Mitteilung eine – notfalls mit Ordnungsgeld zu unterbindende – Behinderung der Betriebsratsarbeit. Hiergegen wandte sich die Arbeitgeberin mit der Beschwerde.

Die Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht hielt die Beschwerde für unbegründet. Es handle sich bei dem Begehren in der zuletzt streitbefangenen Fassung um die Geltendmachung eines Auskunftsanspruchs nach § 80 Abs. 2 S.?1 BetrVG im Rahmen seiner Aufgabenwahrnehmung. Hierfür genüge es, dass der Betriebsrat auf Basis der Auskunft prüfen könne, ob sich Aufgaben im Sinne des BetrVG ergeben. Zu den Aufgaben des Betriebsrats gehöre unter anderem die Förderung der Eingliederung schwerbehinderter Menschen, so dass diese dem Betriebsrat auch namentlich bekannt sein müssten. Die Aufgabenwahrnehmung stehe auch nicht zur Disposition der einzelnen Arbeitnehmer und sei daher nicht an deren Einwilligung gebunden.

Die datenschutzrechtlichen Bedenken des Arbeitgebers teilte das Landesarbeitsgericht ebenfalls nicht. Richtig ist, dass der Betriebsrat gem. § 79a S. 1 BetrVG den Datenschutz zu gewährleisten hat und dass es sich um besondere personenbezogene Daten i. S. d. Art. 9 Abs. 1 DS-GVO i. V. m. § 26 Abs. 3 BDSG handelt, die durch den Betriebsrat verarbeitet würden. Es stelle aber eine ausreichende Zugangsbeschränkung i. S. d. § 22 Abs. 2 Nr. 5 BDSG dar, wenn das Betriebsratsbüro abgeschlossen sei und eine elektronische Übermittlung an eine spezielle Empfängeradresse mit Passwortschutz erfolge. Der Betriebsrat müsse sich zwecks sachgerechter Aufgabenwahrnehmung auch nicht mit anonymisierten oder pseudonymisierten Angaben begnügen.

Aus diesen Gründen bestehe auch ein Unterlassungsanspruch in Bezug auf die Behinderung der Betriebsratsarbeit durch Nichtmitteilung der Anzahl und Namen schwerbehinderter bzw. gleichgestellter Beschäftigter.

Die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der klärungsbedürftigen Rechtsfrage zugelassen und auch eingelegt (1 ABR 14/22).

Bewertung
Die Entscheidung ist vor allem in ihrer Begründung mit Abstellen auf den Aufgabenbezug von erheblicher Tragweite, weil mit dieser Argumentation für jeden Betriebsrat die Geltendmachung eines Auskunftsanspruchs möglich ist. Die Begründung ist von dem eigentlichen Anlass – Absicht zur Einleitung der Wahl der Schwerbehindertenvertretung – entkoppelt und erkennt den Auskunftsanspruch auch ohne eine solche Fallkonstellation zu. Die vom Landesarbeitsgericht als Anknüpfungspunkt angeführte Aufgabe lässt sich in jedem Betrieb begründen.

Zugleich enthält die Entscheidung allgemeine Grundsätze dazu, welche Schutzmaßnahmen Betriebsräte, die nach der Ergänzung des BetrVG um den neuen § 79a eine verantwortliche Stelle im Sinne der datenschutzrechtlichen Vorschriften darstellen, für die Verarbeitung sensibler Daten sicherstellen müssen. Diese Anforderungen sind insofern praxisgerecht, als sie den Betriebsrat vor keine solchermaßen hohen Hürden stellen, dass dieser ihnen kaum genügen kann.

Weniger verständlich ist, dass die Unterlassung, die mit einer jedenfalls nicht als fernliegend zu qualifizierenden Begründung erfolgt war, gleich eine Behinderung der Betriebsratsarbeit darstellen soll. Dies erscheint etwas weitreichend, weil sich mit diesem Verständnis jegliches Vertreten einer vor den Gerichten im Ergebnis nicht durchgesetzten Rechtsauffassung gleichzeitig als Behinderung der Betriebsratsarbeit darstellen ließe. Dies verwässert den Unrechtsgehalt von § 78 BetrVG und erweitert dessen Anwendungsbereich unter Außerachtlassung der Praxis.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu dem Vorgang dürfte mit Spannung zu erwarten sein und wird hoffentlich einige grundsätzliche Fragen klären.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Voraussetzungen Druckkündigung
ArbG Nordhausen, Urteil vom 13.07.2022 – 2 Ca 199/22
 
In der Praxis kommt es oft vor, dass innerbetriebliche Konflikte berichtet werden, die insbesondere von einer konkreten Person ausgehen, die sowohl Kollegen aus auch Vorgesetzte zur Verzweiflung treibt. In der Organisationspsychologie ist hier die Rede von „toxischem Verhalten“, welches das Betriebsklima vergiftet und schlimmstenfalls zerstört. Andere Beschäftigte reagieren infolge der erheblichen Stressbelastung ggf. mit Arbeitsunfähigkeitsmeldungen und im Extremfall mit Eigenkündigungen. Die Schwierigkeit liegt für die in der Personalführung Verantwortlichen gerade darin, dass das manipulative Wirken oftmals lange Zeit nicht erkannt wird und durch das verschlechterte Betriebsklima eine Abwärtsspirale entsteht, die langfristig negative Konsequenzen hat. Da das „toxische Verhalten“ oftmals aus kündigungsrechtlicher Sicht kaum greifbar ist, scheitern nicht wenige Kündigungen am Fehlen wirklicher Kündigungsgründe. Oftmals wird dann versucht, zumindest mit einer Druckkündigung zu argumentieren. Die vorliegende Entscheidung des Arbeitsgerichts Nordhausen zeigt, an welchen – arbeitsrechtlich bekannten, aber für den Nichtjuristen nicht unbedingt intuitiv verständlichen – Hürden solche Kündigungen üblicherweise scheitern.
 
Sachverhalt
Das Arbeitsgericht Nordhausen hatte über die Kündigungsschutzklage einer Erzieherin zu entscheiden, die seit 2002 in der öffentlichen Verwaltung tätig war und 2017 die Leitung einer Kindertageseinrichtung übernommen hatte. In dieser Einrichtung kam es zu erheblichen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, welchen die beklagte Arbeitgeberin mit verschiedenen Maßnahmen wie Supervisionen, Teambuilding, Personalgesprächen, Workshops und letztendlich einem Mediationsverfahren zu begegnen suchte. Die Beschwerden über den Führungsstil und den Umgang der Klägerin mit den Mitarbeitern rissen dennoch nicht ab. So wurde insbesondere moniert, dass die Klägerin sich selbst nicht an Regeln halte, aber von anderen deren strikte Einhaltung fordere. Sie telefoniere arbeitsunfähig erkrankten Beschäftigten hinterher und treibe die Kollegen in Minusstunden, doch auf jegliche Einwände reagiere sie mit Kritikunfähigkeit.

Die Arbeitgeberin wollte dann genauer wissen, ob sich die Kolleginnen und Kollegen noch eine weitere Zusammenarbeit mit der Klägerin vorstellen könnten oder ob ein Verbleib der Klägerin perspektivisch dazu führen werde, dass diese selbst kündigen würden. Hierbei bestand die Möglichkeit einer anonymen Rückmeldung auf die entsprechende Nachfrage. Befragungsergebnis war, dass ein erheblicher Teil der Belegschaft die weitere Zusammenarbeit mit ihr ablehnte und in diesem Zusammenhang auch eine Eigenkündigung in Aussicht stellte.

Vor diesem Hintergrund bereitete die Arbeitgeberin eine sog. Druckkündigung vor und begründete dies damit, dass eine solche Kündigungswelle die Gewährleistung der Kinderbetreuung, zu der die Beklagte verpflichtet sei, erheblich gefährden würde. Mildere Mittel gebe es nicht, da schon die bisherigen Bemühungen fruchtlos geblieben seien. Die Klägerin werde sich wegen ihrer Kritikunfähigkeit nicht ändern und bei einer etwaigen Versetzung oder Änderungskündigung an anderer Stelle ähnliche Probleme auslösen. Der Personalrat war mit der Kündigung einverstanden – die Klägerin naturgemäß nicht. Sie klagte hiergegen und bekam vom Arbeitsgericht Nordhausen Recht.
 
Die Entscheidung
Das Arbeitsgericht hielt zunächst fest, dass es an der Darlegung einer konkreten Pflichtverletzung fehle und damit kein klassischer Kündigungsgrund gegeben sei.
Doch auch als Druckkündigung könne die Kündigung keinen Bestand haben.

Eine Druckkündigung liegt vor, wenn Dritte die Entlassung eines bestimmten Arbeitnehmers verlangen und für den Fall von dessen Verbleib mit Nachteilen drohen. Nur wenn die Drohung nicht anders als durch Kündigung abgewendet werden kann, wenn weiterhin schwere wirtschaftliche Schäden drohen und es auch nicht gelingt, die Wogen wieder zu glätten, kann eine Druckkündigung wirksam sein.

Vorliegend sei der Arbeitgeberin vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur nicht schützend vor die Klägerin gestellt, sondern durch „Suggestivfragen“ praktisch erst die Kündigungsandrohungen herausgefordert habe. Damit habe sie selbst in vorwerfbarer Weise die Drucksituation, mit der sie nun argumentiere, herbeigeführt und die Belegschaft in ihrer negativen Haltung bestärkt. Es sei zweifelhaft, ob es wirklich noch in solch erheblichem Umfang eine Androhung von Eigenkündigungen gegeben hätte, wenn die Mitarbeiter nicht ausdrücklich danach gefragt worden wären und sich auch nicht hinter einer Anonymität hätten verstecken können.

Die vorherigen Maßnahmen würden bereits deshalb nicht den Kriterien, sich „schützend vor die Klägerin zu stellen“, entsprechen, weil diese bereits stattgefunden hatten, bevor mit Rücklauf zum Fragebogen die Kündigungsandrohungen erfolgten.

Letztendlich war das Arbeitsgericht auch nicht davon überzeugt, dass die Kündigung das praktisch einzige realistische Mittel zur Schadenabwendung sei, da es jedenfalls eine Änderungskündigung für möglich hielt. Dementsprechend war die Kündigungsschutzklage erfolgreich.
 
Bewertung
Die Entscheidung zeigt deutlich, dass selbst wenn Arbeitgeber und Belegschaft an „toxischem Verhalten“ verzweifeln, die Hürden für eine Kündigung aus diesen Gründen ausgesprochen hoch sind. In der Praxis ist es mitunter schwer zu vermitteln, was alles nicht ausreicht, um eine Kündigung zu stützen. Ein einfaches „das ist nicht auszuhalten“ war noch nie ein Kündigungsgrund.

Die erforderliche Gründlichkeit der Vorbereitung einer Druckkündigung wird oftmals unterschätzt, und kommt ein Arbeitgeber erst mit der eingegangenen Kündigungsschutzklage in die anwaltliche Beratung, ist meist kaum noch etwas zu retten. Bereits im Vorfeld sollte dafür Sorge getragen werden, das man nicht nur Vermittlungs- und Besänftigungs- bemühungen (ggf. auch Coaching-Angebote und Mediationsversuche) dokumentiert und belegt, sich – zunächst – schützend vor die angegriffene Person gestellt zu haben, sondern dass man sich auch mit allem zurückhält, was einen Drucksachverhalt scheinbar „rund“ macht. In der Ausgangslage muss man ggf. sogar die „Opfer“ toxischen Verhaltens in die arbeitsrechtlichen Schranken weisen, wenn sie sich z. B. mit Arbeitsverweigerung gegen problematische Kollegen widersetzen. Auch die Optionen einer Änderungskündigung zur Entschärfung möglicherweise an einzelnen Personenkonstellationen hängender Konflikte sind gründlich zu prüfen. Schließlich bedarf auch die Darstellung der befürchteten schweren wirtschaftlichen Nachteile einer gründlichen Vorbereitung. Nur wer den Sachverhalt wirklich akribisch aufbereitet und insbesondere auch ernsthaft versucht, den Druck abzuwenden und die Probleme irgendwie doch noch zu lösen, wird – bei Scheitern dieser Bemühungen – mit einer Druckkündigung Erfolg haben.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., B. Sc. (Psychologie), Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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August 2022


Annahmeverzug durch falsch verstandenen Infektionsschutz
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10.08.2022 – 5 AZR 154/22

Corona-spezifische Besonderheiten sind mittlerweile auch beim Bundesarbeitsgericht angekommen. In der vorliegenden Entscheidung wurde geklärt, dass Arbeitgeber nicht ohne Weiteres eigene, strengere Maßstäbe des Infektionsschutzes einseitig implementieren können, indem sie über die einschlägigen Verordnungen hinausgehend eine unbezahlte Quarantäne anordnen. Gerade die unsichere Rechtslage hinsichtlich des Umgangs mit der Corona-Situation bedarf einer ausgewogenen rechtlichen Analyse, bevor vorschnelle Entscheidungen getroffen werden.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Der klagende Arbeitnehmer hatte sich im August 2020 in der Türkei aufgehalten, die seinerzeit als „Corona-Risikogebiet“ klassifiziert worden war. Er absolvierte unmittelbar vor seiner Rückreise einen PCR-Test und testete sich nach Ankunft in Deutschland erneut. Sämtliche Tests waren negativ und er erhielt auch eine ärztliche Bestätigung über Symptomfreiheit. Unter diesen Umständen lagen damals die Voraussetzungen für eine Quarantäne nach der einschlägigen Corona-Verordnung nicht vor, da symptomfreie Personen mit negativem PCR-Testergebnis nicht in Quarantäne mussten.

Unter Vorlage von Testergebnissen und Attest wollte der Arbeitnehmer daher nach seiner Rückkehr seinen Dienst unmittelbar wieder antreten, wurde jedoch am Werkstor abgewiesen. Der Arbeitgeber ordnete unter Berufung auf das eigene Hygienekonzept eine 14tägigege Quarantäne an, auch weil man grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit von PCR-Testergebnissen hatte. In dieser Zeit konnte der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung nicht erbringen, da ihm bereits das Betreten des Betriebsgeländes verboten war.

Der Arbeitgeber stand auf dem Standpunkt, diese Zeiten mangels Arbeitsleistung auch nicht bezahlen zu müssen. Der Arbeitnehmer machte daher Annahmeverzugslohn im Umfang der auf die 14 Tage entfallenden Vergütung geltend. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gaben ihm Recht; hiergegen wandte sich die Arbeitgeberin mit der Revision.

Die Entscheidung
Wie schon die Vorinstanzen kam auch das Bundesarbeitsgericht zu dem Ergebnis, dass der Arbeitnehmer unter den geschilderten Umständen seine Leistung ordnungsgemäß angeboten hatte und auch nicht leistungsunfähig war. Dass er seine Arbeitsleistung nicht erbringen konnte, lag nicht an ihm, sondern an den von der Arbeitgeberin gesetzten Ursachen.

Die Arbeitgeberin sei zu diesen Einschränkungen nicht berechtigt gewesen, da die vorliegenden Umstände nicht zu einer Unzumutbarkeit der Beschäftigung führten. Die Anweisung zu einer 14tägigen Quarantäne – erst recht einer unbezahlten – erweise sich als unbillig, zumal dem Arbeitnehmer auch keine Möglichkeit eines Freitestens angeboten wurde. Die verständlichen Erwägungen zu Gesundheitsschutz und Fürsorge stellten keine ausreichende Begründung für ein solchermaßen rigoroses Vorgehen dar.

Da der Arbeitgeber sich demnach im Annahmeverzug befand, hatte der Arbeitnehmer Anspruch auf die entsprechende Vergütung.

Bewertung
Die Corona-Situation hat zahlreiche rechtlich spannende Fragen aufgeworfen, die nunmehr nach und nach auch höchstrichterlich geklärt werden. Dabei gelangen verhältnismäßig viele Fallkonstellationen bis in die höchste Instanz, da es sich wiederholt um noch nicht geklärte grundsätzliche Rechtsfragen handelt und teilweise auch divergierende Entscheidungen zustande kommen. Auch wenn es derzeit keine Hochrisikogebiete gibt und sich daher die vorliegende Fallkonstellation so eher nicht wiederholen wird, lässt sich grundsätzlich festhalten, dass auch bei der unklaren Pandemielage Schnellschüsse mit zu strengen Vorgaben zum Boomerang werden können. Die Entscheidungsträger sind daher in der Pflicht, besonnen zu überlegen, wie die betroffenen Interessen gegeneinander abgewogen werden können, anstatt alles dem Infektionsschutz unterzuordnen.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M. C. L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., FAArbR, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Arbeitsvertrag – Kein inhaltlich und zeitlich uneingeschränktes Geheimnisschutzgebot
ArbG Aachen, Urteil vom 13.01.2022 – 8 Ca 1229/20
 
Das ArbG Aachen setzt sich in der vorliegenden Entscheidung unter anderem mit einer arbeitsvertraglichen Geheimhaltungsklausel auseinander, wie sie in zahlreichen Musterbüchern so oder in geringfügig abgewandelter Form zu finden ist. Zutreffend hält das ArbG in diesem Zusammenhang fest, dass auf Grundlage der bloßen arbeitsvertraglichen Nebenpflicht oder einer pauschal gefassten Klausel für viele Arbeitnehmer nicht erkennbar ist, in Bezug auf welche Informationen genau sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Vor diesem Hintergrund kann das hier besprochene Urteil – insbesondere für Arbeitgeber, die auch auf nachvertragliche Geheimhaltung Wert legen – als eindringliche Erinnerung daran verstanden werden, der Arbeitsvertragsgestaltung rechtzeitig ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken.
 
Sachverhalt
Die Parteien streiten unter anderem über die Unterlassung der Weitergabe bestimmter Informationen, die die Klägerin als ihre Geschäftsgeheimnisse ansieht.
 
Die Klägerin stellt Füllmaschinen für Lebensmittel und Getränke sowie das zugehörige Verpackungsmaterial her. Der Beklagte war bei der Klägerin beschäftigt und an der Weiterentwicklung von deren Produkten beteiligt. Der zuletzt geltende Arbeitsvertrag sah auszugsweise folgende Regelung vor: Der Arbeitnehmer „wird über alle Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie alle sonstigen ihm im Rahmen der Tätigkeit zur Kenntnis gelangenden Angelegenheiten und Vorgänge der Gesellschaft Stillschweigen bewahren. Er wird dafür Sorge tragen, dass Dritte nicht unbefugt Kenntnis erlangen. Die Verpflichtung zur Geheimhaltung besteht über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus und umfasst auch die Inhalte dieses Vertrags.
 
Im Jahr 2016 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis. Zum Abschluss eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots kam es nicht. Der Beklagte ist seit 2017 für einen anderen Arbeitgeber tätig.
 
Die Klägerin erfuhr im Jahr 2018, dass der Beklagte bereits im Jahr 2015 an eine potentielle Konkurrentin der Klägerin E-Mails versandt hatte, die unter anderem technologische Angaben und Leistungsdaten enthielten, die nach Auffassung der Klägerin von zentraler Bedeutung für deren Produkte sind. Die Klägerin betrachtet diese Informationen als ihre Geschäftsgeheimnisse. Sie beantragte unter anderem, dem Beklagten zu untersagen, ihre Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse unbefugt an Dritte weiterzugeben.
 
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab und erkannte darauf, dass der Antrag unbegründet ist und sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf die arbeitsvertragliche Geheimhaltungsklausel berufen kann.
 
Die Entscheidung
Die Klausel verlange die Geheimhaltung aller Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie aller sonstigen, im Rahmen der Tätigkeit zur Kenntnis gelangten Angelegenheiten auch über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus. Es handele sich um eine sog. Catch-all-Klausel, die den Arbeitnehmer bis an sein Lebensende verpflichten soll, jede im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erlangte Information, noch nicht einmal eingeschränkt auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, geheim zu halten. Die Regelung gehe über das berechtigte Interesse des Arbeitgebers weit hinaus und trage der geschützten Berufsfreiheit des Arbeitnehmers nicht ausreichend Rechnung. Die in der Klausel enthaltene übermäßige Vertragsbindung für die Zeit nach Ende des Arbeitsverhältnisses sei gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und somit unwirksam. Ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an der Geheimhaltung müsse sich auf konkrete Daten und Sachverhalte beschränken und angeben, wie lange nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses die geheimhaltungsbedürftige Tatsache geheim zu halten ist.
 
Die Unwirksamkeit folge zudem aus § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Gesetzgeber ermögliche über (nachvertragliche) Wettbewerbsklauseln einen angemessenen Ausgleich; insofern sei eine Bindungsfrist von höchstens zwei Jahren und ein finanzieller Ausgleich vorgesehen. Ein inhaltlich und zeitlich uneingeschränktes Geheimnisschutzgebot führe dazu, dass der Arbeitnehmer in erheblicher Weise seine Berufstätigkeit einschränken muss, ohne dass eine zeitliche Grenze absehbar ist und ein finanzieller Ausgleich hierfür geleistet wird. Im Übrigen gelten die Regelungen des GeschGehG, die nur vertraglich konkretisiert werden können (und dies bei Geheimnisträgern in der Regel auch müssen).
 
Die Kammer hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gesondert zugelassen. Die Berufung wurde eingelegt beim Landesarbeitsgericht Köln unter dem Aktenzeichen 11 Sa 128/22.
 
Bewertung
Zahlreiche, in Musterbüchern noch vorzufindende, pauschal gefasste Geheimhaltungsklauseln dürften demnach unwirksam sein. Verzichten Arbeitgeber insofern auf eine wirksame vertragliche Regelung, droht eine maßgebliche Säule eines Geheimhaltungskonzepts keinen Bestand zu haben. Im Zuge der derzeit ohnehin – aufgrund der zum 1. August 2022 in Kraft getretenen Änderungen im Nachweisgesetz – angebrachten Änderungen von Arbeitsvertragsmustern sollte demnach auch ein besonderes Augenmerk auf einen möglichen Anpassungsbedarf von Geheimhaltungsklauseln gelegt werden.
 
Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Juli 2022

 



Ohne Darlegung keine Vergütung – keine Änderung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess im Lichte des sog. Stechuhr-Urteils des Eu
 
BAG, Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 359/21
 
Bei einer Klage auf Vergütung von Überstunden trifft den Arbeitnehmer nach den durch das BAG aufgestellten Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast. An diesen Grundsätzen ändert sich auch nichts durch das sog. Stechuhr-Urteil des EuGH (Urteil vom 14.05.2019 – C-55/19) betreffend die Pflicht zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung.
Sachverhalt und Vorinstanzen           
Der Kläger, ein Auslieferungsfahrer, verlangte vor dem Arbeitsgericht Emden unter anderem die Zahlung von Vergütung für 348 Überstunden, die aus der Auswertung einer technischen Aufzeichnung der Arbeitszeit hervorgingen. Die beklagte Arbeitgeberin erfasste Beginn und Ende der Arbeitszeit, wobei die vor Ort tätigen Mitarbeiter auch Pausen registrierten. Bei nicht vor Ort tätigen Fahrern wie dem Kläger wurden Anfangs- und Endzeiten zum Ausgleich automatisch gerundet. Der Kläger hat – ohne dies im Detail zu begründen – behauptet, er habe stets gearbeitet, ohne Pausen zu machen. Dies sei zur Erledigung der anfallenden Tätigkeiten auch erforderlich gewesen.
 
Nach gefestigter Rechtsprechung des BAG trifft bei einer Klage auf Vergütung geleisteter Überstunden den Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast sowohl für die tatsächliche Leistung von Überstunden als auch für die Anordnung, Duldung oder Billigung der Überstunden durch den Arbeitgeber. Das Arbeitsgericht Emden (Urteil vom 09.11.2020 - 2 Ca 399/18) sprach dem Kläger dennoch unter anderem die Vergütung für die 348 Überstunden zu. Es zog zur Begründung das sog. Stechuhr-Urteil des EuGH heran. In diesem Urteil legte der EuGH die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) wie folgt aus: Arbeitgeber seien nach nationalem Recht zu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Nach Auffassung des ArbG Emden bestehe im Lichte dieses Urteils eine Pflicht zur dementsprechenden Arbeitszeiterfassung in unionsrechtskonformer Auslegung insbesondere des § 618 BGB. Dem genüge die Zeiterfassung der Beklagten nicht. Dies stelle eine Beweisvereitelung durch die Beklagte dar und führe de facto zu einer Beweislastumkehr. Ähnlich hatte sich das ArbG Emden auch in zwei weiteren Entscheidungen aus dem Jahr 2020 positioniert (Urteil vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19; Urteil vom 24.09.2020 - 2 Ca 144/20).
 
Das LAG Niedersachsen (Urteil vom 06.05.2021 – 5 Sa 1292/20) hat das Urteil, u.a. soweit es um die Vergütung der 348 Überstunden ging, aufgehoben. Das Urteil des EuGH könne sich auf die Darlegungs- und Beweislast bei Klage auf Vergütung von Überstunden jedenfalls nicht hinsichtlich der Anordnung, Duldung oder Billigung von Überstunden durch den Arbeitgeber auswirken. Das Urteil befasse sich allein mit Fragen des Arbeitsschutzes. Dem EuGH fehle bereits die Kompetenz hinsichtlich Fragen der Arbeitsvergütung zu entscheiden, was sich bereits aus § 153 Abs. 5 AEUV ergebe. Es verbleibe insoweit bei den durch das BAG aufgestellten Grundsätzen zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess. Ausgehend von diesen Grundsätzen habe der Kläger mindestens die Voraussetzungen einer arbeitgeberseitigen Veranlassung der Überstunden nicht hinreichend dargelegt.
 
Trotz der eindeutigen Absage des LAG Niedersachsen hat die Auffassung des ArbG Emden für große Verunsicherung unter Arbeitgebern gesorgt und die Landesarbeitsgerichte auch über Niedersachsen hinaus beschäftigt (vgl. z.B. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.02.2021 – 8 Sa 169/20).
 
Entscheidung
Das BAG hat sich der Auffassung des LAG Niedersachsen angeschlossen und die gegen das Urteil gerichtete Revision des Klägers zurückgewiesen. Die Urteilsgründe sind bislang noch nicht veröffentlicht. Der Pressemitteilung des BAG ist zu entnehmen, dass es bei dem Grundsatz der Darlegungs- und Beweislast des Arbeitnehmers insbesondere für die arbeitgeberseitige Veranlassung von Überstunden bleibe. Anderes folge auch nicht aus dem genannten Urteil des EuGH. Dieses sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen, doch diese Bestimmungen fänden grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung.
Wie das BAG seine Auffassung dogmatisch im Detail untermauert und ob das BAG die Entscheidung zum Anlass nimmt, sich – ggf. in einem obiter dictum – noch über die Überstundenthematik hinaus zum Umgang mit dem Urteil des EuGH zu äußern, wird erst die Veröffentlichung der Urteilsgründe zeigen.
 
Bewertung
Fest steht nunmehr, dass es derzeit bei den Grundsätzen der Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess bleibt. Auch unterstreicht die Entscheidung die Trennung der „arbeitszeitlichen Dimensionen“ Vergütung auf der einen und Arbeitsschutz auf der anderen Seite. Diese Trennung ist nicht nur auf Ebene der nationalen Gesetze, sondern eben auch auf der Ebene europarechtlicher Kompetenzregelungen von großer Bedeutung.
 
Aus Arbeitgebersicht ist die Entscheidung zu begrüßen. Hätte sich das BAG der Auffassung des ArbG Emden angeschlossen, hätte dies nicht nur zu einer Vielzahl von Klagen auf Überstundenvergütung geführt. Vielmehr hätten sich Arbeitgeber und Rechtsberater in der – unbefriedigenden – Situation vorgefunden, eine innerbetriebliche Lösung zur rechtssicheren Umsetzung der Entscheidung des EuGH zu finden, ohne dass der Gesetzgeber bisher die in der Entscheidung dargelegte Auslegung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie in nationales Recht umgesetzt hätte.
 
Eine Umsetzung in nationales Recht steht auch mehr als drei Jahre nach der Entscheidung noch aus. Auch die geplante Teilumsetzung in Form einer elektronischen Arbeitszeiterfassung für einzelne Branchen im Referentenwurf zum (vielfach kritisierten) „Zweiten Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“ ist im Regierungsentwurf nicht mehr enthalten.
 
Das sog. Stechuhr-Urteil des EuGH wird Arbeitgeber, Rechtsberater und Rechtsprechung auch in Zukunft weiter beschäftigen. Ob und wie sich dessen Umsetzung in nationales Recht auf die Überstundenvergütung auswirken wird, bleibt abzuwarten.
 
Janine Gebhart, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB
 


 

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Einrichtungsbezogene Impfpflicht – Täuschung über Impfunfähigkeit
ArbG Lübeck, Urteil vom 13.04.2022 – 5 Ca 189/22
 
Im Rahmen der Coronavirus-Krise haben schon gefälschte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eine unrühmliche Rolle eingenommen. Nahtlos knüpfen gefälschte Impfunfähigkeitsnachweise jetzt daran an, nachdem in § 20a Abs. 1 IfSG eine einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt worden ist. Das ArbG Lübeck hat in einer der ersten Entscheidungen zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht klargestellt, dass das Infektionsschutzgesetz einen „vorläufigen“ Impfunfähigkeitsnachweis nicht kennt und die Vorlage eines gefälschten Impfunfähigkeitsnachweises zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen kann.
 
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen und fristlosen, hilfsweise außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
 
Die Beklagte bat ihre Beschäftigten um Vorlage eines der nach § 20a Abs. 2 IfSG vorgesehenen Nachweise, nachdem sie diese zuvor über die einrichtungsbezogene Impfpflicht nach § 20a Abs. 1 IfSG informiert hatte. Hierauf legte die seit ca. 18 Jahren bei der Beklagten beschäftigte Klägerin eine Bescheinigung über eine angeblich vorläufige Impf-Kontraindikation vor. Das Gesundheitsamt, dem die Beklagte diese Bescheinigung nach § 20a Abs. 2 S. 2 IfSG wiederum vorlegte, kam zu dem Schluss, dass die Bescheinigung schlicht aus dem Internet heruntergeladen wurde und auch keine ärztliche Untersuchung zugrunde lag. Hierauf sprach die Beklagte gegenüber der tarifvertraglich ordentlich unkündbaren Klägerin eine außerordentliche und fristlose, hilfsweise außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist aus, nachdem der bei der Beklagten gebildete Betriebsrat der Kündigung zugestimmt hatte.
 
Die Klägerin wandte sich gegen die Kündigung und machte unter anderem geltend, dass ausschließlich das Gesundheitsamt den Fall zu untersuchen habe und arbeitsrechtliche Rechtsfolgen immer von der Entscheidung des Gesundheitsamtes abhängig seien.
 
Die Entscheidung
 
Das Arbeitsgericht wies die Klage im Wesentlichen ab und erkannte darauf, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die hilfsweise außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist beendet wird.
 
Mit der Vorlage des nicht auf einer ärztlichen Untersuchung beruhenden Dokuments habe die Klägerin versucht, die Beklagte über ihre Impfunfähigkeit zu täuschen. Damit habe sie in schwerwiegender Weise gegen ihre auf § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG beruhende arbeitsvertragliche Nebenpflicht verstoßen.
 
Es könne unterstellt werden, dass die Klägerin wusste, dass die Bescheinigung nicht auf einer ärztlichen Untersuchung beruhte und damit keine Anhaltspunkte für eine Impfunfähigkeit belegen konnte. Es obliege zudem nicht ausschließlich dem Gesundheitsamt, Maßnahmen zu ergreifen. Unabhängig von den öffentlich-rechtlichen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes bestünden im Arbeitsverhältnis (Neben-)Pflichten, die auch aus § 20a Abs. 2 S. 1 Ziff. 1-3 IfSG folgen. Ein der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nach § 20a Abs. 1 S. 1 IfSG unterliegender Arbeitnehmer habe demnach, wenn er sie vorlege, ordnungsgemäße und korrekte Nachweise vorzulegen. Der Ausspruch arbeitsrechtlicher Maßnahmen obliege allein dem Arbeitgeber, nicht dem Gesundheitsamt. Zu Lasten der Klägerin sei zu werten, dass sie die Wahl gehabt habe, auch keinen Nachweis vorzulegen. Dennoch habe sie einen gefälschten Impfunfähigkeitsnachweis vorgelegt.
 
Im Ergebnis habe die Klägerin schwerwiegend ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, zudem habe sie eine fehlende Einsichtsfähigkeit gezeigt. Unter Einbeziehung ihrer langen Betriebszugehörigkeit sei aus sozialen Erwägungen (nur) die hilfsweise außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist angemessen und verhältnismäßig.
 
Bewertung
Die Entscheidung des ArbG Lübeck ist eines der ersten Urteile, die sich mit einer Kündigung im Rahmen der einrichtungsbezogenen Impflicht befassen. Erfreulich klar ist die Entscheidung darin, dass die abwegige Auffassung der Klägerin, wonach § 20a IfSG arbeitsrechtliche Maßnahmen ausschließen soll, unzutreffend ist. Im Fall der Vorlage eines Nachweises sind Arbeitnehmer dazu verpflichtet, einen ordnungsgemäßen und korrekten Nachweis vorzulegen. Legen Arbeitnehmer gefälschte Nachweise vor, sollte der Arbeitgeber nicht davor zurückschrecken, umgehend Maßnahmen zu ergreifen.
 
Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin



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Juni 2022



Keine Soll-Angaben bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG erforderlich
BAG, Urteil vom 19. Mai 2022 – 2 AZR 467/21

Seit Jahren beschäftigt sich die Arbeitsgerichtbarkeit immer wieder mit den Anforderungen an die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige. Die Rechtsprechung ist hierzu stetig im Wandel, was zu erheblichen Unsicherheiten für den Arbeitgeber führt. Mit Spannung wurde daher auch diese Entscheidung des BAG zur Massenentlassungsanzeige erwartet. Das BAG hatte darüber zu entscheiden, ob das Fehlen der Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zur Unwirksamkeit der Massenent­lassungs­anzeige führt. Dies hat das BAG erfreulicherweise verneint.

Sachverhalt und Vorinstanz
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung. Der Arbeitgeber hatte einer Vielzahl an Arbeitnehmern eine betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen und dabei innerhalb des 30-Tages-Zeitraums die Schwellenwerte des § 17 KSchG überschritten, sodass eine anzeigepflichtige Entlassung vorlag. Bei der Erstattung der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG hatte der Arbeitgeber unstreitig nicht die Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG mitgeteilt. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG lautet: „In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden.“

Der Arbeitnehmer hatte die Verletzung nach § 17 KSchG gerügt und die Ansicht vertreten, dass die Massenentlassungsanzeige aufgrund des Fehlens der Soll-Angaben unwirksam sei und dies zur Nichtigkeit der Kündigung führe.

Das vorinstanzlich zuständige LAG Hessen hatte der Kündigungsschutzklage aus diesem Grund stattgegeben. Aus Sicht des LAG Hessen sei die Kündigung nach § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB unwirksam, weil vor ihrem Zugang mangels Soll-Angaben keine wirksame Massenentlassungs­anzeige erfolgt sei. Das LAG Hessen war der Ansicht, dass § 17 Abs. 3 KSchG richtlinienkonform auszulegen sei. Art 3 Abs. 1 UAbs. 3 der Massenentlassungs-RL („MERL“) verlange die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben, worunter auch die Soll-Angaben fallen würden. Art 3 MERL unterscheide nämlich nicht zwischen solchen Angaben, die auf jeden Fall erfolgen müssen und solchen, die zwar zweckdienlich, aber gleichwohl verzichtbar sind. Das LAG Hessen ging sogar soweit, dass es nicht nur die Mitteilung der Soll-Angaben forderte, die dem Arbeitgeber bekannt sind. Es legte dem Arbeitgeber darüber hinaus sogar eine entsprechende Nachforschungspflicht auf.

Entscheidung
Das BAG hat die Entscheidung des LAG Hessen aufgehoben und wegen weiterer Feststellungen an das LAG zurückgewiesen. Nach zutreffender Auffassung des BAG führt ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und damit auch nicht zur Nichtigkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen. Das BAG führt zur Begründung an, dass sich die nationalen Gerichte nicht über die gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzen dürfen und eine richtlinienkonforme Auslegung auch nicht geboten ist. Ausweislich der bislang lediglich vorliegenden Pressemitteilung ist das BAG der Ansicht, dass durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt ist, dass die Soll-Angaben nicht gemäß Art. 3 Abs. 1 UAbs. 4 MERL in der Anzeige enthalten sein müssen.

Bewertung
Entgegen der Erwartung einiger im Fachkreis hat das BAG diese Frage nicht dem EuGH vorgelegt, sondern selbst entschieden. Das Urteil des BAG ist äußerst begrüßenswert. Die Erstattung der Massenentlassungsanzeige ist für den Arbeitgeber u.a. aufgrund von Rechtsprechungs­änderungen ein reines Minenfeld. Die Entscheidung bringt zumindest in diesem Punkt Klarheit.

Die nicht nachvollziehbare Entscheidung des LAG Hessen ist auf erhebliche Kritik gestoßen. Die vom LAG vorgenommene Auslegung widerspricht dem klaren Gesetzeswortlaut und der Gesetzeshistorie. Das Gesetz unterscheidet gerade zwischen Sollangaben auf der einen und zwingenden Mussangaben auf der anderen Seite. Eine richtlinienkonforme Auslegung, welche gegen den Wortlaut „soll“ die Vorschrift in eine Liste weiterer Mussangaben verwandelt, ist mit dem Gesetzeswortlaut nicht vereinbar und verstößt gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz.
 
Des Weiteren hat das LAG Hessen verkannt, dass das Fehlen einer Soll-Angabe aufgrund seiner Natur als Nicht-Pflichtangabe keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Massenentlassungs­anzeige hat und erst recht nicht auf die Wirksamkeit der Kündigung. Dies steht im Einklang mit der herrschenden Meinung in der Literatur und der bis dahin erfolgten unterinstanzlichen Rechtsprechung.
 
Ferner ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 MERL gerade nicht, dass die Soll-Angaben zweckdienliche Angaben sind. Die Richtlinie verhält sich zu diesen Kriterien nämlich nicht. Die in der Richtlinie genannten Kriterien knüpfen auch nicht unmittelbar an persönliche Eigenschaften des Arbeitnehmers an, wie es bei den Soll-Angaben der Fall ist, sondern enthalten lediglich objektive Angaben zum Betrieb.

Natalie Schirmer, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

   
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Fortbildungskosten verloren und selbst was gelernt
BAG vom 01.03.2022, 9 AZR 260/21
 
Der Fachkräftemangel ist ein Dauerthema und bedeutet zugleich einen hohen Anreiz für Arbeitgeber, selbst in zukünftige Fachkräfte zu investieren – entsprechende Kursgebühren und der Gegenwert der dafür aufgewendeten Arbeitszeit können ein erhebliches Volumen erreichen. Verständlich daher, dass Arbeitgeber dann auch von den so erworbenen Qualifikationen noch mindestens eine gewisse Zeit profitieren wollen und nicht begeistert sind, wenn man letztlich für die Konkurrenz ausgebildet hat, zu der nach erfolgter Zusatzqualifikation ein schneller Wechsel erfolgt. Die Voraussetzungen für die Geltendmachung entsprechender Rückzahlungsansprüche sind aber vergleichsweise streng, und in der Praxis unterlaufen hier Arbeitgebern vielfältige Fehler, wie – einmal mehr – eine kürzlich vom BAG entschiedene Fallkonstellation zeigt.
 
Sachverhalt
Gestritten wurde über eine mögliche Rückzahlungsverpflichtung einer Arbeitnehmerin, die ihr Arbeitsverhältnis als Altenpflegerin in einer Reha-Klinik selbst gekündigt hatte. Sie hatte unmittelbar zuvor eine Fortbildung als Fachtherapeutin für Wundversorgung absolviert und wurde hierfür bezahlt freigestellt. Auch die Kursgebühren hatte der Arbeitgeber übernommen. Die Gesamtkosten wurden in einer separaten Vereinbarung über die Fortbildung mit EUR 4.090,00 beziffert, und die Arbeitnehmerin verpflichtete sich darin, im Anschluss mindestens 6 Monate im Arbeitsverhältnis zu verbleiben. Für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis früher enden sollte, sah die Fortbildungsvereinbarung unter bestimmten Voraussetzungen eine gestaffelte Rückzahlungspflicht vor.
 
Die Arbeitnehmerin sprach dann tatsächlich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Abschluss der Fortbildung eine Eigenkündigung aus. Der Arbeitgeber machte daher eine anteilige Kostenerstattung geltend. Die Arbeitnehmerin verweigerte die Zahlung und berief sich darauf, dass sie aus gesundheitlichen Gründen gekündigt habe. Es stelle eine unangemessene Benachteiligung dar, wenn sie an einem Arbeitsverhältnis festhalten müsse, das sie nicht weiterführen könne. Die Rückzahlungsverpflichtung sei daher unwirksam und der Anspruch bestehe nicht.
 
Entscheidung 
Das Bundesarbeitsgericht gab der Mitarbeiterin recht und wies die Klage des Arbeitgebers auf Rückzahlung anteiliger Fortbildungskosten ab. Es sah die Klausel zur Rückzahlungsverpflichtung als unangemessene Benachteiligung an. Zwar seien Rückzahlungsvereinbarungen über Fortbildungskosten grundsätzlich zulässig – würden diese aber ohne weitere Differenzierung jegliche Eigenkündigung als Auslöser einer Rückzahlungsverpflichtung vorsehen, so wären damit auch solche Fälle eines vorzeitigen Ausscheidens erfasst, bei denen dies nicht sachgerecht ist. Ein Arbeitnehmer müsse es in der Hand haben, durch eigene Betriebstreue der Rückzahlungsverpflichtung zu entgehen. Vorliegend fordere die Verpflichtung faktisch eine Bindung an ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis, ohne dass der Arbeitgeber daran ein billigenswertes Interesse haben könne. Da die hiesige Arbeitnehmerin auf Dauer krankheitsbedingt nicht die geschuldete Leistung erbringen konnte, war die Klausel unangemessen und hielt daher einer Inhaltskontrolle nicht stand. Dementsprechend konnte der Arbeitgeber hieraus auch keine Ansprüche durchsetzen.
 
Bewertung
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Rückzahlungsklauseln für Fortbildungskosten bedürfen einer sorgfältigen Formulierung – werden Fallkonstellationen mit erfasst, bei denen dies unangemessen ist, ist die Klausel generell unwirksam. Typische Fehlerquellen sind neben einer fehlenden Differenzierung nach den Umständen von Eigenkündigungen auch Fälle einer zu langen Bindungsdauer, die die Freiheit des Arbeitnehmers, den Arbeitsplatz zu wechseln, unangemessen einschränkt.
 
Für die Praxis ist dabei zu bedenken, dass sich alle Betroffenen auf eine solche Unwirksamkeit berufen können – selbst dann, wenn Arbeitnehmer eine Fallkonstellation aufweisen, bei der die Regelung einer Rückzahlungsverpflichtung zulässig gewesen wäre. Eine ungeschickte Klauselgestaltung ist daher nicht nur bei den fälschlich erfassten Fällen verheerend, sondern letztendlich bei allen Sachverhalten.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin/Hamburg

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Mai 2022



Vollstreckbar muss er sein – die Bestimmtheit von Anträgen zur Auskunft über und Kopie von personenbezogenen Daten
BAG, Urteil vom 16.12.2021, 2 AZR 235/21

Der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2 DS-GVO und der damit oft einhergehende Kopieerteilungsanspruch nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DS-GVO werden bei Arbeitnehmern ein zunehmend beliebteres Mittel um den Arbeitgeber unter Druck zu setzen und sich dadurch möglicherweise auch eine bessere Verhandlungsposition in Abfindungsgesprächen zu verschaffen. Der Arbeitgeber ist vor dem schieren Volumen der sich im Unternehmensalltag ansammelnden personenbezogenen Daten und dem Zeitdruck zur Erfüllung des Kopieerteilungsanspruchs im Hinblick auf die Monatsfrist aus Art. 12 Abs. 3 DS-GVO oft überfordert, vor allem wenn Schadensersatz und Geldbuße drohen im Falle der Nichterfüllung bzw. nicht rechtzeitigen oder nicht vollständigen Erfüllung. Diesem oft „unbegrenzt“ wirkenden Anspruch hat das BAG in seiner Entscheidung nun versucht Grenzen aufzuzeigen durch die Anforderungen an die Bestimmtheit der Anträge.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Der hier gegenständlichen Entscheidung ging ein Streit der Parteien um eine vom Arbeitgeber ausgesprochene verhaltensbedingte Kündigung voraus, die unter anderem auf Vorwürfen aus einem internen „Whistleblower“-System gestützt wurde. Die Kündigungsschutzklage ist zugunsten des Arbeitnehmers in einem abgetrennten Verfahren entschieden worden, sodass sich das BAG hier nur noch mit der Frage nach dem Auskunfts- und Kopieerteilungsanspruch auseinanderzusetzen hatte. 
Der Arbeitnehmer beantragte zur Geltendmachung seiner Ansprüche aus Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2 DS-GVO und Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DS-GVO (unverändert durch alle Instanzen hindurch),
1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Auskunft über die von ihr verarbeiteten und nicht in der Personalakte des Klägers gespeicherten personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten des Klägers zu erteilen, im Hinblick auf
  • die Zwecke der Datenverarbeitung,
  • die Empfänger, gegenüber denen die Beklagte die personenbezogenen Daten des Klägers offengelegt hat oder noch offenlegen wird,
  • die Speicherdauer oder, falls dies nicht möglich ist, Kriterien für die Festlegung der Dauer,
  • die Herkunft der personenbezogenen Daten des Klägers, soweit die Beklagte diese nicht bei dem Kläger selbst erhoben hat und
  • das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling sowie aussagekräftiger Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebte Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Kopie seiner personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten, die Gegenstand der von ihr vorgenommenen Verarbeitung sind, zur Verfügung zu stellen.

Der Ansicht des Arbeitnehmers nach sei bei datenschutzrechtlichen Ansprüchen ein besonders großzügiger Maßstab für die Bestimmtheit des Klageantrags geboten. Besonders interessiere ihn eine Auskunft über die personenbezogenen Daten im Zusammenhang seines E-Mail-Verkehrs mit einem weiteren Mitarbeiter des Arbeitgebers sowie die ihn betreffenden „Whistleblower“-Fälle und etwaige Performance-Bewertungen. Ob der Arbeitgeber zum Schutz Dritter berechtigt sei, Kopien von Daten zurückzuhalten, sei erst im Vollstreckungsverfahren zu klären.

Für den Arbeitgeber fehlte es den Anträgen jedoch an Bestimmtheit. Sie seien daher nicht vollstreckungsfähig. Im Übrigen sei er dem Auskunftsanspruch bereits mit zwei vorangegangenen Schreiben nachgekommen.

Das erstinstanzlich zuständige Arbeitsgericht Stuttgart hatte der Klage im Hinblick auf die datenschutzrechtlichen Ansprüche in vollem Umfang stattgegeben. Das Berufungsgericht LAG Baden-Württemberg hat daraufhin dieses Urteil teilweise abgeändert durch Neufassung des Tenors mit zahlreichen Einschränkungen, Bedingungen und Beispielsfällen. Hiergegen legten beide Parteien Revision ein. Dies hatte jedoch nur hinsichtlich der Revision des Arbeitgebers Erfolg.

Entscheidung
Das BAG hat hier zum einen das Urteil des Berufungsgerichts mit seinen Abänderungen des Klageantrags und zum anderen den Klageantrag selbst als nicht hinreichend bestimmt angesehen.

Dem Urteil des Berufungsgerichts fehle es an Bestimmtheit, da grundsätzlich ein Titel einen aus sich heraus bestimmten oder zumindest bestimmbaren Inhalt haben müsse. Durch die Bezugnahme auf diverse gesetzliche Regelungen im Urteilstenor des Berufungsgerichtes sei unabhängig von der Frage der Bestimmtheit des ursprünglichen Antrages weder für den Arbeitgeber noch das Vollstreckungsorgan erkennbar, welche Verpflichtungen hier nach Entscheidungsausspruch zu erfüllen seien. Der Streit um den Inhalt der Verpflichtung sei jedoch Frage des Erkenntnisverfahrens, nicht des Vollstreckungsverfahrens.

Auch die Klageanträge selbst seien mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig. Bei dem Auskunftsanspruch (Antrag 1) begründet das BAG diese Entscheidung insbesondere damit, dass ergänzend zum Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2 DS-GVO noch auslegungsbedürftige Begriffe („Leistungs- und Verhaltensdaten“) verwendet wurden, über deren Bedeutung Zweifel bestünden zwischen den Parteien. Ebenfalls führe die Exklusion der Daten, „die nicht in der Personalakte gespeichert“ seien, zur Unklarheit über die überhaupt verlangten Auskünfte. Bei „Leistungs- und Verhaltensdaten“ handele es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die auch bei Rückgriff auf andere Normen nicht zu einer hinreichend bestimmbaren Verpflichtung des Arbeitgebers führen können. Damit würde die Frage nach den konkret zu leistenden Auskünften unzulässigerweise in das Vollstreckungsverfahren verschoben werden.
Aber auch der geltend gemachte Kopieerteilungsanspruch (Antrag 2) sei kein hinreichend bestimmter Klageantrag, da er lediglich abstrakt eine begehrte „Kopie“ unter Wiederholung des Wortlauts von Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DS-GVO und erneutem Hinzufügen von unbestimmten Rechtsbegriffen fordere. Für die Vollstreckung sei dadurch nicht klar, auf welche personenbezogenen Daten sich dies beziehe und wann der Anspruch erfüllt sei. Das BAG hält den Arbeitnehmer hier an, seine datenschutzrechtlichen Ansprüche im Wege einer Stufenklage geltend zu machen: Auf erster Stufe sei zunächst sein Begehren auf Erteilung einer Auskunft zu richten, welche personenbezogenen Daten bei der Arbeitgeberin verarbeitet werden, auf zweiter Stufe gegebenenfalls auf Abgabe einer Versicherung an Eides statt über die Vollständigkeit der Auskunft und schließlich erst auf dritter Stufe die Herausgabe einer Kopie der sich aus der ersten Stufe ergebenden Daten.

Offen lässt das BAG jedoch die Frage, ob ein Antrag, der sich rein am Gesetzeswortlaut von Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2 DS-GVO orientiert bei zuvor noch gar nicht erfolgter Auskunft des Arbeitgebers hinreichend bestimmt wäre.

Aufgrund dieser Begründung hatte auch die Revision des Arbeitnehmers auf Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils keinen Erfolg. Das BAG sah hier auch kein Bedürfnis, die Angelegenheit dem EuGH vorzulegen, da es sich um eine rein nach deutschem Recht zu bewertende Verfahrensmodalität handele.

Bewertung
Gerade vor der Drohkulisse von Schadensersatzansprüchen des Arbeitnehmers oder Geldbußen bei Verstößen gegen datenschutzrechtliche Ansprüche von bis zu 20.000.000 EUR, ist es zu begrüßen, dass das BAG dem Arbeitnehmer hier ein gewisses Mindestmaß an Bestimmtheit seiner Anträge vorschreibt und sich die Frage nach der konkreten Verpflichtung, zu welcher der Arbeitgeber verurteilt wird, nicht in das Zwangsvollstreckungsverfahren verlagert. So wurde vom BAG betont, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers aus den Anträgen bzw. dem Tenor erkennbar sein muss.

Ebenfalls ist es zu befürworten, dass der Arbeitnehmer in diesem Urteil mit eindrücklichen Worten auf das Vorgehen der Stufenklage verwiesen wird. Denn dadurch kann das von Arbeitnehmern oft herangezogene „Schwert“ der Monatsfrist beim Kopieerteilungsanspruch etwas an Schärfe verlieren: Dem Arbeitgeber wird während der Geltendmachung der ersten und zweiten Stufe etwas mehr Vorbereitungszeit eingeräumt, um dem im Anschluss auch klar umrissenen Kopieerteilungsanspruch nachzukommen. 
Wünschenswert wäre jedoch auch eine Klärung der hier vom BAG offen gelassenen Frage, ob eine Geltendmachung des Auskunftsanspruches in Form einer wörtlichen Wiedergabe des Gesetzestextes zulässig wäre. Bei diesem häufig in der Praxis vorkommenden Fall sollten Arbeitgeber daher auch weiterhin bis zur höchstrichterlichen Klärung einen so gestellten Auskunftsanspruch fristgerecht und umfassend beantworten.

Nora-Franziska Först, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

   
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Jemanden fragen, der sich damit auskennt …
LAG Hamm vom 11.01.2022, 14 Sa 938/21
 
Bei arbeitsrechtlichen Fragen ist der Betriebsrat oft ein beliebter Anlaufpunkt für die Betriebsangehörigen – kein Wunder, da sich nach einiger Zeit der Betriebsratstätigkeit nicht selten ein enormes arbeitsrechtliches Wissen ansammeln kann. Kritisch wird es aber für einzelne Arbeitnehmer, wenn sich Betriebsräte insoweit überschätzen und eine falsche rechtliche Einschätzung abgeben. Das LAG Hamm hat nun entschieden, dass sich Arbeitnehmer insoweit nicht auf eine fehlerhafte Auskunft berufen können.
 
Sachverhalt und Vorinstanz
Der Arbeitnehmer hatte eine fristgemäße Kündigung – mit sozialer Auslauffrist aufgrund besonderen tariflichen Kündigungsschutzes – erhalten und wandte sich diesbezüglich an den Betriebsrat. Das Gremium war im Vorjahr erstmals gewählt worden.
 
Der Betriebsratsvorsitzende informierte den Arbeitnehmer darüber, dass es an einer Betriebsratsanhörung gefehlt habe und der Betriebsrat sich um die Angelegenheit kümmern werde. Er, der Arbeitnehmer müsse nichts weiter veranlassen. Der Arbeitnehmer ließ daraufhin die bei Kündigungen maßgebliche dreiwöchige Klagefrist verstreichen, ohne das Arbeitsgericht anzurufen. Erst kurze Zeit später bekam er mit, dass ein Fristablauf dazu führen kann, dass die Kündigung als wirksam anzusehen ist. Er beantragte daher nachträgliche Klagezulassung und erhob doch noch Kündigungsschutzklage. Hierbei berief er sich zum einen auf die fehlerhafte Auskunft des Betriebsrats, zum anderen auch darauf, dass ihm die Klagefrist nicht bekannt gewesen sei. Außerdem habe er noch nach der Kündigung eine Einladung zu einem BEM-Gespräch bekommen, welches dann nur wegen einer Erkrankung des Geschäftsführers nicht stattgefunden habe. Dies habe er so verstanden, dass sein Beschäftigungsverhältnis fortgesetzt werde.
 
Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht ließ die Klage nicht nachträglich zu, so dass die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam anzusehen ist. Es sah einen vermeidbaren Fehler auf Seiten des Arbeitnehmers, der sich auf die Auskunft einer nicht „zur Erteilung von Rechtsauskünften geeigneten Stelle“ verlassen habe. Nur wenn sich der Arbeitnehmer auf eine Falschauskunft einer kompetenten Stelle – beispielsweise der Gewerkschaft – verlassen hätte, komme eine nachträgliche Zulassung in Betracht. Die Beratung in individualrechtlichen Fragen gehöre nicht zu den gesetzlichen Aufgaben des Betriebsrats – dies habe der Arbeitnehmer wissen müssen, so dass es sein eigenes Risiko gewesen sei, sich auf eine diesbezügliche Auskunft des Betriebsratsvorsitzenden zu verlassen.
 
Eine nachträgliche Klagezulassung ist nach § 5 KSchG nur vorgesehen, wenn der Arbeitnehmer „trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt“ die Klagefrist versäumt hat. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht erfüllt. Insbesondere ist es auch keine geeignete Begründung, sich auf Unkenntnis bzgl. der Dreiwochenfrist zu berufen.
 
Das von Arbeitgeberseite vorgesehene BEM-Gespräch sei ebenfalls kein Argument, um ein Festhalten an der Kündigung zu bestreiten, da bei der im konkreten Fall anwendbaren siebenmonatigen Kündigungsfrist eine BEM-Einladung nicht entbehrlich war – auch den Gekündigten insoweit einzuladen, entsprach vielmehr den generellen gesetzlichen Vorgaben. Daher könne dies nicht als Kündigungsrücknahme verstanden werden.
 
Die Revision wurde zugelassen.
 
Bewertung
Die Entscheidung ist vollumfänglich zu begrüßen. Andernfalls wären Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet, wenn nach versäumter Klagefrist ein Betriebsratsmitglied mit der hehren Absicht eines Beitrags zum Arbeitsplatzerhalt meinen sollte, in Form der Abgabe eines entsprechenden Schuldeingeständnisses das Richtige zu tun und dem Arbeitnehmer doch nur helfen zu wollen.
 
Es ist zu hoffen, dass das Bundesarbeitsgericht hier nicht aus Überinterpretation des Anliegens des Arbeitnehmerschutzes entscheidet, Falschauskünfte des Betriebsrats faktisch dem Arbeitgeber zur Last zu legen. Insbesondere ist zu hoffen, dass nicht ab einer gewissen – niemals rechtssicher abgrenzbaren – Größe des Betriebsratsgremiums unterstellt wird, dass beispielsweise zumindest die freigestellten Betriebsratsmitglieder als doch hinreichend geeignete Quellen für Rechtsauskünfte anzusehen seien.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin/Hamburg

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April 2022

 
Ver(schlimm)besserung des Sonderkündigungsschutzes bei Schwerbehinderung?
EuGH vom 10.02.2022, C-485/20

Beschäftigte mit Schwerbehinderung genießen einen besonderen Kündigungsschutz – nach deutschem Recht beginnt dieser nach sechs Monaten Beschäftigungsverhältnis und sieht insbesondere ein Zustimmungserfordernis seitens des Integrationsamtes bzw. Inklusionsamtes vor. Dieses prüft bei einer angezeigten Kündigungsabsicht, ob die Kündigung im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung steht – sieht es die Rechte des Betroffenen als nicht ausreichend gewahrt an, kommt es in der Praxis durchaus zu einer Zustimmungsverweigerung, die dann auf dem Verwaltungsrechtsweg angegriffen werden kann. Der erst verzögert einsetzende Kündigungsschutz bedeutet zugleich ein Spannungsverhältnis, da dem Erprobungsinteresse des Arbeitgebers ein Interesse des Beschäftigten gegenüber steht, nicht etwa wegen des nach Ablauf von sechs Monaten vermeintlich „zu starken“ Kündigungsschutzes noch in der Probezeit gekündigt zu werden, bevor die Dinge für so manchen Arbeitgeber zu kompliziert erscheinen. Der EuGH hat in der hier zu besprechenden Entscheidung den Weg für eine partielle Vorverlagerung des Kündigungsschutzes geebnet – und damit möglicherweise in der Praxis die Hemmschwelle zur (jedenfalls unbefristeten) Einstellung schwerbehinderter Beschäftigter erhöht.


Sachverhalt
Der Ausgangssachverhalt war dem EuGH von einem belgischen Gericht vorgelegt worden. Ein Arbeitnehmer hatte gegen seine Entlassung bei dem Infrastrukturbetreiber der belgischen Eisenbahn geklagt. Zu seinen vertraglich geschuldeten Aufgaben gehörte insbesondere die Wartung und Instandhaltung von Schienenwegen. Noch während der Probezeit wurde bei dem Beschäftigten ein Herzproblem festgestellt, welches nicht nur zum Einsatz eines Herzschrittmachers, sondern auch zu einer Anerkennung des Status als schwerbehinderter Mensch führte. Da die eigentlich vorgesehene Tätigkeit im Einflussbereich elektromagnetischer Felder an den Gleisanlagen stattgefunden hatte, führte gerade der zur Schwerbehinderung führende Umstand auch zur Unmöglichkeit der Wahrnehmung dieser Aufgaben.

Nachdem der Beschäftigte deshalb zunächst für drei Monate als Lagerist eingesetzt worden war, entschied sich der Arbeitgeber für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, da man nach Ende der Probezeit keinen anderen Arbeitsplatz vorgesehen habe. Der Arbeitnehmer beantragte, die Entlassung für nichtig zu erklären – sie stelle eine Diskriminierung wegen Behinderung dar.

Das zuständige belgische Gericht legte daraufhin dem EuGH die Frage vor, ob der Betroffene wegen seiner Behinderung Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz verlangen könne und ob eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu Beschäftigten, die ihre Probezeit bereits hinter sich haben, gerechtfertigt sei. Der europarechtliche Bezug ergab sich hierbei aus der sog. Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000. Diese sieht vor, dass der Arbeitgeber zumutbare Maßnahmen ergreifen muss, um Menschen mit Behinderung u. a. Zugang zur Beschäftigung und Ausübung des Berufs zu ermöglichen. Diese Vorgabe könne bei den gegebenen Umständen der Entlassung entgegen stehen.


Entscheidung
Der EuGH stellte fest, dass generell – unabhängig von einer Probezeit – der Grundsatz gelte, dass bei infolge Behinderung fehlender Eignung für eine Tätigkeit auf der bisherigen Stelle die Pflicht bestehe, den Betroffenen auf einer anderen Stelle einzusetzen, sofern er dafür geeignet und der Arbeitgeber damit auch nicht unverhältnismäßig belastet sei. Die fehlende Eignung dürfe dann nicht zum Anlass für eine Probezeitkündigung genommen werden, sofern es eine andere passende Einsatzmöglichkeit gebe.

Bereits während der Probezeit unterliegen Beschäftigte dem Schutz der genannten Richtlinie. Zu den nach der Richtlinie geforderten „angemessenen Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ zähle auch eine Weiterbeschäftigung, wenn die ursprüngliche Tätigkeit infolge einer Behinderung nicht mehr ausgeübt werden könne.

Für die Entscheidung, ob die als Alternative zu einer Entlassung zu ergreifenden Maßnahmen als zumutbar anzusehen seien, müsse u. a berücksichtigt werden, welcher finanzielle Aufwand damit verbunden sei, welche finanziellen Ressourcen bzw. welchen Gesamtumsatz das Unternehmen habe, ob öffentliche Mittel verfügbar seien oder es sonst noch Unterstützungsmöglichkeiten gebe.

Im Ergebnis konnte der Arbeitgeber daher den Beschäftigten trotz noch laufender Probezeit nicht so ohne weiteres mit der Begründung entlassen, dass dieser die vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben könne.


Bewertung
Das Anliegen des Schwerbehindertenschutzes ist verständlich, doch die Entscheidung kann sich in der Praxis als kontraproduktiv erweisen. Galt bisher der Grundsatz, dass in den ersten sechs Monaten eines Beschäftigungsverhältnisses vor einer Kündigung kein Präventionsverfahren durchzuführen ist, kann es eine logische Konsequenz der genannten Entscheidung sein, die Verzögerung des eintretenden Sonderkündigungsschutzes jedenfalls bei gesundheitsbezogenen Beendigungsgründen als europarechtlich nicht haltbar zu bewerten. Der Eintritt des Sonderkündigungsschutzes würde damit für diese Fälle auf den Beginn des Beschäftigungsverhältnisses vorverlagert.
 
Der Gesetzgeber selbst hatte jedoch durch die genannte Verzögerung ausdrücklich das Ziel verfolgt, ein mögliches Einstellungshemmnis für schwerbehinderte Beschäftigte zu vermeiden. Arbeitgeber werden sich darauf einstellen müssen, bereits bei Probezeitkündigungen ausführlich dazu Stellung zu nehmen, ob ein Einsatz auf einer anderen freien Stelle innerhalb des Betriebes oder Unternehmens möglich ist – ggf. nach einer zumutbaren Umschulung oder Fortbildung. Auch über den Verlauf der Zumutbarkeitsgrenze kann trefflich debattiert werden.
 
Es liegt nahe, dass die gewünschte „Erprobung“, die ein legitimes Interesse des Arbeitgebers darstellt, zukünftig dadurch sichergestellt werden könnte, dass das Instrument des befristeten Arbeitsvertrages prozentual weiter zunimmt. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob bereits in dem Angebot eines lediglich befristeten Arbeitsverhältnisses eine Diskriminierung wegen Schwerbehinderung zu sehen sein kann, was seinerseits einen umso größeren Anreiz dafür setzt, einfach alle Einstellungen zunächst zu befristen, um sich gerade nicht dem Vorwurf auszusetzen, dass man hier unzulässig differenziere.
 
Im Ergebnis könnte daher ein zu weitreichendes Verständnis der Erwägungen dieser Entscheidung zu erheblichen Nachteilen für schwerbehinderte und auch für nicht schwerbehinderter Einstellungskandidaten führen – es obliegt den Arbeitsgerichten, hier mit Weitblick und Verantwortungsbewusstsein zu agieren und eine angemessene Abwägung der beiderseitigen Interessen vorzunehmen.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin/Hamburg

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Arbeitnehmerstatus – Sportfotograf
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 145/21

Einmal mehr hatte das BAG darüber zu entscheiden, wie es die Grenzen zwischen abhängig Beschäftigten und freien Mitarbeitern zieht. In der Praxis fällt die Abgrenzung zwischen Arbeitsverhältnis und freiem Dienstverhältnis oft schwer. Die korrekte Abgrenzung ist jedoch von besonderer Relevanz, vor allem angesichts dessen, dass viele gesetzliche Normen im Arbeitsrecht an die Arbeitnehmereigenschaft anknüpfen. Die vorliegende Entscheidung beschäftigt sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Frage, wie umfassend eine Berufungsinstanz sich mit den Abgrenzungskriterien zu befassen hat.


Sachverhalt und Vorinstanz
In der zugrunde liegenden Entscheidung streiten die Parteien über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung sowie etwaiger restlicher Urlaubsansprüche. Die Beklagte ist ein Verlagshaus, welches mehrere Zeitungen herausgibt. Der Kläger ist seit dem 1. Januar 1990 als Sportfotograf tätig. Nachdem der Kläger zu Beginn seiner Tätigkeit eine an der Anzahl der von ihm eingereichten Bilder orientierte Vergütung erhalten hatte, schlossen die Parteien einen sog. Pauschallistenvertrag. Dieser regelte in seiner Ziffer 1.), dass der Kläger für eine Tätigkeit als freier Sportfotograf eine Pauschale erhalte und in Ziffer 3), dass diese Pauschale DM 4.650,00 betrage. Darüber hinaus regelte der Pauschallistenvertrag in seiner Ziffer 4), dass der Kläger seine Auslagen gegenüber der Beklagten abrechnen könne. Ziffer 5) sah ein Widerrufsrecht mit einer Frist von drei Monaten vor.

Zu Beginn des Jahres 2018 bot die Beklagte dem Kläger an, unter geänderten Bedingungen einen „Vertrag für freie Mitarbeiter“ abzuschließen. Dieses Angebot lehnte der Kläger ab. Am 20. Juni desselben Jahres kündigte die Beklagte das Vertragsverhältnis fristgerecht zum 30. September 2018.

Der Kläger vertritt den Standpunkt, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis bestehe, da er in die Arbeitsorganisation der Beklagten eingebunden sei und fachliche Weisungen von der Beklagten erhalte. Er ist der Ansicht, dass die ausgesprochene Kündigung insbesondere am fehlenden rechtfertigenden Grund, der fehlenden Betriebsratsanhörung sowie aufgrund des Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot nach § 612 a BGB scheitere. Aus diesem Grund legte er Kündigungsschutzklage ein und begehrte festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung beendet worden sei und fortbestehe. 

Die Beklagte beantragte die Klage abzuweisen. Grund hierfür sei, dass zwischen den Parteien ein freies Dienstverhältnis bestanden habe und mithin u.a. das Kündigungsschutzgesetz nicht zur Anwendung komme. Die Beklagte führt insbesondere aus, dass es dem Kläger freigestanden habe, welches Bildmaterial er ihr zur Verfügung stelle und er auch die Möglichkeit gehabt habe, für andere Auftraggeber tätig zu werden. Hiervon habe der Kläger auch Gebrauch gemacht.

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht änderte das Urteil teilweise ab und gab der Klage statt. Mit der Revision begehrte die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.


Entscheidung
Das BAG hielt die Revision der Beklagten für begründet und wies die Sache an das Berufungsgericht zurück.

Maßgeblich stellte das BAG darauf ab, dass mit der vom LAG abgegebenen Begründung dieses der Klage nicht stattgeben durfte. In einem Kündigungsschutzverfahren habe ein Gericht inzident zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Basierend auf den vom LAG berücksichtigten Tatsachen konnte nicht abgeleitet werden, dass das zwischen den Parteien bestehende Rechtsverhältnis als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren sei.

Ist unklar, ob zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis oder ein freies Dienstverhältnis besteht, so könne man dies anhand einiger, auch gesetzlich normierter Kriterien abgrenzen.

Gem. § 611 a BGB ist von einem Arbeitsverhältnis auszugehen, wenn die betroffene Person im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Weisungsgebunden in diesem Sinne ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Die Feststellung hat unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu erfolgen.

Vorliegend – so das BAG – mangelte es sowohl an der ausreichenden Berücksichtigung der genannten Merkmale als auch an einer Durchführung der Gesamtbetrachtung.
 
Das BAG erklärt diesbezüglich, das LAG habe bei seiner Entscheidungsfindung Aspekte berücksichtigt, zu denen es keine tatbestandlichen Feststellungen getroffen habe, zum anderen sei der Vortrag der Parteien teilweise nicht gewürdigt worden. Weiterhin hat das LAG aus Sicht des BAG versäumt, eine Gesamtwürdigung aller entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte durchzuführen, welche es in der Revisionsinstanz ermöglichen würde, das Ergebnis der Abwägung in tatsächlicher sowie in rechtlicher Hinsicht nachzuvollziehen.
 
Das BAG führt aus, dass in dem Fall, dass einige Kriterien für die Annahme eines freien Dienstverhältnisses und andere für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses sprechen, das Tatsachengericht eine umfassende Abwägung aller in die Entscheidung einzustellenden Gesichtspunkte vorzunehmen habe. Insbesondere habe es dabei die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Aspekte zu benennen, diese zu gewichten und schließlich im Wege der Abwägung nachvollziehbar zu erläutern, wie es zum Ergebnis seiner Beurteilung komme.
 
Vorliegend finde sich in den Entscheidungsgründen jedoch lediglich der Hinweis, dass „vorliegend überwiegende Indizien“ für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses sprächen. Welches Gewicht das LAG den abwägungsrelevanten Gesichtspunkten beigemessen hatte, lasse sich in der gebotenen Klarheit der Begründung ebenso wenig entnehmen, wie die Gründe, welche für ein Überwiegen dieser Indizien sprechen würden.
 
Da das LAG diesen Anforderungen nicht nachgekommen sei, müsse die Sache zurückverwiesen werden.


Bewertung
Der Entscheidung des BAG ist zuzustimmen. Erkennt das LAG sowohl Indizien, die für ein Arbeitsverhältnis als auch andere Indizien, die demgegenüber für ein freies Dienstverhältnis sprechen, so hat es seine Entscheidung umfassend zu begründen und darzulegen, aus welchen Gründen die Indizien insgesamt eher für ein Arbeitsverhältnis oder für ein freies Dienstverhältnis sprechen. Ein pauschaler Verweis auf nicht näher bezeichnete „Indizien“ vermag nicht die Entscheidung für das jeweilige Rechtsverhältnis zu begründen.
 
Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass bereits bei Vertragsschluss zwischen zwei Parteien zum einen klar sein muss, welches Rechtsverhältnis abgeschlossen werden soll. Zum anderen muss daran anschließend dieses Rechtsverhältnis auch entsprechend gelebt werden. Gerade streitige Statusverhältnisse können erhebliche Rechtsfolgen nach sich ziehen, die nicht nur arbeitsrechtlicher, sondern insbesondere auch sozialversicherungsrechtlicher Natur sind. Um Unklarheiten zu vermeiden, bietet es sich an, die Befugnisse bzw. die Rahmenbedingungen bereits im Vertrag möglichst detailliert zu regeln.

Vanessa Bähr, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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März 2022

 
Ein bisschen schwanger …?
LAG Baden-Württemberg vom 01.12.2021 – 4 Sa 32/21

Meldet eine Arbeitnehmerin nach Erhalt einer Kündigung das Vorliegen einer Schwangerschaft – dies vor allem zur Geltendmachung des entsprechenden Sonderkündigungsschutzes nach § 17 des Mutterschutzgesetzes –, so beginnt meist das große Rechnen. Das Bundesarbeitsgericht geht hierbei bislang so vor, dass es vom ärztlich bescheinigten voraussichtlichen Entbindungstermin 280 Tage zurückrechnet, um den anzunehmenden Schwangerschaftsbeginn zu bestimmen. Begründet wird dies damit, dass es sich um die mittlere Schwangerschaftsdauer handele bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus von zehn Lunarmonaten zu je 28 Tagen, gerechnet ab dem ersten Tag der letzten Regelblutung. Dieser Berechnungsweg wurde in der Literatur vielfach als medizinisch unrichtig kritisiert. Das LAG Baden-Württemberg stellt sich mit der vorliegenden Entscheidung dem BAG entgegen und regt an, die bisher übliche Berechnungspraxis zu ändern. 

Sachverhalt und Vorinstanz
Das Arbeitsverhältnis war nur von sehr kurzer Dauer – nachdem die Klägerin am 15. Oktober 2020 ihre Tätigkeit bei der Beklagten aufgenommen hatte, erhielt sie bereits am 7. November 2020 eine Probezeitkündigung mit Wirkung zum 23. November 2020. 

Mit ihrer am 3. Dezember 2020 erhobenen und der Beklagten am 7. Dezember 2020 zugegangenen Klage berief sich die Klägerin auf Sonderkündigungsschutz wegen Schwangerschaft. Dazu präsentierte sie eine Schwangerschaftsbestätigung ihrer Frauenärztin vom 26. November 2020, ausweislich derer sie in der sechsten Schwangerschaftswoche sei. Der voraussichtliche Geburtstermin sei der 5. August 2021.

Die Beklagte bestritt zum einen, dass die Schwangerschaft bereits bei Zugang der Kündigung bestanden habe und rügt zu anderen die entsprechende Mitteilung als verspätet, da sie erst 11 Tage nach Kenntnis der Schwangerschaft von deren Vorliegen erfahren habe.

Das Arbeitsgericht Heilbronn hatte die gegen die Kündigung gerichtete Klage abgewiesen, da es bereits Zweifel am Bestehen der Schwangerschaft im Kündigungszeitpunkt hatte. So sah es auch das Landesarbeitsgericht.

Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass im Zeitpunkt des Kündigungszugangs noch nicht vom Vorliegen einer Schwangerschaft auszugehen gewesen sei. Die Arbeitnehmerin trage die Beweislast für das Vorliegen der Schwangerschaft bereits bei Ausspruch der Kündigung. Hierbei erfolge eine Berechnung, die letztlich einen Anscheinsbeweis mit typischer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung darstelle (dies gilt jedenfalls, solange man nicht z. B. wegen künstlicher Befruchtung das genaue Datum kennt). 

Bei der Rückrechnung vom Entbindungstermin zum Schwangerschaftsbeginn sei aber entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht mit 280, sondern nur mit 266 Tagen zu rechnen. Das Landesarbeitsgericht erklärt seinen Berechnungsansatz folgendermaßen:

Maßgeblich sei, wann die Befruchtung der Eizelle stattgefunden habe – dies erfolge im Durchschnitt am 12. oder 13. Zyklustag. Berechne man mit dem Bundesarbeitsgericht den Schwangerschaftsbeginn ausgehend vom ersten Tag der letzten Regelblutung, so erstrecke man den Kündigungsschutz auf einen Zeitpunkt, zu dem eine Schwangerschaft nicht nur wenig wahrscheinlich, sondern sogar äußerst unwahrscheinlich wenn nicht nahezu ausgeschlossen sei. Daher seien vom prognostizierten Entbindungstag nur 266 Tage zurückzurechnen, was vorliegend einen Schwangerschaftsbeginn am 12. November 2020 ergebe. Die Klägerin wurde daher 4 Tage „zu spät“ schwanger, um sich auf entsprechenden Sonderkündigungsschutz zu berufen.

Wegen der Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat das Landesarbeitsgericht die Revision zugelassen, und diese wurde auch eingelegt. Das Verfahren wird unter dem Aktenzeichen 2 AZR 11/22 geführt. Das Bundesarbeitsgericht hat nun die Gelegenheit, seine medizinisch für kaum darstellbar gehaltene bisherige Berechnungsweise zu korrigieren und sich dem Landesarbeitsgericht anzuschließen.

Bewertung
Der Fall bot sich angesichts der zeitlichen Abläufe dafür an, den Berechnungsweg des BAG zu hinterfragen. Bislang dehnt das BAG den Kündigungsschutz faktisch in einen Zeitraum aus, in dem – vorbehaltlich anderer Hinderungsgründe – eine Kündigung sonst wirksam möglich wäre. Der für jede noch so unwahrscheinlich erscheinende Fallkonstellation damit bezweckte Schutz, der insbesondere dem Schutz und der Fürsorge für die werdende Mutter dient, geht nach zutreffender Auffassung des Landesarbeitsgerichts zu weit, denn er nimmt einer zunächst wirksamen Kündigung die Wirksamkeit, wenn tatsächlich erst danach eine Schwangerschaft eintritt. Der Gedanke, dass ein gezieltes Timing aus Anlass des Erhalts einer Kündigung hierzu beitragen könnte, wird nicht explizit ausgesprochen, schwingt aber unterschwellig mit. Entscheidend ist aber, dass die Ausdehnung eines Sonderkündigungsschutzes wegen Schwangerschaft auch auf Nicht-Schwangere keinen Rechtfertigungsgrund darstellt, um derart intensiv in die Grundrechte des Arbeitgebers einzugreifen. 

Die Missbrauchsanfälligkeit der bisherigen Berechnungsweise folgt im Übrigen bereits daraus, dass die ärztliche Angabe des mutmaßlichen Entbindungstermins auf diesbezüglichen Angaben der Schwangeren beruht, wann der erste Tag der letzten Regelblutung war, was gewisse „Gestaltungsspielräume“ eröffnet. Es ist sicherlich nicht nur aus rechtlicher Perspektive wünschenswert, wenn die Einleitung der Familienplanung nicht durch Anreize determiniert wird, die ihre Ursache im Arbeitsrecht haben.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin


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Personenbedingte Kündigung und BEM
BAG, Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21

In der Rechtsprechung und der Praxis ist die personenbedingte Kündigung in der Form der krankheitsbedingten Kündigung grundsätzlich anerkannt. Die Hürden für deren Wirksamkeit sind jedoch sehr hoch. Eine Hürde stellt unter anderem die ordnungsgemäße Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) dar. Hierbei handelt es sich um ein Verfahren, das im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bewertet wird und an dessen fehlerhafter Durchführung nicht selten krankheitsbedingte Kündigungen scheitern. In der hier zu besprechenden Entscheidung befasste sich das Bundesarbeitsgericht mit einer der zahlreichen offenen Fragen im Zusammenhang mit dem BEM. 

Sachverhalt und Vorinstanz
Der Kläger war seit 2017 jedes Jahr mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt. Um eine gemeinsame Lösung zur Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten zu finden, lud die Beklagte den Kläger am 5. März 2019 zu einem BEM ein. Dieses BEM wurde ergebnislos abgeschlossen. Im Anschluss daran war der Kläger im Jahr 2019 erneut in Summe 79 Arbeitstage arbeitsunfähig erkrankt.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis am 26. Februar 2020 ordentlich zum 31. August 2020, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin.

Mit seiner Klage begehrte der Kläger festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die ausgesprochene Kündigung beendet sei und auch darüber hinaus fortbestehe.

Die Beklagte meinte, die Kündigung sei aus Gründen in der Person des Klägers sozial gerechtfertigt, mithin die Klage abzuweisen. Insbesondere sei aufgrund des bereits ergebnislos durchgeführten BEM vom 5. März 2019 ein erneutes BEM vor Ausspruch der Kündigung entbehrlich gewesen.

Das Arbeitsgericht Düsseldorf gab der Klage statt und das Landesarbeitsgericht Düsseldorf wies die dagegen gerichtete Berufung zurück. Mit der Revision verfolgte die Beklagte weiterhin die Klageabweisung.

Entscheidung
Die Revision der Beklagten war ohne Erfolg. 

Das BAG begründet seine Entscheidung insbesondere mit dem Argument, dass die Beklagte vor Ausspruch der ordentlichen Kündigung kein weiteres BEM eingeleitet habe und es somit an der Verhältnismäßigkeit der ausgesprochenen Kündigung fehle. Darüber hinaus habe es die Beklagte im Rahmen ihrer erweiterten Darlegungslast versäumt, die Entbehrlichkeit eines weiteren BEM in diesem konkreten Fall darzulegen. Insbesondere hatte sie nicht belegen können, dass auch die ordnungsgemäße Durchführung eines weiteren BEM im konkreten Fall entbehrlich gewesen sei, da auch die ordnungsgemäße Durchführung des BEM nicht zu einer alternativen Beschäftigungsmöglichkeit geführt hätte, die eine Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten zur Folge hätte.

Das BAG erklärt, dass eine krankheitsbedingte Kündigung unverhältnismäßig sei, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gebe. Als etwa denkbare Maßnahmen werden beispielsweise die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder auch die Weiterbeschäftigung auf einem anderen, dem Gesundheitszustand des Betroffenen entsprechenden Arbeitsplatz angeführt.

Grundsätzlich, so das BAG, könne sich der Arbeitgeber im Hinblick auf seine Darlegungs- und Beweislast, die er für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung trägt, darauf berufen, dass im Betrieb keine dem Gesundheitszustand entsprechende Beschäftigungsmöglichkeit bestehe. Letzteres gelte jedoch nicht, wenn der Arbeitgeber seine aus § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX folgenden Verpflichtungen zur Durchführung eines BEM missachtet, obwohl er zur Durchführung eines BEM verpflichtet gewesen sei. Das Verfahren selbst stelle zwar kein milderes Mittel dar, konkretisiere aber den bei jeder Kündigung zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Ziel eines BEM sei es, festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlicher Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen sei, und herauszufinden, ob Möglichkeiten vorhanden seien, eine bestehende Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu fördern.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens eines milderen Mittels sei der Zugang der Kündigung. Zu beachten sei, dass sich die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers erweitere, sofern vor Ausspruch der Kündigung kein BEM durchgeführt werde. Hinsichtlich des BEM sei – so das BAG - der Arbeitgeber verpflichtet, grundsätzlich ein weiteres BEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss des vorherigen BEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkranke. Dies sei auch dann erforderlich, wenn nach dem zuvor durchgeführten BEM noch kein weiteres Jahr vergangen sei.

Vorliegend, so das BAG, hätte die Beklagte daher darlegen müssen, dass auch mithilfe eines weiteren BEM keine milderen Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten erkannt oder entwickelt werden können. Auch wenn die Beklagte bereits ein BEM durchgeführt habe, sei sie nach § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX verpflichtet gewesen, ein weiteres BEM durchzuführen, da nach dem abgeschlossenen BEM im März 2019 erneut innerhalb dieses Jahres die Voraussetzungen zur erneuten Durchführung vorgelegen hätten. Dieser Initiativpflicht sei die Beklagte nicht nachgekommen.

Das BAG meint, dass es dem Sinn und Zweck des § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX widerspreche, in den Gesetzeswortlaut ein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ von einem Jahr aufgrund eines bereits durchgeführten BEM hineinzulesen. Erkranke der Arbeitnehmer nach Abschluss eines BEM erneut innerhalb eines Jahres für mehr als sechs Wochen, sei vielmehr erneut ein Bedürfnis zur Durchführung eines BEM gegeben. Gerechtfertigt wird dies mit der Begründung, dass im vorhergehenden BEM zum einen nur solche Erkrankungen berücksichtigt worden seien, die zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses BEM für die krankheitsbedingten Fehlzeiten ursächlich waren, zum anderen würden auch nur die bis dahin maßgeblichen betrieblichen Abläufe und Verhältnisse das Verfahren beeinflussen. Zu berücksichtigen sei, dass es sich mithin um eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt des durchgeführten BEM handele und dass sich im der Zwischenzeit bis zur Durchführung eines neuen BEM sowohl die Krankheitsursache als auch die betrieblichen Umstände verändert haben könnten. Dies könne zu neuen Einsatzmöglichkeiten für den Arbeitnehmer führen, die eine Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten entgegenwirken.

Unterlasse der Arbeitgeber die Durchführung eines erneuten BEM, so trage er die primäre Darlegungslast für dessen Nutzlosigkeit und müsse daher von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zu den fehlenden Erfolgsaussichten anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen vortragen. 

Dieser erweiterten Beweislast sei die Beklagte vorliegend nicht nachgekommen. Sie habe weder dargelegt, dass ein erneutes BEM schon deshalb kein positives Ergebnis erbracht hätte, weil bereits das zuvor durchgeführte kein solches ergeben habe, noch habe sie dargestellt, dass ein neuerliches BEM nutzlos wäre, da keine relevanten Veränderungen gegenüber dem für den Suchprozess des vorherigen BEM maßgeblichen Stand der Dinge eingetreten seien. 

Bewertung
Die vorliegende Entscheidung des BAG klärt eine in der Praxis oft gestellte Frage nach der gebotenen Häufigkeit der Durchführung des BEM – liegen die Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX vor, ist stets ein neues BEM durchzuführen, unabhängig davon, ob bereits innerhalb des letzten Jahres ein BEM durchgeführt worden war. Diese Entscheidung ist kritisch zu hinterfragen, denn wendet man diesen Grundsatz in der Praxis streng an, führt dies zu einer erheblichen Erschwerung im Hinblick auf den Ausspruch einer ordnungsgemäßen ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung, denn der Zeitraum für die Erprobung der Wirksamkeit der getroffenen Maßnahme im Rahmen des BEM wird massiv verkürzt. Der Arbeitgeber ist angehalten sich nach Abschluss des BEM – unabhängig vom Ausgang – einen imaginären „Timer“ zu stellen, um vor Ablauf des daran anschließenden Sechs-Wochen-Zeitraums ggf. eine ordnungsgemäße Kündigung aussprechen zu können, ohne erneut ein BEM durchführen zu müssen. 

Dies kann jedoch nicht Sinn und Zweck des BEM sein, denn dies führt dazu, dass die Bereitschaft des Arbeitgebers, eine Verringerung der krankheitsbedingten Fehlzeiten zu fördern, zu seinen Lasten geht. Mögliche Kriterien zur Bewertung, ob eine Besserung der krankheitsbedingten Fehlzeiten erreicht werden kann, sind neben einem gewissen Zeitablauf nach Abschluss eines BEM auch Befristungen von Maßnahmen auf einen längeren Zeitraum.

Sinn und Zweck des BEM ist jedoch gerade, bestenfalls basierend auf einer vereinbarten Maßnahme, eine Besserung hinsichtlich der Fehlzeiten zu erreichen. Da der Arbeitgeber jedoch vor Ablauf eines erneuten Sechs-Wochen-Zeitraums bereits die Kündigung vorbereiten muss – möchte er kein weiteres BEM durchführen –, stellt sich die Folgefrage, wann eine verhältnismäßige Kündigung ausgesprochen werden kann, ohne dass dem Arbeitgeber entgegen gehalten werden kann, dass er dem Arbeitnehmer keine ernsthafte Chance zur Verbesserung der Fehlzeiten gelassen habe. Zugleich setzt es für Arbeitnehmer den Anreiz, möglichst schnell wieder den Sechs-Wochen-Zeitraum zu vervollständigen, um bis zum nächsten BEM faktisch vor einer Kündigung geschützt zu sein.

Vanessa Bähr, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Februar 2022


Betriebliches Eingliederungsmanagement – Weitere Pflichten des Arbeitgebers
LAG Hessen, Urteil vom 19.07.2021 – 16 Sa 231/21

Ein regelkonformes betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) setzt voraus, dass sich die tatsächlich vom Arbeitgeber ergriffenen Maßnahmen als umfassender, offener und an den Zielen des BEM ausgerichteter Suchprozess erweisen. Insofern reicht es nach Auffassung des LAG Hessen nicht aus, einen Arbeitnehmer nach den Ursachen seiner Arbeitsunfähigkeitszeiten zu fragen und sich sodann auf die Antwort des Arbeitnehmers zu verlassen, der Arbeitgeber könne bei der ohnehin schweren Arbeit keine Hilfestellung leisten. Da Arbeitnehmer als medizinische Laien dies nicht beurteilen könnten, müsse der Arbeitgeber weiterhin einen Arbeitsmediziner hinzuziehen, der insbesondere Feststellungen über mögliche Hilfestellungen treffen kann.

Sachverhalt und Vorinstanz
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung.

Vor Ausspruch der Kündigung lud die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 13.02.2020 zu einem BEM ein. Der Kläger stimmte dem unter dem 19.02.2020 zu. Am 28.02.2020 fand zwischen den Parteien ein Gespräch statt, wobei dessen Inhalt streitig ist. Am 03.03.2020 forderte die Beklagte den Kläger auf, ein aktuelles fachärztliches Attest vorzulegen. Die Beklagte wollte sich so die Möglichkeit verschaffen, die persönlichen Einschränkungen des Klägers am Arbeitsplatz überprüfen zu können. Der Kläger legte kein Attest vor. Daraufhin hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen personenbedingten Kündigung an. Der Betriebsrat begründete seinen diesbezüglichen Widerspruch unter anderem damit, dass die Ursachen der Fehlzeiten nicht festgestellt worden seien. Auch sei offen geblieben, ob Abhilfe durch eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes hätte geschaffen werden können. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis dennoch mit Schreiben vom 06.10.2020.

Der Kläger wandte sich gegen die ordentliche Kündigung und machte unter anderem geltend, dass kein ordnungsgemäßes BEM durchgeführt worden sei.

Das Arbeitsgericht gab der Klage im Wesentlichen statt und erkannte darauf, dass der Kläger antragsgemäß weiterzubeschäftigen sei. Hiergegen legte die Beklagte Berufung ein.

Die Entscheidung
Das LAG Hessen hielt die Berufung der Beklagten für unbegründet.

Die Beklagte sei unstreitig aufgrund der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers zur Durchführung eines BEM verpflichtet gewesen. Sie habe dieses jedoch nicht regelkonform durchgeführt. Es reiche nicht aus, den Arbeitnehmer nach den Ursachen der Arbeitsunfähigkeitszeiten zu fragen, und sich sodann auf die Erklärung des Arbeitnehmers zu verlassen, dass die Arbeit schwer sei, er sie aber ausüben und der Arbeitgeber insoweit auch keine Hilfestellung geben könne. Nach der Auffassung des LAG Hessen kann der Kläger als medizinischer Laie einen Zusammenhang zwischen seinen Arbeitsunfähigkeitszeiten und den Anforderungen der Tätigkeit nicht abschließend einschätzen. Folglich sieht das LAG Hessen den Arbeitgeber zu weiteren Maßnahmen als verpflichtet an: Der Arbeitgeber hätte einen Arbeitsmediziner zum Abgleich der gesundheitlichen Anforderungen des Arbeitsplatzes mit dem gesundheitlichen Leistungsvermögen des Arbeitnehmers hinzuziehen müssen, damit mögliche Hilfestellungen oder Arbeitsplatzumgestaltungen festgestellt werden können. Es habe auch nicht ausgereicht, den Kläger zur Vorlage eines aktuellen fachärztlichen Attests aufzufordern.

Die Revision wurde nicht zugelassen.

Bewertung
Die Entscheidung des LAG Hessen stellt zur konkreten Durchführung des BEM weitere Anforderungen an den Arbeitgeber hinsichtlich der Hinzuziehung eines Arbeitsmediziners. Letztere sollten angesichts des vorliegenden Urteils im Rahmen eines BEM vorsichtshalber auch berücksichtigt werden. Gleichwohl bringt das LAG Hessen keine zufriedenstellende Begründung für die weiter verschärften Anforderungen vor. Dies verwundert jedenfalls insofern nicht, als dass Anhaltspunkte hierfür § 167 SGB IX nicht zu entnehmen sind. Überdies lässt die Entscheidung des LAG Hessen außer Acht, dass jeder am BEM Beteiligte – auch der Arbeitnehmer – es selbst in der Hand hat, alle ihm sinnvoll erscheinenden Gesichtspunkte einzubringen (BAG, Urteil vom 10.12.2009 – 2 AZR 198/09). Insofern wäre es zutreffend gewesen, die Einschätzung des mündigen Arbeitnehmers als zutreffend zugrunde zu legen und die Wirksamkeit der Kündigung nicht an der vermeintlich fehlerhaft unterbliebenen Hinzuziehung eines Arbeitsmediziners scheitern zu lassen.

Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Außerordentliche Kündigung als Folge eigenmächtiger Freistellung (Selbstbeurlaubung)
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 23. November 2021 – 5 Sa 88/ 21

In der Praxis stellt sich häufig die Frage, ob der Arbeitgeber einen begehrten Urlaub oder eine Freistellung ablehnen darf. Unter bestimmten Voraussetzungen ist dies möglich – doch manche Arbeitnehmer bestehen auf „ihr Recht“ und bleiben dann der Arbeit fern. In diesen Fällen sehen sich Arbeitgeber oft dazu veranlasst, mit einer fristlosen Kündigung zu reagieren. Vorliegend hatte das LAG Mecklenburg-Vorpommern über die Wirksamkeit einer solchen Kündigung zu entscheiden.

Sachverhalt und Vorinstanz
Der Kläger ist bei der Beklagten als Busfahrer beschäftigt. Der Arbeitstag des Klägers ist in sog. Dienstteile eingeteilt – der erste Dienstteil von 05:00 Uhr bis 08:38 Uhr und der zweite von 11:29 Uhr bis 16:53 Uhr. Während seiner Schicht ist der Kläger insbesondere auch für den Schülerverkehr zuständig.

Die Beklagte befand sich im September 2020 mit der Gewerkschaft ver.di in Tarifverhandlungen. Der Kläger war Ersatzmitglied der Tarifkommission und wollte in dieser Funktion am 16. September 2020 an den Verhandlungen teilnehmen. Daher beantragte er einen Tag vorher bei seinem Einsatzleiter N die Freistellung für den 2. Dienstteil, da für diesen Zeitraum die Verhandlungen angesetzt waren. Der Einsatzleiter verweigerte die begehrte Freistellung unter Hinweis auf die Personalknappheit. Der Kläger entschied sich am Folgetag, trotz Hinweises auf die Arbeitspflicht, dennoch sein Amt als Mitglied der Tarifkommission wahrzunehmen und verabschiedete sich nach dem 1. Dienstteil mit den Worten „Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Herr N. …“. Der Kläger erschien daher nicht zum 2. Dienstteil, was – wie ihm bewusst war – wegen des personellen Engpasses zum ersatzlosen Ausfall einzelner Routen führte.
Die Beklagte kündigte dem Kläger daher mit Schreiben vom 24. September 2020 außerordentlich und fristlos.

Der Kläger war der Ansicht, dass die Kündigung unwirksam sei, da er keine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt habe und erhob Klage. Dort trug er u.a. vor, dass ihm die Freistellung willkürlich versagt worden sei und es zudem an einer notwendigen vorherigen Abmahnung fehle.

Hierzu berief sich der Kläger auf tarifvertragliche Regelungen, die besagten, dass auf Aufforderung der Gewerkschaft Arbeitnehmer an Tarifverhandlungen teilnehmen dürften und hierzu unter Fortzahlung des Entgelts freizustellen seien. Weiterhin machte er geltend, dass eine einschlägige Betriebsvereinbarung für Mitglieder der Tarifkommission einen Anspruch auf Freistellung für den Zeitraum der Tarifverhandlungen vorsehe.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen und stellt darauf ab, dass die eigenmächtige Selbstbeurlaubung einen schwerwiegenden Verstoß gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten darstelle. Angesichts des zum Zeitpunkt der begehrten Freistellung bestehenden betrieblichen Personalmangels sei es nicht möglich gewesen, einen Ersatz zu organisieren, und eine Personalreserve habe es nicht gegeben. Aufgrund der Schwere der Pflichtverletzung sei eine Abmahnung entbehrlich gewesen. 

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab und sah die ausgesprochene Kündigung als wirksam an.

Entscheidung
Das LAG bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts.

Ein unentschuldigtes Fehlen eines Arbeitnehmers und ein eigenmächtiger Urlaubsantritt seien grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund gem. § 626 Abs. 1 BGB zu begründen.

Das LAG stellte zunächst auf den Grundsatz ab, dass ein nicht gerechtfertigtes Fernbleiben des Arbeitnehmers nicht nur eine bloße Nebenpflicht verletze, sondern vielmehr die Hauptpflicht zur Arbeitsleistung. Dies, so das LAG wirke sich unmittelbar als Störung der Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung aus.

Ein Recht, sich selbst zu beurlauben oder freizustellen, entstehe selbst dann nicht, wenn dem Arbeitnehmer dem Grunde nach ein Urlaubs- bzw. Freistellungsanspruch zustehe. Der Arbeitnehmer dürfe den Anspruch auch nicht eigenmächtig durchsetzen. Sofern dem Arbeitnehmer ein solcher Anspruch zustehe und dieser seitens des Arbeitgebers nicht erfüllt werde, könne der Arbeitnehmer auf gerichtlichem Wege Rechtsschutz suchen und somit seinen Urlaubs- bzw. Freistellungsanspruch durchsetzen.

Unabhängig davon stellte das LAG auch fest, dass der Kläger im konkreten Fall nicht einmal über einen Freistellungsanspruch verfügt habe. Ein solcher ergebe sich weder aus dem Tarifvertrag noch aus der einschlägigen Betriebsvereinbarung, da die jeweiligen Voraussetzungen nicht erfüllt waren.

Insbesondere fehle es an der tariflich vorgesehenen „Aufforderung“ der Gewerkschaft hinsichtlich einer Teilnahme des Klägers als Ersatzmitglied der Tarifkommission. Auch der krankheitsbedingte Ausfall eines anderen Mitglieds führe nicht zwingend dazu, dass ein Ersatzmitglied an der Verhandlung teilzunehmen habe. Die Bestimmung der personellen Besetzung bei Verhandlungen obliege den Tarifvertragsparteien und nicht den Mitgliedern der Tarifkommission.

Aufgrund der Schwere der Pflichtverletzung sei eine vorherige Abmahnung entbehrlich gewesen. Der Kläger könne nicht davon ausgehen, dass der Arbeitgeber eine bewusste Arbeitsverweigerung akzeptiere, ohne arbeitsrechtliche Konsequenzen zu ziehen. Hierfür spreche insbesondere, dass der Kläger um die Personalknappheit der Beklagten wusste und mithin bewusst eine Situation hervorgerufen hatte, in der die Beklagte Touren ausfallen lassen musste. Zudem habe der Kläger die Aufforderungen des Vorgesetzten demonstrativ ignoriert und sich darüber hinweggesetzt. Basierend auf dem Verhalten des Klägers ging das LAG zudem davon aus, dass sich eine solche Situation auch in Zukunft wiederholen könne. Diese Annahme sei dadurch begründet, dass der Kläger die Entscheidung, sich selbst zu beurlauben nicht spontan und unüberlegt getroffen habe, sondern bewusst unter Missachtung des Dienstplans und der konkreten Anweisungen des Einsatzleiters N. Zudem habe sich der Kläger auch zu keinem Zeitpunkt reuig oder einsichtig gezeigt.

Die Beklagte müsse sich aufgrund der Versorgungssicherheit und auch im Interesse der Fahrgäste darauf verlassen können, dass die Arbeitnehmer ihrer Arbeit verantwortungsbewusst und zuverlässig nachkommen; dies insbesondere im Hinblick auf den Schulverkehr. In einer vergleichbaren Situation müsse die Beklagte jedoch befürchten, dass der Kläger erneut seine eigenen Interessen über die des betrieblichen Zwecks zur Sicherstellung des öffentlichen Personenverkehrs stelle 

Bewertung 
Diese Entscheidung ist zu befürworten, denn selbst wenn der Arbeitgeber dem Urlaubs- bzw. Freistellungsverlangen des Arbeitnehmers hätte nachkommen müssen, führt der eigenmächtige Urlaubs- bzw. Freistellungsantritt nicht lediglich zu einer Nebenpflichtverletzung, sondern stellt regelmäßig eine beharrliche Arbeitsverweigerung dar. Mithin verletzt der Arbeitnehmer in besonders schwerer Weise seine Hauptleistungspflicht.

Dem Grunde nach wäre der Kläger auch nicht schutzlos gewesen. Sofern ihm ein Freistellungsanspruch zugestanden hätte, hätte es ihm oblegen, diesen im Wege der einstweiligen Verfügung durchzusetzen, anstatt seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu verletzten. Das Instrument des eigenmächtigen Handelns steht ihm zur Durchsetzung nicht zur Verfügung, ohne mit einer Reaktion des Arbeitgebers in Form des Ausspruchs einer fristlosen Kündigung rechnen zu müssen. 

Vanessa Bähr, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Januar 2022

 

Nicht rechtskräftige Aufhebung der Zustimmungsfiktion des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung – Auswirkungen im Kündigungsschutzprozess

BAG, Urteil vom 22. Juli 2021 – 2 AZR 193/21


Immer wieder beschäftigen Fragen rund um die Kündigung von schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Menschen die Arbeitsgerichtsbarkeit. Auch wenn man annehmen durfte, dass die hier (abermals) im Fokus stehende Frage mit Blick auf 171 Abs. 4 SGB IX und die bisherige Rechtsprechung des BAG als geklärt angesehen werden konnte, gab eine Entscheidung des LAG Hessen dem BAG die Möglichkeit, sich nochmals eindeutig zu positionieren: Bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung der vom Integrationsamt erteilten oder – bei außerordentlicher Kündigung – durch Fristablauf fingierten Zustimmung zur Kündigung kann sich der Arbeitgeber auf eine vorhandene Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung berufen. Die Arbeitsgerichte haben daher ihren Entscheidungen sowohl eine erteilte als auch eine fingierte Zustimmung zur Kündigung zugrunde zu legen.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte, ordentlich unkündbare Klägerin war bei der Beklagten seit 2002 beschäftigt. Die Beklagte beabsichtigte, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zu kündigen und beantragte am 23. August 2018 die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung und vorsorglichen außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Das Integrationsamt teilte der Beklagtem am 7. September 2018 mit, dass die Zustimmung wegen Fristablaufs nach § 174 Abs. 3 SGB IX als erteilt gelte. Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis mit zwei Schreiben vom 10. September 2018 außerordentlich und fristlos sowie vorsorglich außerordentlich mit Auslauffrist zum 31. März 2019. Die Klägerin erhob gegen die Zustimmung des Integrationsamts zu den Kündigungen Widerspruch, woraufhin am 21. Februar 2019 ein Abhilfebescheid erging, mit dem der „Bescheid“ vom 7. September 2018 aufgehoben und die Zustimmung zu den Kündigungen versagt wurde, da die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe, d. h. der Antrag auf Zustimmung sei nicht rechtzeitig gestellt worden. Hiergegen erhob die Beklagte Klage vor dem Verwaltungsgericht, über die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem LAG noch nicht entschieden worden war.
 
Mit ihrer vor dem Arbeitsgericht erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Rechtswirksamkeit der Kündigungen vom 10. September 2018 gewandt und u.a. behauptet, dass die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB und des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht gewahrt sei. Das Arbeitsgericht gab der Klage mit der Begründung statt, dass es an einem wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung fehle. Das LAG wies die Berufung der Beklagten zurück. Nach Ansicht des LAG sind die Kündigungen wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamts nach § 134 BGB i.V.m. § 168 SGB IX unwirksam, da die ursprünglich erteilte Zustimmung des Integrationsamts auf den Widerspruch der Klägerin hin mit Abhilfebescheid aufgehoben und die Zustimmung versagt wurde. Sollte dies vor dem Verwaltungsgericht wieder revidiert werden, hätte die Beklagte aus Sicht des LAG nach rechtskräftiger Stattgabe der Kündigungsschutzklage ggf. die Möglichkeit einer Restitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO, um die Entscheidung angesichts der veränderten Sachlage hinsichtlich des Bescheids nochmals überprüfen zu lassen.
 
Entscheidung
Die Revision hatte vor dem BAG Erfolg. Dieses hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.
 
Nach Auffassung des Zweiten Senats des BAG durfte das LAG mit der gegebenen Begründung die Berufung der Beklagten nicht zurückweisen. Die notwendige Zustimmung des Integrationsamts zu den beabsichtigten Kündigungen gelte gemäß § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX als erteilt, da das Integrationsamt innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags keine Entscheidung getroffen hat. Hierbei spiele es keine Rolle, dass das Integrationsamt auf Widerspruch der Klägerin mit Abhilfebescheid den Ausgangsbescheid aufgehoben und die Zustimmung versagt hat, da der Abhilfebescheid noch nicht rechtskräftig sei. Das BAG weist hierbei auf § 174 Abs. 4 SGB IX hin, demgemäß Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung haben. Dies bedeute, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung, vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit, so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist.
 
Diese Grundsätze habe das LAG rechtsfehlerhaft nicht beachtet. Es habe übersehen, dass sich die Beklagte bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung der durch Fristablauf eingetreten Zustimmung auf diese berufen kann. Es habe nur der Arbeitnehmer – und nicht der Arbeitgeber – nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage und nachfolgender bestands- oder rechtskräftigen Aufhebung der Zustimmungsentscheidung die Möglichkeit zur Erhebung einer Restitutionsklage.
 
Das BAG verwies die Sache daher an das LAG zurück und erteilte hierbei unter Verweis auf die Entscheidung des BAG vom 11. Juni 2020 – 2 AZR 442/19 den Hinweis, dass das LAG weder eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB noch des § 174 Abs. 2 SGB IX habe. Lediglich die Einhaltung der Frist des § 174 Abs. 5 SGB IX könne durch das LAG geprüft werden.
 
 
Bewertung
Die Entscheidung des BAG überzeugt.
 
Das BAG bekräftigte zunächst mit dieser Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zu der Frage, welche Auswirkungen verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe des Arbeitnehmers gegen eine erteilte/fingierte Zustimmung des Integrationsamts im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzverfahren haben. Auch wenn sich Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess häufig auf den Standpunkt stellen, dass eine erteilte/fingierte Zustimmung mit einem zwischenzeitlich erhobenen verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelf zu Fall gebracht werde, sodass die Kündigung mangels Zustimmung des Integrationsamts unwirksam sei, sollten sich Arbeitgeber hier nicht aufs Glatteis führen lassen. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts haben gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX keine aufschiebende Wirkung. Es spielt im laufenden Kündigungsschutzprozess keine Rolle, ob die einmal erteilte oder – bei außerordentlicher Kündigung – nach § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX fingierte Zustimmung nachfolgend durch die Widerspruchsbehörde oder einem Verwaltungsgericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist.
 
Das BAG bekräftigt zudem seine Aussagen in seiner grundlegenden Entscheidung vom 11. Juni 2020 – 2 AZR 442/19 zur jeweiligen Prüfungskompetenz betreffend der einzuhaltenden Fristen bei Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung. Die Frage der Rechtzeitigkeit der Antragsstellung beim Integrationsamt bestimmt sich nach § 174 Abs. 2 SGBX IX, demgemäß die Zustimmung zur Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden kann. Für die Beurteilung der Frage der Kenntniserlangung vom Kündigungsgrund i.S.d. § 174 Abs. 2 SGB IX gelten dieselben Grundsätze, die bei der Einhaltung der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu beachten sind. Die Einhaltung der Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX ist allein vom Integrationsamt bzw. im Fall der Anfechtung der Entscheidung von den Verwaltungsgerichten zu prüfen. Die Arbeitsgerichte haben diese Fristenbewertung zu akzeptieren. Sie sind an eine einmal erteilte/fingierte Zustimmung gebunden und auf eine Prüfung der „Unverzüglichkeit“ der Kündigungserklärung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX beschränkt.
 
Für die Praxis ist Arbeitgebern zu raten, das jeweilige Zusammenspiel der Fristen nach § 174 Abs. 2 SGB IX, § 626 Abs. 2 BGB und § 174 Abs. 5 SGB IX und der zu beachtenden Fristen bei erforderlicher Beteiligung des Betriebsrats und der Schwerbehindertenvertretung zu dokumentieren und zu überwachen. Insbesondere sollte die Kündigung nach erteilter/fingierter Zustimmung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX „unverzüglich“, d.h. ohne schuldhaftes Zögern ausgesprochen werden. Auch wenn das BAG in seinen Entscheidungen dazu ausführt, dass dies nicht „sofort“ bedeutet und hiermit keine starre Zeitvorgabe verbunden ist, sollte die Kündigung schnellstmöglich ausgesprochen werden und dem Arbeitnehmer zugehen. Sollten hier zeitliche Verzögerungen eintreten, so ist zu empfehlen, die Gründe hierfür ebenfalls zu dokumentieren. Des Weiteren sollten sich Arbeitgeber stets bewusst sein, in welchem Verfahren man sich gerade bewegt, um mit einer Beschränkung der jeweiligen Prüfungskompetenz hinsichtlich der einzuhaltenden Fristen argumentieren zu können.
 
Dr. Elisa Kottlors, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Urlaubsquarantäne – Quarantäneurlaub?
LAG Köln vom 13. Dezember 2021, 2 Sa 488/21
 
Die Pandemie hat für zahlreiche Beschäftigte auch zur Folge gehabt, dass sie von ihren individuellen Urlaubsplänen Abstand nehmen mussten. Wer hinsichtlich des Reiseziels umdisponieren oder aus einem Urlaub auf Balkonien das Beste machen konnte, hatte noch Glück – richtig ungünstig gelaufen ist es hingegen für diejenigen, die ausgerechnet während eines geplanten Urlaubs einer Quarantäneanordnung unterlagen. Die Idee, dass ein solcher „Urlaub“ nicht wirklich „zählt“ ist emotional verständlich – rechtlich aber verfehlt, wie nun auch das LAG Köln klargestellt hat.
 
Sachverhalt
Die klagende Mitarbeiterin hatte erhebliches Pech mit dem Timing: Ihr Urlaub deckte sich fast vollständig mit einer behördlichen Quarantäneanordnung im Zusammenhang mit Corona – zunächst als Kontaktperson, dann wegen eines positiven Testergebnisses. Die Quarantänezeit deckte sich fast vollständig mit dem bewilligten Urlaubszeitraum, so dass der Arbeitnehmerin nur noch wenige Tage Urlaub blieben, in denen sie nicht in Quarantäne war. Immerhin litt sie aber unter keinen Krankheitssymptomen.
 
Wegen des aus ihrer Sicht verfehlten Urlaubszwecks forderte die Mitarbeiterin die Nachgewährung von fünf Urlaubstagen. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung legte sie für die Zeit nicht vor. Der Arbeitgeber stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Nachgewährung von Urlaub nur in Betracht komme, wenn die Arbeitnehmerin eine Arbeitsunfähigkeit mittels Attest nachweise – eine reine Quarantäneanordnung stelle kein solches Attest dar. Die Arbeitnehmerin machte geltend, dass sie nach der Art ihrer Tätigkeit diese während einer Quarantäneanordnung auch nicht hätte erbringen können, mithin jedenfalls faktisch nicht in der Lage gewesen wäre, regulär zu arbeiten. Weiterhin berief sie sich darauf, dass sie aufgrund der Quarantäne auch keinen Arzt aufsuchen konnte, der ihr noch ein gesondertes Attest hätte ausstellen können – seinerzeit galten allerdings erhebliche Vereinfachungen für eine Krankschreibung nach nur telefonischem Arztkontakt.
 
Das Arbeitsgericht Bonn wies die auf Nachgewährung des auf die Zeit der Quarantäne entfallenden Urlaubsanteils gerichtete Klage ab. Hiergegen richtete sich die Berufung der Klägerin.
 
Entscheidung
Das LAG Köln bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung, so dass auch die Berufung der Arbeitnehmerin erfolglos blieb. Es stellte – entsprechend der Argumentation des Arbeitgebers – darauf ab, dass Voraussetzung für die Nachgewährung von Urlaubstagen eine durch ärztliches Zeugnis nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit sei; eine solche war aber allein durch die behördliche Quarantäneanordnung nicht gegeben.
 
Der bloße Nachweis einer Infektion bedeute auch noch keine Arbeitsunfähigkeit, so dass die Quarantäneanordnung auch keinem solchen Attest gleichzustellen sei. Es sei bekannt, dass oftmals auch Infizierte symptomlos blieben, so dass die Arbeitsfähigkeit nicht in jedem Fall beeinträchtigt sei.
 
Eine Gleichstellung dieser beiden Sachverhalte sei nicht erforderlich, insbesondere nicht in Form einer Analogie zu derjenigen Regelung, die eine Urlaubsnachgewährung bei Krankheit vorsehe. Eine Nachgewährung von Urlaub für die Quarantänezeit scheide daher aus.
 
Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfrage zugelassen.
 
Bewertung
Die Entscheidung überzeugt – sicherlich ist es für Beschäftigte misslich, wenn sie ihren Urlaub nicht so nutzen können, wie geplant. Das Risiko eines „misslungenen“ Urlaubs fällt aber in die Sphäre des Arbeitnehmers – genau so, wie man auch nicht auf die Idee käme, einen aufgrund ärgerlicher Reisemängel als wenig erholsam empfundenen Urlaub zum Anlass einer Forderung auf Nachgewährung zu nehmen, ist auch bei einem durch eine Quarantäneanordnung misslungenen Urlaub eine Nachgewährung nicht angezeigt. Der Arbeitgeber ist nicht für die Realisierbarkeit individueller Urlaubsplanungen verantwortlich, und eine Ausweitung des Umfangs von Zeiten mit „Lohn ohne Arbeit“ nicht angezeigt. Bei Zusammentreffen von Arbeitsunfähigkeit und Quarantäneanordnung ist hingegen die Arbeitsunfähigkeit maßgeblich und die durch Attest nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit eröffnet den Anspruch auf Nachgewährung von Urlaubstagen.
 
In der Praxis empfiehlt sich ein direkter Austausch untereinander und ggf. eine einvernehmliche Verschiebung des Urlaubs, wenn es dem in Quarantäne befindlichen Beschäftigten möglich ist, im Home Office zu arbeiten und der Arbeitgeber zu dem Entgegenkommen bereit ist, den Arbeitnehmer nicht an dem bereits bewilligten Urlaub festzuhalten. Hierzu bedarf es aber einer Verständigung der Arbeitsvertragsparteien untereinander – ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Abänderung des vereinbarten Urlaubszeitraums besteht grundsätzlich nicht.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin
 
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Dezember 2021



Kein Lohnanspruch bei Corona-Lockdown
BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021, Az. 5 AZR 211/21

Mit seiner jüngsten Entscheidung zum Thema Lohnfortzahlung stellt das Bundesarbeitsgericht (BAG) neue Weichen für den Umgang mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Bereich des Arbeitsrechts. Die Frage, wer für das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko eines Unternehmens einzustehen hat, ist gesetzlich angelegt und arbeitsrechtlich bislang nahezu unumstritten. Grundsätzlich hat der Arbeitgeber den Lohn auch bei einem Arbeitsausfall weiter zu entrichten, da er das sogenannte Betriebsrisiko trägt. Dementsprechend waren bei Corona-bedingten Ausfällen zahlreiche Gerichte – so auch die Vorinstanzen – zu dem Ergebnis gekommen, dass Arbeitsausfälle aufgrund einer Allgemeinverfügung mit Anordnung eines Lockdowns zu Lasten des Arbeitgebers gehen. Das BAG schafft nun vorliegend eine bemerkenswerte Ausnahme von diesem Grundsatz. 

Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Beklagte betreibt unter anderem in Bremen einen Handel mit Nähmaschinen und Zubehör. Seit Oktober 2019 war die Klägerin bei der Beklagten in der Zweigstelle in Bremen im Verkauf als geringfügig Beschäftigte gegen eine monatliche Vergütung von EUR 432,00 tätig. Aufgrund einer auf Landesebene angeordneten Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 23. März 2020 war die Beklagte verpflichtet, ihren Betrieb vorübergehend zu schließen. Da die Klägerin ihre Arbeitsleistung nicht erbringen konnte, erhielt sie von der Beklagten für diesen Monat auch kein Entgelt. 

Mit ihrer Klage hat die Klägerin Entgeltleistungen für den Monat April 2020 gefordert. Sie sei trotz der Betriebsschließung im besagten Zeitraum arbeitswillig und arbeitsfähig gewesen und habe mithin ihre Arbeitsleistung vertragsgemäß angeboten. Die Schließung des Betriebs aufgrund behördlicher Anordnung könne, so die Klägerin, nicht zu ihren Lasten gehen, da sich in der Pflicht zur vorübergehenden Betriebsschließung das von der Beklagten als Arbeitgeberin zu tragende Betriebsrisiko realisiere. 

Die Beklagte vertrat hingegen die Ansicht, dass sich in der vorliegenden Betriebsschließung gerade kein speziell im Betrieb angelegtes Betriebsrisiko realisiere. Es handle sich bei der staatlich angeordneten Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie um eine Maßnahme, die sämtliche Geschäfte betreffe – mithin um ein allgemeines Lebensrisiko, dessen nachteilige Folgen nicht allein vom Arbeitgeber auszugleichen seien.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben.

Entscheidung
Das BAG hob die Entscheidung der Vorinstanz auf und wies die Klage auf Lohnzahlung ab. Demnach steht der Klägerin gegenüber der Beklagten kein Entgeltanspruch für den Monat April 2020 gemäß § 611a i.V.m. § 615 S. 1 BGB zu. Aus Sicht des BAG war die Beklagte durch die vorübergehende Betriebsschließung nicht in Annahmeverzug geraten. 

So stellt das BAG in seiner Entscheidung fest, dass der Arbeitgeber nicht das Risiko des Arbeitsausfalls zu tragen hat, wenn er aufgrund einer allgemeinen staatlichen Anordnung verpflichtet ist, seinen Betrieb vorübergehend zu schließen. Die Unmöglichkeit der Erbringung der Arbeitsleistung sei in solchen Fällen kein Ergebnis der Realisierung eines im Betrieb angelegten Risikos. Die Klägerin konnte ihre Arbeitsleistung aufgrund eines hoheitlichen Eingriffs, der zur vorübergehenden Betriebsschließung führte, nicht erbringen. Dieser Eingriff erfolgte zum Schutz der Bevölkerung vor der Verbreitung von COVID-19 und sei mithin dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen. 

Hieraus ergebe sich, dass die Pflicht zur Zahlung etwaigen Entgelts nicht den Arbeitgeber treffe. Ob gegebenenfalls ein Rückgriff auf den die Betriebsschließung anordnenden Staat denkbar sein könnte, hatte das BAG im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden. 

Bewertung
Vor dem Hintergrund, dass Arbeitsrecht grundsätzlich Arbeitnehmerschutzrecht ist, überrascht diese Entscheidung. Es ist gängige Praxis in der Arbeitswelt, dass der Arbeitgeber das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko zu tragen hat, sodass er bei Betriebsschließung grundsätzlich zur Vergütungsleistung wegen Annahmeverzuges verpflichtet ist. Demnach läge es nahe, dass auch eine durch COVID-19 bedingte Schließung des Betriebs zu Lasten des Arbeitgebers geht und Arbeitnehmer ihre Vergütungsansprüche behalten. Durch die vorliegende Entscheidung hat das BAG nun eine Klarstellung zugunsten der Arbeitgeber getroffen und das Risiko des Arbeitsausfalls gleichermaßen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer verteilt. Mithin hat es in dem durch COVID-19 bedingten Ausfall einen besonders Grund gesehen, vom Grundsatz der Betriebsrisikotragung abzuweichen, da es sich um ein allgemeines gesellschaftliches Risiko handelt und sich durch eine Betriebsschließung dann nicht das Betriebsrisiko des Arbeitgebers realisiert. 

Offen bleibt, ob und durch wen damit einhergehende Nachteile auf Seiten der Arbeitnehmer ausgeglichen werden könnten. Es bleibt abzuwarten, ob durch Gerichte oder aber durch den Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine staatliche Entschädigung geschaffen werden. Eine schnelle Klärung wäre angesichts der Tragweite dieser Entscheidung und des aktuell erneut drohenden Lockdowns jedoch wünschenswert. 

Vanessa Bähr, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Die Konkretisierung der Arbeitspflicht ist kein Wunschkonzert 
LAG Hamburg, Urteil vom 13.10.2021, 7 Sa 23/21

Schon mehrfach haben sich die Arbeitsgerichte mit Arbeitnehmern, die das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes am Arbeitsplatz verweigern, beschäftigen müssen (vgl. hier zuletzt den Newsletter-Beitrag „Ansichten eines Maskenverweigerers“ vom November 2021). Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat dies nun im Zusammenhang mit der Frage nach Annahmeverzugslohnansprüchen bei Maskenpflicht am Arbeitsplatz getan und dabei klar gestellt, dass auch bei Vorlage eines „Maskenbefreiungsattestes“ die Konkretisierung des Einsatzortes per Direktionsrecht dem Arbeitgeber obliegt.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Arbeitnehmer war als Finanzberater mit Kundenkontakt in einer der Filialen des Arbeitgebers beschäftigt. Nach dem Beratungskonzept des Arbeitgebers konnte die Kundenberatung nur persönlich oder über eine Direktberatung in der Verwaltungszentrale erfolgen. 

Im Oktober 2020 forderte der Arbeitgeber den Arbeitnehmer, der bis dahin ein Face-Schild getragen hatte, auf, einen Mund-Nasen-Schutz anzulegen nach den vom Arbeitgeber erlassenen Vorgaben. Dem wollte der Kläger unter Hinweis auf vermeintliche gesundheitliche Gründe nicht nachkommen. Nach Aufforderung des Arbeitgebers legte er ein ärztliches Attest vor, in welchem ihm die Maskenbefreiung aufgrund eines Kindheitstraumas attestiert wurde. Im Nachgang dazu bot der Arbeitnehmer an, ab sofort ohne Maske in einem Einzelbüro in einer Filiale in der Nähe seines Wohnortes oder im Home-Office tätig zu werden. Der Arbeitgeber sah jedoch keine Möglichkeit dem Arbeitnehmer ohne Mund-Nasen-Bedeckung weiterhin einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen zu können. Er beschäftigte daher den Arbeitnehmer ab dem 20. Oktober 2020 nicht mehr und stellte ab November 2020 die Gehaltszahlungen an den Arbeitnehmer ein. Er sei letztlich arbeitsunfähig, habe aber keine entsprechenden Bescheinigungen vorgelegt, so dass er auch keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung habe. Lediglich einen Teilbetrag des tariflich zugesicherten 13. Monatsgehalts zahlte er ihm aus. Zudem mahnte er den Arbeitnehmer wegen Verstoßes gegen die von ihm erlassenen Gesundheitsvorschriften ab. 

Daraufhin machte der Kläger Annahmeverzugslohn für die Monate November 2020 bis März 2021, sein volles 13. Monatsgehalt und die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte geltend. Das Arbeitsgericht Hamburg sprach ihm dies in erster Instanz auch zu mit Verweis auf das arbeitnehmerseitige Angebot, seine Arbeitsleistung auf einem anderweitigen Arbeitsplatz ohne Maske erbringen zu können. Hiergegen legte der Arbeitgeber Berufung und Widerklage auf Rückzahlung von im Oktober 2020 zu viel gezahlter Vergütung beim Landesarbeitsgericht ein. Dies hatte hinsichtlich der geltend gemachten Lohnansprüche und der Widerklage teilweise Erfolg.

Entscheidung
Das LAG Hamburg stellte mit seinem Urteil klar, dass die geschuldete Arbeitsleistung durch das Direktionsrecht des Arbeitgebers zu bestimmen sei. Der Arbeitnehmer könne die von ihm anzubietende Leistung nicht eigenmächtig festlegen. Somit konnte das Angebot des Arbeitnehmers, in einer näheren Filiale ohne Maske im Einzelbüro zu erscheinen oder im Home Office zu arbeiten, keinen Annahmeverzug des Arbeitgebers auslösen, weil dieser an seiner Zuweisung des ursprünglichen Arbeitsortes und der Maskenanordnung festhielt. Dass der Arbeitnehmer der Maskenverordnung ausweislich des Attestes aus persönlichen Gründen nicht nachkommen kann, führe nicht zu einer anderen Konkretisierung der geschuldeten Arbeitsleistung.

Ebenfalls sei eine solche Gesundheitsschutz-Anordnung vom Direktionsrecht umfasst und angemessen, auch im Hinblick auf das Attest des Arbeitnehmers. Das Interesse des Arbeitgebers, die Gesundheit von Kunden und Mitarbeitern durch Mund-Nasen-Bedeckungen zu schützen, gehe in einer Abwägung dem Interesse des Klägers, keine Maske tragen zu müssen, vor. 

Etwas anderes könne sich auch nicht aus § 296 BGB ergeben. Die danach vom Arbeitgeber vorzunehmende Handlung führe nicht dazu, dass dieser eine bereits konkretisierte Arbeitspflicht nach Wünschen des Arbeitnehmers neu bestimmen müsse. Dies könne lediglich bei der Frage nach etwaigen Schadensersatzansprüchen, jedoch nicht bei Annahmeverzugslohn eine Rolle spielen.

Das Gericht wies in diesem Zusammenhang auch noch einmal darauf hin, dass an eine Abmahnung der strenge Maßstab der inhaltlichen Bestimmtheit zu legen ist. Da dieser im vorliegenden Fall nicht gewahrt war, müsse die Abmahnung aus der Personalakte entfernt werden.

Die Revision wurde nicht zugelassen.

Bewertung
Die Entscheidung des LAG Hamburg stärkt lobenswerterweise das Direktionsrecht des Arbeitgebers, selbst bestimmen zu können, wo und wie er seine Mitarbeiter einsetzen und die vertragliche Leistung ausgestalten möchte. Auch mit ärztlichem Attest bleibt es die Sache des Arbeitgebers, die vertraglich umrahmte Arbeitsleistung zu bestimmen. Ansonsten könnte der Arbeitnehmer selbst festlegen, was der Inhalt der von ihm geschuldeten Arbeitsleistung wäre und den Arbeitgeber so in Annahmeverzug bringen. Dies widerspricht jedoch dem Gedanken des Direktionsrechts aus § 106 Satz 1 GewO. 

Jedoch hat das LAG auch darauf hingewiesen, dass ein schuldhaftes Unterlassen, dem Arbeitnehmer einen leidensgerechten und vertragsgemäßen Arbeitsplatz zuzuweisen, eine Schadensersatzpflicht nach sich ziehen kann. Die Frage nach Annahmeverzugslohn oder Schadensersatz ist unterschiedlich zu beantworten. Arbeitgeber sollten daher genau prüfen, ob sie einen Arbeitnehmer, der ein „Maskenbefreiungsattest“ vorlegt, nicht doch auf einem anderen Weg ohne Maskenverpflichtung beschäftigen können. Nach Auffassung des LAG Hamburg haben sie jedoch keine Annahmeverzugslohnansprüche zu befürchten.

Nora-Franziska Först, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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November 2021




Rider haben Anspruch auf Fahrrad und Smartphone
BAG, Urteil vom 10. November 2021, Az. 5 AZR 334/21 und 5 AZR 335/21
 
Fahrradkuriere, die Essen und Getränke nach Hause liefern, haben seit Beginn der Corona-Pandemie Hochkonjunktur. Wöchentlich kommen neue Anbieter auf den umkämpften Markt und wollen möglichst schnell und möglichst günstig ihre Kunden beliefern.
 
Die Essenslieferdienste sind nicht nur auf den Straßen deutscher Großstädte und in den Medien omnipräsent, sondern beschäftigen auch vermehrt die Gerichtsbarkeit, da viele Fragen zu den Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen bislang noch ungeklärt sind. Erstmals hat sich nun das BAG mit den sog. „Ridern“ beschäftigt. Im vorliegenden Fall hatten diese die Frage aufgeworfen, ob Fahrrad und Smartphone notwendige Arbeitsmittel für die Tätigkeiten der Fahrradkuriere und daher vom Arbeitgeber zu stellen sind.
 
Sachverhalt
Geklagt hatten zwei Rider, die bei der Beklagten als Fahrradlieferanten angestellt sind und Speisen und Getränke von Restaurants an Privatkunden liefern. Für diese Tätigkeit haben die Kläger bislang ihr eigenes Fahrrad benutzt sowie ihr eigenes Smartphone verwendet, auf das sie per App Einsatzpläne und Adressen der Restaurants und Kunden erhielten. Die Nutzung der App verbraucht üblicherweise bis zu 2 GB Datenvolumen pro Monat. Die Verpflichtung zum Einsatz des eigenen Fahrrads und des eigenen Smartphones ergibt sich aus den vertraglichen Vereinbarungen der Parteien. Die Beklagte gewährte im Gegenzug eine Reparaturgutschrift für das Fahrrad von EUR 0,25 pro gearbeiteter Stunde, die ausschließlich bei einer von der Beklagten bestimmten Werkstatt eingelöst werden kann.
 
Mit ihrer Klage begehrten die beiden Rider, dass die Beklagte ihnen zur Ausübung ihrer Tätigkeit ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein internetfähiges Mobiltelefon samt Datenvolumen zur Verfügung stellt. Es handle sich hierbei um notwendige Arbeitsmittel, die der Arbeitgeber bereitzustellen habe. Eine entsprechende Klausel in den Arbeitsverträgen der Kläger, die sie zum Einsatz eigener Geräte verpflichte, sei unwirksam. Die Beklagte entgegnete, die Fahrradlieferanten verfügten ohnehin über die Gegenstände und müssten keine Neuanschaffungen tätigen, weshalb die arbeitsvertragliche Klausel die Rider nicht unangemessen belaste. Zudem seien etwaige Nachteile durch die gewährte Reparaturgutschrift kompensiert. 
 
Das Arbeitsgericht Frankfurt wies die Klage der Rider ab, das LAG Hessen hob diese Entscheidung jedoch auf und sprach den Klägern Fahrrad und Smartphone zu.
 
Entscheidung
Das BAG bestätigte die Entscheidung des LAG Hessen. Den Klägern stehe gem. §§ 611a, 615 S. 3, 618 BGB i.V.m. dem jeweiligen Arbeitsvertrag ein Anspruch auf ein Mobiltelefon samt erforderlichem Datenvolumen sowie ein verkehrstüchtiges Fahrrad zu. Dies ergäbe sich aus dem gesetzlichen Grundgedanken des Arbeitsverhältnisses, wonach der Arbeitgeber die für die Ausübung der vereinbarten Tätigkeit wesentlichen Arbeitsmittel zu stellen und für deren Funktionsfähigkeit zu sorgen habe. Er trage auch das Risiko dafür, dass die Betriebsmittel nicht einsatzfähig seien.
 
Die Beklagte könne ihre Anschaffungs- und Betriebskosten sowie das Risiko für Verschleiß, Wertverfall, Verlust oder Beschädigung von Betriebsmitteln auch nicht durch eine arbeitsvertragliche Klausel auf die Kläger übertragen. Eine solche Regelung, die als Allgemeine Geschäftsbedingung zu überprüfen sei, stellt nach Ansicht des BAG eine unangemessene Benachteiligung im Sinne von § 307 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 BGB dar. Auch sei keine ausreichende Kompensation dieses Nachteils erfolgt; insbesondere stelle das Reparaturbudget keinen geeigneten Ausgleich für die Nutzung des eigenen Fahrrads dar. Für den Einsatz des eigenen Smartphones sei erst gar kein finanzieller Ersatz vorgesehen.
 
Die Kläger könnten daher von der Beklagten die Bereitstellung der für die vereinbarte Tätigkeit als „Rider“ notwendigen essentiellen Arbeitsmittel – hier ein geeignetes verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes Smartphone – verlangen und müssten sich nicht mit nachgelagerten Ansprüchen wie Aufwendungsersatz abfinden.
 
Bewertung
Die Entscheidung des BAG, dass grundsätzlich der Arbeitgeber die für die Erbringung der Arbeitsleistung notwendigen Betriebsmittel zur Verfügung zu stellen hat, dürfte nicht nur für die Lieferdienst-Branche von Brisanz sein. Auch in anderen Bereichen könnte die Entscheidung weitreichende Folgen haben, beispielweise wenn es um die Ausstattung eines Home-Office-Arbeitsplatzes geht.
 
Zu berücksichtigen ist jedoch, dass das BAG vorliegend dem Anspruch auf Überlassung von Arbeitsmitteln insbesondere deshalb stattgegeben hat, weil vertraglich keine bzw. keine ausreichende Kompensation für die Nutzung der eigenen Geräte vorgesehen war. Bei einem hinreichenden Ausgleich für den Einsatz eigener Räder und Handys wäre die Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen. 
 
 
Amelie Rothe, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Unwirksame Befristung mit elektronischer Signatur
ArbG Berlin vom 28. September 2021, 36 Ca 15296/20

In Corona-Zeiten haben sich viele Vorgänge, bei denen früher persönliche Kontakte üblich waren, in die virtuelle Welt verlagert. Wer es dabei jedoch übertreibt bzw. nicht genau darauf achtet, welche Voraussetzungen zu erfüllen sind, erlebt mitunter ein böses Erwachen. Die vorliegende Entscheidung bekommt durch die zunehmende Digitalisierung – und den mitunter sorglosen Umgang mit entsprechenden Möglichkeiten – zusätzliche Brisanz.
 
Sachverhalt
Die Parteien schlossen nach bereits zuvor vereinbarten Befristungen am 29. September 2020 einen weiteren Arbeitsvertrag, nach dem das Arbeitsverhältnis ab dem 1. November 2020 bis zum Wegfall eines Sachgrundes bestehen sollte. Der Vertrag wurde elektronisch unter Nutzung des Tools „e-Sign“ unterzeichnet. Dieses kann nur nutzen, wer sich mit seinem persönlichen Account im System anmeldet, wobei nur der Inhaber des Accounts die Login-Daten kennt. Die Arbeitgeberin hatte umfassend zu den technischen Abläufen vorgetragen, allerdings keine Aussagen zu einer Zertifizierung des entsprechenden Tools getroffen.
 
Nach § 14 Abs. 4 TzBfG bedarf die Befristung eines Arbeitsvertrages zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Der Arbeitnehmer machte u. a. geltend, dass der befristete Arbeitsvertrag nicht den Formerfordernissen genüge, die bei befristeten Arbeitsverträgen gelte. Die genutzte elektronische Signatur stelle, so der Arbeitnehmer, keine qualifizierte elektronische Signatur dar. Die Befristung sei daher unwirksam und es sei stattdessen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entstanden.
 
Entscheidung
Das Arbeitsgericht gab der Befristungskontrollklage des Arbeitnehmers statt. Es betrachtete die vorliegend genutzte Signatur als nicht ausreichend, um dem Schriftformerfordernis Genüge zu tun. Die Befristung war daher als formnichtig i. S. d. § 125 S. 1 BGB anzusehen. Rechtsfolge ist, dass dann nach § 16 S. 1 TzBfG ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entsteht.
 
Unstreitig ist die Schriftform gem. § 126 BGB dann gewahrt, wenn eine Urkunde u. a. eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet wurde. Dies ist bei Arbeitsverträgen der Regelfall, wurde vorliegend aber nicht so gehandhabt
 
Nach § 126a BGB kann eine gesetzlich vorgeschriebene schriftliche Form durch die elektronische Form ersetzt werden. Voraussetzung ist, dass der Aussteller der Erklärung dieser seinen Namen hinzufügt und das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen muss (§ 126a Abs. 1 BGB). Dies sei zwar prinzipiell auch zur Wahrung des Formerfordernisses nach § 14 Abs. 4 TzBfG denkbar, allerdings erfülle das genutzte Tool nicht die Voraussetzungen einer qualifizierten elektronischen Signatur im Sinne der hier maßgeblichen eIDAS-VO. Es fehle an der erforderlichen Zertifizierung.
 
Der Kläger könne sich auch auf diese Unwirksamkeit berufen, obwohl er sich auf ein befristetes Arbeitsverhältnis eigentlich eingelassen hatte. Auch wenn die Parteien lediglich ein befristetes Arbeitsverhältnis begründen wollten, sei demnach ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entstanden.
 
Bewertung
Einmal mehr zeigt sich, dass der sorglose Umgang mit elektronischen Signaturen gefährliche Konsequenzen haben kann. Wer sich nicht mit den genauen technischen Details auskennt und absolute Gewissheit hat, dass die Voraussetzungen nach § 126a BGB und der Verordnung (EU) vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der RL 1999/93/EG (eIDAS-VO) erfüllt sind, sollte lieber nach dem alten „pen to paper“-Prinzip verfahren, um keine bösen Überraschungen zu erleben.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Oktober 2021



Stolperfalle Massenentlassungsanzeige – Was Arbeitgeber jetzt beachten müssen
Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil vom 25. Juni 2021 – 14 Sa 1225/20

In der Praxis gewinnt das Konsultations- und Anzeigeverfahren, das bei Restrukturierungen durchzuführen ist, zunehmend an Bedeutung. Wird das Verfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt, führt dies zur Unwirksamkeit der Kündigungen und mithin zu einer enormen finanziellen Belastung des ohnehin schon belasteten Arbeitgebers. § 17 KSchG ist Ausgangspunkt einiger Hürden, die Arbeitgeber nehmen müssen.

Die hierzu ergangene Rechtsprechung schafft mehr Rechtsunsicherheit und ist weit entfernt von einer klaren Linie. So bestehen nach wie vor Unsicherheiten beim maßgeblichen Betriebsbegriff, bei der zuständigen Agentur für Arbeit oder beim Zeitpunkt für die Unterschrift unter der Kündigung. Auch der richtige Konsultationspartner kann eine Stolperfalle darstellen, denn wie das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg im Zusammenhang mit der Air Berlin Insolvenz entschied, sind sämtliche Arbeitnehmervertretungen im Rahmen des Konsultationsverfahrens zu beteiligen (Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – 21 Sa 2100/18). Das Landesarbeitsgericht Hessen hat nun entschieden, dass eine Massenentlassungsanzeige ohne die „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Die beklagte Arbeitgeberin kündigte in der Zeit vom 18. Juni 2019 bis zum 18. Juli 2019 aufgrund Betriebsstilllegung und somit betriebsbedingt insgesamt 17 von in der Regel 21 im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer. Damit handelte es sich um eine Massenentlassung, welche nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit angezeigt werden musste.

Dies tat die Beklagte am 18. Juli 2019. Hierbei beschränkte sich die Massenentlassungsanzeige jedoch auf die sog. „Muss-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG. Hiervon müssen umfasst sein: Der Name des Arbeitgebers, der Sitz und die Art des Betriebs, die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppe der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, der Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer.
 
Am darauf folgenden Tag ging der Klägerin das Kündigungsschreiben zu. Am 23. Juli 2019 reichte die Arbeitgeberin bei der Agentur für Arbeit die sog. „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nach. Hiervon umfasst sind Geschlecht, Alter, Beruf sowie Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer.

Im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens machte die Klägerin geltend, die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft und die Kündigung damit unwirksam. Der Fehler habe darin gelegen, dass die Anzeige vor Ausspruch der Kündigung die Soll-Angaben nicht enthalten hat.

Die beklagte Arbeitgeberin wendete hiergegen ein, dass es sich bei den nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zu machenden Angaben schon dem Wortlaut nach klar um reine “Soll-Angaben“ handele, die auf die Wirksamkeit der Kündigung keine Auswirkung hätten. Auch aus der Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG ergebe sich, dass es sich insoweit um eine reine Soll-Bestimmung handele, da der Arbeitgeber die fraglichen Angaben häufig noch nicht machen könne. Der ursprüngliche Beruf des Mitarbeiters sei dem Arbeitgeber oft gar nicht bekannt. Der Gesetzgeber habe erkennbar zur Erreichung des Zwecks, der Agentur für Arbeit ihre Vermittlungstätigkeit zu erleichtern, die Angaben in § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG als ausreichend erachtet und gerade nicht die Auffassung vertreten, dass auch die weiteren Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zur Erreichung dieses Zwecks notwendig seien.

Das Arbeitsgericht wie auch das Landesarbeitsgericht gaben dem Kläger Recht. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen.

Die Entscheidung
Die Kündigung ist aus Sicht des Landesarbeitsgerichts unwirksam, weil die Massenentlassungsanzeige der Beklagten den Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nicht genüge. § 17 Abs. 3 S. 4, 5 KSchG setze die unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtline 98/59/EG des Rates vom 10. Juni 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL) um. Diese kenne die Unterscheidung zwischen Soll- und Muss-Angaben nicht. Dort heißt es: „[…] Alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.“ Hieraus abgeleitet, sei die Aufzählung aufgrund des Wortes „insbesondere“ nicht abschließend. Weiter seien sowohl die in § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG als auch die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Informationen „zweckdienlich“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 (3) der MERL. Denn sie würden die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit ebenfalls erleichtern.

In der Konsequenz, dass die der Agentur für Arbeit erstattete Massenentlassungsanzeige unzureichend war, wurde die Kündigung der Klägerin als unwirksam erachtet. Dies fußt darauf, dass Fehler im Konsultations- und Anzeigeverfahren zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen und alle davon erfassten Kündigungen aufgrund eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Kündigungsverbot nach § 134 BGB unwirksam sind. 

Bewertung
Die Argumentation des Landesarbeitsgerichts Hessen überzeugt dem Grunde nach, ist jedoch nicht zu Ende gedacht. Richtig ist die Herangehensweise zur europarechtskonformen Auslegung auf Grundlage der MERL. Betrachtet man jedoch die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Informationen genauer, stellt sich die Frage, wofür die Agenturen für Arbeit diese Informationen bei ihren Vermittlungsbemühungen benötigen. Weder das Geschlecht, das Alter noch die Staatsangehörigkeit sollten Kriterien bei der Jobvermittlung sein. Dies ist dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz immanent. Es würde verwundern, wenn die Agenturen für Arbeit diese Kriterien für ihre Vermittlungsbemühungen hernehmen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, schafft jedoch bereits jetzt Rechtsunsicherheit. Verzichtet der Arbeitgeber auf die Einreichung des Formblattes „BA-KSchG 2“, in dem die sog. „Soll-Angaben“ aufgeführt sind und das bislang als freiwilliger Zusatz galt, droht den betriebsbedingten Kündigungen, die im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochen werden, die Unwirksamkeit. Arbeitgeber sind daher gut beraten, bereits jetzt bei Massenentlassungsanzeigen stets auch die „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG an die zuständige Agentur für Arbeit zu übermitteln. Das Landesarbeitsgericht ging in seiner Entscheidung sogar soweit, dass dem Arbeitgeber auch Nachforschungen zuzumuten seien, sollte er nicht über sämtliche Informationen verfügen.

Christian Böhm, Rechtsanwalt, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München 


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Ansichten eines Maskenverweigerers
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.10.2021, 10 Sa 867/21


Verschiedene Erscheinungsformen von Maskenpflichten beschäftigen in vielfältigen Konstellationen zunehmend auch die Arbeitsgerichte. Die kategorische Ablehnung des Maskentragens ohne belastbare medizinische Gründe kostete nun einen Lehrer aus Potsdam-Mittelmark seinen Job.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Kläger unterlag im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Grundschullehrer in Brandenburg der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Dennoch weigerte er sich, im Schulbetrieb einen solchen zu tragen. Er begründete dies mit einer generellen Ablehnung der Maskenpflicht. In E-Mails an die Elternvertreterin der Schule erklärte er, dass er die Maskenpflicht gegenüber den Kindern als „Nötigung, Kindesmissbrauch, ja sogar vorsätzliche Körperverletzung“ ansehe. Weiterhin forderte er die Eltern auf, mit einem vorformulierten Schreiben gegen die Schule vorzugehen. Die Arbeitgeberin forderte ihn auf, von seinem Verhalten Abstand zu nehmen und erklärte, er müsse andernfalls mit einer Kündigung rechnen. Der Kläger blieb jedoch bei seiner Haltung und wiederholte seine Äußerungen in einer weiteren E-Mail.

Da er darauf hingewiesen wurde, dass eine Entbindung von der Maskenpflicht bei Vorliegen eines entsprechenden ärztlichen Attests erfolgen würde, legte er – nach mehrfacher Aufforderung – ein aus dem Internet stammendes Attest eines österreichischen Arztes vor. 

Das Land Brandenburg erkannte das Attest nicht an und kündigte das Arbeitsverhältnis auch wegen der Äußerungen des Klägers über die Maskenpflicht fristlos. Das Arbeitsgericht Brandenburg an der Havel erklärte die Kündigung mangels Abmahnung für unwirksam, entschied aber immerhin, dass das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen sei. Auf die von beiden Seiten hiergegen eingelegte Berufung entschied das LAG Berlin-Brandenburg zugunsten der Arbeitgeberin und wies die Kündigungsschutzklage ab.

Die Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht stellte in seiner Entscheidung insbesondere auf die Äußerungen gegenüber der Elternvertreterin ab. Auch erkannte es in der Erklärung, dass eine Kündigung drohe, wenn der Kläger nicht von seinem Verhalten Abstand nehme, eine entsprechende Abmahnung. Da der Kläger jedoch die entsprechenden Äußerungen auch nach dieser Mitteilung wiederholte, könne ihm das Verhalten für die Kündigung zur Last gelegt werden.

Ein weiterer tragender Grund war die beharrliche Weigerung des Klägers, den geforderten Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Hier genüge insbesondere das aus dem Internet stammende österreichische Attest nicht, um eine Befreiung zu rechtfertigen.

Die Revision wurde nicht zugelassen.

Bewertung
Der Begründung ist zuzustimmen. Die Entscheidung, ein Internet-Attest für nicht ausreichend zu erachten, liegt auf der Linie der sich hierzu entwickelnden Rechtsprechung (vgl. auch den Newsletter-Beitrag aus Juli 2021 – Die ‚Rotzlappenbefreiung‘ und das Arbeitsgericht Köln). 

Der praktische Anwendungsbereich zumindest der aufgeheizten Debatte darum, ob Kindern die Maskentragepflicht zugemutet werden kann, wird sich dadurch reduzieren, dass entsprechende Vorgaben gelockert werden und bereits regional vereinzelt entsprechende Pflichten für Grundschüler wieder aufgehoben wurden. Dennoch dürfte zu erwarten sein, dass diese und ähnliche Themen noch eine ganze Weile die Rechtsprechung beschäftigen werden.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kff., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin


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September 2021




Seltsame Krankschreibungen und Entgeltfortzahlungsansprüche
BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21

Krankschreibungen kommen in der Praxis in einigen Fällen zu einem extrem merkwürdigen Zeitpunkt – so manche Arbeitnehmer kündigen selbst das Arbeitsverhältnis und werden daraufhin sofort krank, andere erhalten eine Kündigung und erkranken exakt sechs Wochen vor Ende des Anstellungsverhältnisses. Sobald jedoch ein „gelber Schein“ im Spiel ist, war die Rechtsprechung – bislang – sehr großzügig dabei, die darin enthaltene Behauptung des Vorliegens von Arbeitsunfähigkeit als nahezu unumstößliche Tatsache zu betrachten. Arbeitgeber mussten derweil immer wieder die Erfahrung machen, bei dem Versuch, fragwürde Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern, gegen Windmühlen zu kämpfen. Das BAG hat nunmehr anerkannt, dass eine im vorstehenden Sinne seltsame Krankschreibung nicht ohne Weiteres Entgeltfortzahlungsansprüche auslöst.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Klägerin kündigte im Februar 2019 ihr Arbeitsverhältnis und legte am selben Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Demnach ging die Arbeitsunfähigkeit genau so lange, wie das Arbeitsverhältnis nach Ausspruch der Kündigung noch andauern sollte. Die Arbeitgeberin äußerte daher Zweifel an der Krankschreibung und verweigerte die Entgeltfortzahlung. Sie betrachtete den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits aufgrund der merkwürdigen zeitlichen Abläufe als erschüttert. Hinzu kam, dass die Mitarbeiterin sogar im Kollegenkreis hatte fallen lassen, dass sie nach Ausspruch der Kündigung nicht mehr zur Arbeit erscheinen werde.

Das LAG Niedersachsen hatte der entsprechenden Klage der Arbeitnehmerin – ebenso wie das erstinstanzlich zuständige Arbeitsgericht – noch stattgegeben. Das Bundesarbeitsgericht sah dies anders.

Die Entscheidung
Das BAG verwies darauf, dass die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich geeignet sei, eine behauptete Arbeitsunfähigkeit zu beweisen. Mache allerdings der Arbeitgeber geltend, dass es einen fragwürdigen Zusammenhang zwischen der Lage der Arbeitsunfähigkeit und dem Lauf der Kündigungsfrist gebe, so könne bereits dies den Beweiswert der entsprechenden Bescheinigung erschüttern. So hatte der Arbeitgeber im vorliegenden Fall ausreichend dargelegt, warum ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit angebracht seien.

Diesbezüglich sei es dem Arbeitnehmer unbenommen, den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden und so dem arbeitgeberseitigen Vorbringen entgegen zu treten. Insgesamt obliege es dann dem Arbeitnehmer, der ergänzenden Darlegungslast bzgl. der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit nachzukommen. Erfolge daraufhin aber keine entsprechende Darlegung, könne auch der Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht anerkannt werden. Da vorliegend die Klägerin ihrer entsprechenden Darlegungslast nach gerichtlichem Hinweis nicht nachgekommen war, wies das BAG die Klage ab.

Bewertung
Die Entscheidung ist sehr zu begrüßen, schiebt sie doch der Unsitte, zum Ende eines Arbeitsverhältnisses hin noch Entgeltfortzahlungsansprüche „mitnehmen“ zu wollen, einen Riegel vor. Maßstab ist, dass der – grundsätzlich sehr hohe – Beweiswert einer ärztlichen Bescheinigung dann erschüttert ist, wenn ernstliche und objektiv begründete Zweifel vorgebracht werden, dass tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt.

Neu ist die Andeutung des BAG, dass bereits der Verweis auf merkwürdige zeitliche Zusammenhänge als entsprechende Erschütterung ausreichen kann (wobei vorliegend die im Kollegenkreis geäußerte Absicht, nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen, noch hinzu kam). Es bleibt abzuwarten, ob das BAG diese Rechtsprechung konsequent fortsetzt und auch im Fall von 6-Wochen-Krankheiten am Ende des Arbeitsverhältnisses bereits von einer vertieften Darlegungslast eines Entgeltfortzahlung beanspruchenden Arbeitnehmers ausgeht.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kff., Dipl.-Vw., Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Pauschale Ausschlussklausel - Berufung auch des Arbeitgebers auf die Nichtigkeit
BAG, Urteil vom 26.11.2020 – 8 AZR 58/20

Eine Ausschlussklausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder vorformulierten Vertragsbedingungen im Sinne von § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB, nach der ausnahmslos alle Ansprüche verfallen, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, wenn sie nicht binnen bestimmter Fristen geltend gemacht und eingeklagt werden, erfasst ihrem Wortlaut nach auch Ansprüche wegen einer vorsätzlichen Vertragsverletzung oder einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung. Diese Verfallklausel ist wegen Verstoßes gegen § 202 Abs. 1 BGB nach § 134 BGB nichtig. Der Arbeitgeber muss sie jedoch nicht nach den Grundsätzen über die personale Teilunwirksamkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegen sich gelten lassen.
 







Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin und Widerbeklagte, der die Durchführung der Finanz- und Lohnbuchhaltung der Beklagten oblag, der Beklagten und Widerklägerin zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet ist.

In dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 22.12.2010 heißt es unter anderem:
„§ 13. Verfallsfristen. Alle Ansprüche, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, sind binnen einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend zu machen und im Fall der Ablehnung durch die Gegenpartei binnen einer Ausschlussfrist von einem Monat einzuklagen.“

Die Klägerin gab in einem Gespräch mit ihrer damaligen Arbeitgeberin an, dass sie Überweisungen zulasten der Beklagten und zugunsten ihres damaligen Ehemannes gebucht habe. Die Beklagte kündigte im Anschluss an dieses Gespräch das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin. Die Klägerin wandte sich gegen die ordentliche Kündigung. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 18.09.2017 außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum 30.11.2017. Hierauf griff die Klägerin auch diese Kündigung an. Die Beklagte nahm die Klägerin mit einem der Klägerin am 15.12.2017 zugestellten Schriftsatz widerklagend auf Zahlung eines sechsstelligen Betrages in Anspruch.Die Klägerin machte unter anderem geltend, dass den behaupteten Ansprüchen der Beklagten die im Arbeitsvertrag enthaltene Ausschlussklausel entgegen stünde.

Das Arbeitsgericht hatte mit insoweit rechtskräftigem Urteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien erst durch die ordentliche Kündigung vom 22.08.2017 mit Ablauf des 31.10.2017 sein Ende gefunden hat. Ferner hatte es die Klägerin verurteilt, an die Beklagte auf deren Widerklage einen sechsstelligen Betrag zu zahlen. Das Landesarbeitsgericht wies die auf Abweisung der Widerklage gerichtete Berufung der Klägerin zurück. Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin weiterhin die Abweisung der Widerklage.

Die Entscheidung
Das BAG hielt die Revision der Klägerin für begründet, allerdings hinsichtlich der Frage, ob etwaige Ansprüche der Beklagten nach § 13 des Arbeitsvertrags vom 22.12.2010 verfallen sind, unter anderem folgende Hinweise für geboten:
 
  • Eine Auslegung nach den für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Grundsätzen ergebe, dass Schadensersatzansprüche wegen vorsätzlicher Vertragsverletzung und vorsätzlicher unerlaubter Handlung von der Ausschlussklausel in § 13 des Arbeitsvertrags erfasst werden.
  • Die Ausschlussklausel in § 13 des Arbeitsvertrags vom 22.12.2010 stehe Ansprüchen der Beklagten nicht entgegen, da diese Verfallklausel wegen Verstoßes gegen § 202 Abs. 1 BGB nach § 134 BGB nichtig ist. Die Beklagte müsse die Klausel nicht nach den Grundsätzen über die personale Teilunwirksamkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gegen sich gelten lassen.
Bewertung
Die Entscheidung des BAG ist im Umgang mit Verfallklauseln eine erfreuliche Neuerung für Arbeitgeber. Sie steht in Kontrast zur bisherigen Rechtsprechung des BAG zu §§ 307 ff. BGB, der zufolge der Verwender an der einseitigen Ausnutzung der Vertragsgestaltungsfreiheit zu seinen Gunsten zu hindern ist. Auch der Arbeitgeber kann sich nunmehr – für die Praxis hoch relevant – auf die Unwirksamkeit der Verfallklausel dann berufen, wenn eine Klausel wegen eines Verstoßes gegen § 202 I BGB nach § 134 BGB nichtig ist.

Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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August 2021






'Dann bin ich halt krank' - und arbeitslos

LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 4. Mai 2021, 5 Sa 319/20

Fragwürdige Krankschreibungen sind – gerade im Kontext von Konfliktsituationen – keine Seltenheit. Vereinzelt wird sogar direkt in Aussicht gestellt, dass man sich gegen unerwünschtes Arbeitgeberverhalten mit einer Krankschreibung „zu wehren“ wisse. Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hat – auch wenn die hier streitgegenständliche Kündigung aus anderen Gründen kassiert wurde – klargestellt, dass es sich bei einer Drohung mit Krankschreibung um ein gravierendes Fehlverhalten handelt, welches selbst dann zur Kündigung berechtigen kann, wenn im angedrohten Zeitraum wirklich eine Arbeitsunfähigkeit vorliegen sollte.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Die klagende Arbeitnehmerin ist Verkäuferin in einer Bäckerei, in welcher es unter den Kolleginnen erhebliche Spannungen gab. Für den Monat Juli 2020 hatte die Klägerin darum gebeten, zur Frühschicht eingeteilt zu werden, erhielt aber trotzdem einen Schichtplan, der sie für spätere Schichten vorsah. Die entsprechenden Diskussionen gipfelten in einer WhatsApp an die Filialleiterin mit folgendem Wortlaut: „Die Woche vom 20 mach ich definitiv keine spät dann bin ich krank geschrieben“.

Schon bald legte die Klägerin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Gegenstand: „depressive Episode“) vor und erklärte außerdem eine Eigenkündigung zum 31.07.2020. Die Arbeitgeberseite nahm die angedrohte Krankschreibung ihrerseits unmittelbar darauf zum Anlass für eine fristlose Kündigung. Sie warf der Klägerin vor, Rechte aus dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) zu missbrauchen, um sich einen unberechtigten Vorteil zu verschaffen. Die Ankündigung einer Krankschreibung, um eine gewünschte Schichtplanung zu erreichen, betrachte sie als versuchte Nötigung und das Verhalten als insgesamt inakzeptabel. Die Klägerin berief sich darauf, sie sei tatsächlich dem psychischen Druck nicht mehr gewachsen gewesen und daher wirklich arbeitsunfähig.

In erster Instanz stieß die Klägerin noch auf Verständnis des Arbeitsgerichts – die Kündigung wurde für unwirksam erklärt, da die Arbeitgeberin nicht geprüft habe, ob die Klägerin vielleicht aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Spätschicht arbeiten konnte. Sei letzteres der Fall, habe man ihr einen leidensgerechten Arbeitsplatz anbieten müssen. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung blieb formell erfolglos, führte aber immerhin zu der Bestätigung, dass das beanstandete Verhalten sehr wohl einen Kündigungsgrund darstellen könne.

Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht betrachtete das beschriebene Verhalten als grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu tragen. Eine solche sei vorliegend sogar ohne vorherige Abmahnung denkbar. Die Ankündigung einer Krankschreibung bei objektiv nicht bestehender Erkrankung stelle eine erhebliche Pflichtwidrigkeit dar und sei geeignet, das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit und Loyalität des Arbeitnehmers schwer zu beeinträchtigen. Es sei nicht hinnehmbar, wenn ein Arbeitnehmer versuche, sich eine begehrte Freistellung durch eine in Wahrheit nicht vorliegende Arbeitsunfähigkeit zu verschaffen. In einem solchen Fall sei dann auch irrelevant, ob später wirklich eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt werde – der Vorwurf richte sich primär auf die Bereitschaft zu einer missbräuchlichen Nutzung der Rechte aus dem EFZG.

Dennoch kam das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zu der Feststellung, dass die außerordentliche Kündigung unwirksam sei – dies deshalb, weil sich nur noch die Frage stellte, ob die Beschäftigung der Klägerin für die wenigen verbleibenden Wochen bis zur planmäßigen Beendigung aufgrund ihrer Eigenkündigung zumutbar sei. Vor diesem Hintergrund bewertete das Landesarbeitsgericht die überholende außerordentliche Kündigung als unverhältnismäßig. Hierbei sei zum einen zu berücksichtigen, dass die Klägerin für die kurze verbleibende Zeit auch in einer anderen Filiale eingesetzt werden könne, zum anderen habe sich in der streitgegenständlichen WhatsApp offenbar die länger schwelende Spannung entladen und von einer Wiederholungsgefahr sei nicht auszugehen. Dementsprechend sei kein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an einer sofortigen Beendigung noch vor Auslaufen der ohnehin durch die Eigenkündigung in Gang gesetzten Kündigungsfrist festzustellen.

Bewertung
In den Entscheidungsgründen klingt an, dass das Landesarbeitsgericht – insofern anders als die Vorinstanz – durchaus geneigt gewesen wäre, die Kündigung als rechtmäßig anzusehen, wenn sie auf ein sonst unbeendetes Arbeitsverhältnis getroffen wäre. Unabhängig von der Frage, ob eine im Kontext eines Konflikts angekündigte Arbeitsunfähigkeit später tatsächlich vorliegt, ist bereits die kundgetane Absicht des „Krankmachens“ eine erhebliche Pflichtverletzung, die prinzipiell eine – auch fristlose – Kündigung rechtfertigen kann.

Für die Praxis ist hierbei wichtig, dass nicht erst abzuwarten ist, ob an dem fraglichen Tag tatsächlich eine Krankmeldung vorliegen wird, denn die Pflichtverletzung ist bereits mit der Ankündigung eingetreten und dementsprechend läuft bereits ab diesem Zeitpunkt auch die Kündigungserklärungsfrist.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Gemeinsamer Betrieb und Maßregelungsverbot - zwei Dauerbrenner bei Kündigungen
BAG, Urteil vom 20.05.2021 – 2 AZR 560/20

In Konzernkonstellationen oder wenn zwei Unternehmen denselben Geschäftsführer haben und eng zusammenarbeiten, wird in Kündigungsschutzprozessen von Arbeitnehmern gerne die Auffassung vertreten, es handle sich um einen gemeinsamen Betrieb. Dies kann etwa hinsichtlich Sozialauswahl, Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten oder wie hier für die Anwendbarkeit (des Ersten Abschnitts) des Kündigungsschutzgesetzes relevant sein und den Fall entscheiden. Bloße Zusammenarbeit der Unternehmen allein reicht für einen Gemeinschaftsbetrieb aber ebenso wenig aus, wie die Personenidentität der Geschäftsführer.
Ferner hat das BAG entschieden, dass eine Kündigung nur aus äußerem Anlass einer Krankmeldung nicht gegen das Maßregelungsverbot verstößt, wenn die Krankmeldung nicht der tragende Beweggrund für die  Kündigung ist. In diesem Fall wird der Arbeitnehmer nicht wegen einer zulässigen Rechtsausübung benachteiligt.
 









Sachverhalt
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
Die Beklagte vertreibt Wägeeinrichtungen und bietet ihren Kunden darauf bezogene Serviceleistungen an. Teilweise bezog die Beklagte die Wägeeinrichtungen von der Firma A GmbH (im Folgenden AS), die ebenfalls Wägeeinrichtungen vertreibt sowie entsprechende Serviceleistungen anbietet. Seit 2015 war der Kläger bei der Beklagten als Servicetechniker im Außendienst beschäftigt. Bei seinem Einstellungsgespräch war auch der damalige Serviceleiter der AS anwesend. Der Kläger besuchte die Produktschulungen der AS  und wurde von dieser eingearbeitet. Neben dem Kläger beschäftigte die Beklagte noch einen weiteren Servicetechniker sowie zwei kaufmännische Angestellte. Der Geschäftsführer der AS ist zugleich Geschäftsführer der Beklagten.

Die Beklagte und die AS arbeiten zusammen. So wird im Internetauftritt der AS als weiterer Servicestützpunkt auch die Beklagte genannt. Die Servicetechniker beider Unternehmen werden auch bei den Kunden des jeweils anderen Unternehmens tätig. In Einzelfällen kommt es zu gemeinsamen Einsätzen. Bei der Beklagten nimmt die Einteilung der Servicetechniker eine kaufmännische Angestellte vor, bei der AS erfolgt die Einteilung durch deren Serviceleiter. Reichen die eigene Personalkapazitäten nicht aus, wird beim jeweils anderen Unternehmen angefragt, ob für einen bestimmten Auftrag ein Servicetechniker verfügbar ist. Sofern das der Fall ist, wird dieser dann jeweils vom eigenen Unternehmen für die Kunden des anderen Unternehmens eingeteilt. Die für die Kalibrierung von Wägeeinrichtungen erforderlichen Gewichte werden bei Bedarf zwischen der Beklagten und der AS ausgetauscht oder von anderen Unternehmen bezogen. Personalangelegenheiten beider Unternehmen erledigt der Geschäftsführer. Für die Personalverwaltung beider Unternehmen ist derselbe externe Steuerberater verantwortlich.

Mit Schreiben vom 17. und 18. Januar 2019 legte der Geschäftsführer der Beklagten dem Kläger Pflichtverletzungen zur Last und mahnte ihn ab. Vom 5. Februar 2019 bis 22. März 2019 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reichte er am 5. Februar 2019 bei der Beklagten ein. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 5. Februar 2019 ordentlich zum 31. März 2019.

Entscheidung
Das Arbeitsgericht Mannheim hatte die Klage abgewiesen und das LAG Baden-Württemberg die Berufung zurückgewiesen. Auch die Revision des Klägers blieb ohne Erfolg.
Das LAG habe zu Recht die Anwendbarkeit von § 1 KSchG verneint, da die Beklagte nicht mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftige. Der Kläger sei nicht in einem gemeinsam von der Beklagten und der AS geführten Betrieb beschäftigt gewesen. Weder sei der Personaleinsatz betriebsübergreifend von einer einheitlichen Leitung gesteuert worden, noch seien die Betriebsmittel zu einem gemeinsamen arbeitstechnischen Zweck eingesetzt worden. Die Personenidentität des Geschäftsführers sei für die Annahme einer einheitlichen Leitung allein nicht ausreichend. Dass eine Person mehrere Unternehmen leite, bedeute noch nicht, dass sie diese Aufgabe für alle Unternehmen einheitlich wahrnimmt. Für eine solche Annahme bedürfe es vielmehr weiterer Anhaltspunkte. Das LAG habe rechtsfehlerfrei darauf abgestellt, dass die Umstände der Bewerbung und Einarbeitung des Klägers nichts über die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Kündigung besagt und keine einheitliche Personalführung erfordert hätten. Hinsichtlich des Einsatzes der Servicetechniker habe das LAG keine Anhaltspunkte dafür erkannt, dass der Geschäftsführer unternehmensübergreifend Personaleinsätze angeordnet oder Vorgesetzte dazu ermächtigt hätte, direkt auf das Personal des anderen Unternehmens zuzugreifen. Der Serviceleiter der AS sei dem Kläger gegenüber nicht weisungsbefugt gewesen. Soweit die für die Kalibrierung erforderlichen Gewichte zwischen den Unternehmen ausgetauscht wurden, seien weder Umstände dafür festgestellt worden, dass es sich bei den Gewichten um „wesentliche Betriebsmittel“ gehandelt habe, noch dass deren Austausch zentral gesteuert worden wäre.
Die Kündigung sei auch nicht wegen Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot nichtig. Es könne offen bleiben, ob ein Arbeitnehmer, der unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Arbeit fernbleibe, überhaupt i.S.d. § 612 a BGB ein Recht ausübe. Das LAG habe jedenfalls rechtsfehlerfrei erkannt, dass die Krankmeldung zwar der äußere Anlass, aber nicht der tragende Beweggrund für die Kündigung gewesen sei. Will der Arbeitgeber nicht das zulässige Fernbleiben von der Arbeit sanktionieren, sondern für die Zukunft erwartete Folgen weiterer Arbeitsunfähigkeit, hier Störungen der Einsatzplanung und Unannehmlichkeiten für die Kunden, vermeiden, fehle es an einem unlauteren Motiv.

Bewertung
Das Urteil bestätigt die bisherige Rechtsprechung des BAG, zeigt aber deutlich, dass bei der Bewertung der Indizien für einen gemeinsamen Betrieb durchaus ein gewisser Beurteilungsspielraum gegeben ist. Einige Arbeitsgerichte hätten bei dem vorliegenden Sachverhalt erfahrungsgemäß wohl anders entschieden. Eine lediglich unternehmerische Zusammenarbeit genügt richtigerweise aber auch dann nicht, wenn die Geschäftsführer identisch sind. Personenidentität kann zwar ein wesentliches Indiz sein, bedeutet aber noch nicht, dass ein Geschäftsführer die Unternehmen auch tatsächlich einheitlich leitet. Dafür müssen vielmehr weitere Anhaltspunkte vorgetragen werden. Der Arbeitnehmer trägt hierfür zunächst die Darlegungs- und Beweislast. Mit Rücksicht auf seine typischerweise nur unzureichende Kenntnis von den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Unternehmen können ihm dabei jedoch Erleichterungen zugutekommen. Im ersten Schritt muss der Arbeitnehmer aber zumindest äußere Umstände dafür aufzeigen, dass sich mehrere Unternehmen über die gemeinsame Führung eines Betriebs unter einem einheitlichen Leitungsapparat geeinigt haben. Für die Praxis ist zudem interessant, dass es immer auf den Zeitpunkt der Kündigung ankommt. Etwaige Veränderungen während der Beschäftigungsdauer stellen damit ein Gestaltungsmittel für Arbeitgeber dar.

Nach § 612 a BGB darf ein Arbeitnehmer nicht benachteiligt werden, weil er in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Als Sonderfall der Sittenwidrigkeit setzt das Maßregelungsverbot voraus, dass die zulässige Rechtsausübung das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme ist. Bei einem sog. Motivbündel ist auf das wesentliche Motiv abzustellen. Will der Arbeitgeber mit der Kündigung nur für die Zukunft erwarteten Folgen weiterer Arbeitsunfähigkeit, etwa (neuerlichen) Betriebsablaufstörungen, vorbeugen, stellt dies keine unzulässige Maßregelung dar. Ein anderes Ergebnis widerspräche auch der Regelung des § 8 Abs. 1 Satz 1 EFZG, wonach der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nicht dadurch berührt wird, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit kündigt. Eine solche Konstellation könnte es nicht geben, wenn eine Kündigung aus Anlass der Arbeitsunfähigkeit immer gleichzeitig wegen Maßregelung unwirksam wäre.

Felix Römisch, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Juli 2021



Annahmeverzugslohn und böswillig unterlassener Verdienst - wie gewonnen so zerronnen?
BAG, Urteil vom 23.02.2021 - 5 AZR 213/20

Bereits im Newsletter November 2020 haben wir eine Entscheidung des BAG zum Thema Annahmeverzugslohn und böswillig unterlassener Zwischenverdienst, in diesem Fall nach einer unwirksamen Kündigung, besprochen und auf den Auskunftsanspruch des Arbeitgebers hingewiesen. Die hier gegenständliche Entscheidung des BAG zeigt, dass dieses Thema auch über einen Kündigungsrechtsstreit hinaus besondere Bedeutung hat und sich für den Arbeitnehmer nach einem Streit um die (Un)Billigkeit einer Weisung der Spruch „wie gewonnen so zerronnen“ bewahrheiten könnte.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Kläger war bei dem beklagten Unternehmen seit 1998 beschäftigt, zuletzt ab 2001 als Leiter eines Glutolin-Betriebs, in dem ca. 65 Produktionsmitarbeiter tätig waren.  Im Anstellungsvertrag aus dem Jahr 2001 hielten die Parteien ihr gemeinsames Verständnis fest, dass der Kläger als leitender Angestellter im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG anzusehen ist.

Im Jahr 2017 wurde der Kläger aufgrund der aus Sicht der Beklagten mangelnden Führungs- und Sozialkompetenz von der Leitung des Betriebs entbunden. Die Beklagte wies ihm ohne Beteiligung des Betriebsrats zunächst bei unverändertem Grundentgelt die Tätigkeit „Technical Supervisor Plaquemine“ zu, später die (neue) Stelle „Senior Manager Security“. Der Kläger erhob dagegen jeweils Klage und obsiegte - rechtskräftig - in der Berufungsinstanz. Das Angebot des Klägers, seine Arbeitsleistung als Betriebsleiter zur erbringen, lehnte die Beklagte ab. Der Kläger machte sodann Ansprüche auf Annahmeverzugslohn für den Zeitraum seit dem Angebot seiner Arbeitsleitung als Betriebsleiter geltend. Die ihm zugewiesenen geringwertigeren Tätigkeiten seien ihm nicht zumutbar gewesen. Zudem könne ihm kein böswilliges Unterlassen vorgeworfen werden, da er der unwirksamen Weisung nicht Folge leisten musste. Die Beklagte beantragte dagegen Klageabweisung mit dem Argument, dass dem Kläger böswillig unterlassener Verdienst anzurechnen sei.
Das ArbG Wiesbaden hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung hat das Hessische LAG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Annahmeverzugslohn verurteilt.

Entscheidung
Das BAG stellte auf die erfolgreiche Revision der Beklagten fest, dass das Hessische LAG der Klage nicht mit der gewählten Begründung hätte stattgeben dürfen und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. Das Hessische LAG hatte die Frage, ob dem Kläger die neu zugewiesenen Tätigkeiten (zwischenzeitlich bis zur Entscheidung über die Versetzungen) zumutbar gewesen wären, mit der Begründung dahinstehen lassen, dass der Beklagten die Beschäftigung wegen Verletzung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 99, 100 BetrVG rechtlich unmöglich war. Dagegen wendet das BAG ein, dass die fehlende Zustimmung des Betriebsrats zwar als Kriterium zu berücksichtigen sei, die umfassende Interessenabwägung aber nicht aus diesem Grund unterbleiben dürfe. Bei der Anwendung der Rechtsbegriffe „Zumutbarkeit“ und „Böswilligkeit“ kommt dem Berufungsgericht - hier dem Hessischen LAG - ein Beurteilungsspielraum zu, der durch das BAG nur eingeschränkt überprüfbar ist. Allerdings hat das Hessische LAG die umfassende Interessenabwägung nachzuholen und dabei zu berücksichtigen, dass die fehlende Beteiligung des Betriebsrats sowie die rechtskräftig festgestellte Unwirksamkeit der Versetzung das böswillige Unterlassen vorliegend nicht ausschließen. Vielmehr muss das Hessische LAG im Rahmen der erneuten Verhandlung prüfen, ob ausgehend von den Feststellungen des ArbG Wiesbaden, die anderweitigen Tätigkeiten seien zumutbar gewesen, unter Berücksichtigung der vom Kläger erhobenen Einwände ausnahmsweise ein anderes Ergebnis gerechtfertigt ist.

Bewertung
Dieser Fall zeigt eindrucksvoll, dass die Risikoverteilung eines Rechtsstreits auf Zahlung von Annahmeverzugslohn deutlich anders gelagert ist, als dies Arbeitnehmer, aber auch Arbeitgeber mitunter einschätzen. Während im Rahmen eines Rechtsstreits betreffend die Wirksamkeit einer Kündigung zumeist keine anderweitige Beschäftigung des Arbeitnehmers denkbar oder möglich ist, lehnt der Arbeitnehmer im Falle einer (unwirksamen) Versetzung immer eine konkrete anderweitige Tätigkeit ab und wähnt sich dabei häufig in Sicherheit, seine Vergütung jedenfalls rückwirkend als Annahmeverzugslohn zu erhalten.

Die Entscheidung des BAG ist aus Sicht des Arbeitgebers, insbesondere des hier beklagten Unternehmens begrüßenswert. Streitgegenständlich ist schließlich die Zahlung von mehr als EUR 200.000,00 Annahmeverzugslohn, für die der Kläger keine Leistung erbracht hat. Die vom Hessischen LAG durchzuführende umfassende Interessenabwägung kann zu beiden Ergebnissen gelangen. Zu beachten ist jedoch, dass weder die Unwirksamkeit der Versetzung noch die fehlende Beteiligung des Betriebsrats dazu führen, dass die Tätigkeiten - zwischenzeitlich - als anderweitige Verdienstmöglichkeit unzumutbar gewesen wären.
Eine Versetzung war und ist ein wichtiges Gestaltungsmittel des Arbeitgebers, das unter Berücksichtigung der Risikoverteilung auch eingesetzt werden sollte. Als „Spielwiese für trennungswillige Arbeitgeber“ dürfen unbillige Weisungen jedoch nicht missbraucht werden. Dies müsse nach der Begründung des BAG aber im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden und zur Verneinung der Böswilligkeit führen.

Thomas Graf, Eversheds Sutherland (Germany) LLP, München

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Die 'Rotzlappenefreiung' und das Arbeitsgericht Köln
ArbG Köln, Urteil vom 17.06.2021, 12 Ca 560/21

Corona ist mittlerweile auch im Arbeitsrecht angekommen. Mehrfach mussten sich Gerichte mit Fällen auseinandersetzen, in denen Arbeitnehmer sich der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes entziehen wollten. Eine aktuelle Entscheidung des Arbeitsgerichts Köln zeigt, dass eine zu nachdrückliche Verweigerungshaltung ggf. sogar den Arbeitsplatz kosten kann.

 







Sachverhalt
Der Arbeitgeber beschäftigte den Arbeitnehmer im Außendienst und hatte für Beschäftigte mit Kundenkontakt das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes angeordnet. Der als Servicetechniker beschäftigte Kläger lehnte aber generell das Tragen von Masken ab und verweigerte daher wiederholt auch die Durchführung von Aufträgen, bei denen er einen solchen Schutz hätte tragen müssen. Er war aufgrund eines solchen Vorgangs bereits einschlägig abgemahnt. 

Zur Untermauerung seiner Ablehnung legte der Arbeitnehmer dann ein auf Blankopapier ausgestelltes Dokument vor, ausweislich dessen es ihm 'aus medizinischen Gründen' unzumutbar sei, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Nähere Angaben zu diesen 'medizinischen Gründen' waren nicht enthalten, so dass der Arbeitgeber das als ärztliches Attest bezeichnete Dokument auch nicht anerkannte. Der Arbeitgeber hatte auch deshalb Zweifel an der Ernsthaftigkeit, weil der Arbeitnehmer bei Übermittlung des Attests den Betreff 'Rotzlappenbefreiung' gewählt hatte. Um aber dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, die nicht näher definierten 'medizinischen Gründe' zu erhärten, schlug der Arbeitgeber eine betriebsärztliche Untersuchung vor. Hierauf ließ sich der Arbeitnehmer aber nicht ein und blieb bei seiner Verweigerungshaltung. Auch der Hinweis darauf, dass der Arbeitgeber die Kosten für den Mund-Nasen-Schutz tragen würde, änderte daran nichts. 

Nach erneuter Ablehnung einer Auftragsdurchführung, bei der das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes Pflicht gewesen wäre, erhielt der Arbeitnehmer schließlich eine außerordentliche Kündigung. Gegen diese wehrte er sich sodann vor dem Arbeitsgericht.

Entscheidung
Die Kündigungsschutzklage blieb erfolglos. Das Arbeitsgericht Köln wertete die Verweigerung des Maskentragens als außerordentlichen Kündigungsgrund. Es erkannte in der beharrlichen Weigerung eine wiederholte Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten. 

Auch das vorgelegte Attest könne das Verhalten nicht rechtfertigen – zwar könne grundsätzlich ein entsprechender Nachweis erbracht werden; dann aber müsse sich aus dem Attest ergeben, warum  das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes nicht möglich sei. Ein aussagekräftiges Attest habe dann einen ähnlichen Beweiswert wie eine AU-Bescheinigung, doch ein Attest ohne konkrete Diagnose bzw. Begründung genügt diesen Kriterien nicht. Insoweit sei auch die Nichtwahrnehmung einer Option auf betriebsärztliche Untersuchung zu Lasten des Arbeitnehmers zu werten. 

Bewertung
Arbeitgeber sind im Rahmen ihres Direktionsrechts auch befugt, das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes anzuweisen. Soweit Arbeitgeber durch Vorgaben des Arbeitsschutzes verpflichtet sind, ihren Beschäftigten geeignete Masken zur Verfügung zu stellen, müssen diese dann entsprechend auch von den Arbeitnehmern getragen werden. Eine Verweigerung ohne rechtfertigenden Grund stellt dann eine Pflichtverletzung dar, die – nach einschlägiger Abmahnung – bis hin zur Kündigung führen kann.

Notiz am Rande: Ob der Kläger selbst an der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht teilnahm und ob er dabei, den Gepflogenheiten entsprechend, einen Mund-Nasen-Schutz trug, ist nicht überliefert.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Juni 2021



Online-AU-Bescheinigung - ganz so einfach geht es dann doch nicht...
ArbG Berlin, Urteil vom 01.04.2021 – 42 Ca 16289/20
 
Das Anliegen ist grundsätzlich verständlich: Warum zum Arzt gehen und mögliche Infektionsrisiken auf sich nehmen, wenn man – wie so Vieles – inzwischen auch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Internet „bestellen“ kann? Ganz so leicht ist dies dann doch nicht, wie das Arbeitsgericht Berlin im Rahmen eines Rechtsstreits um Entgeltfortzahlung entschied.
 
Sachverhalt
Der Kläger, ein Sicherheitsmitarbeiter aus Berlin, legte seiner Arbeitgeberin zum Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit im August und September 2020 AU-Bescheinigungen vor, die von einer Gynäkologin aus Hamburg ausgestellt worden waren.
 
Die Arbeitgeberin konnte bei einer Überprüfung des Sachverhalts feststellen, dass es ein Online-Portal gab, welches nur einige Daten abfragte (Beginn und Dauer der Erkrankung, Auswahl von Symptomen aus vorgegebenen Antwortmöglichkeiten) und dann gegen eine geringe Gebühr die Übermittlung einer AU-Bescheinigung anbot. Der entsprechende „gelbe Schein“ konnte online abgerufen oder postalisch angefordert werden. Ein Arzttermin musste nicht wahrgenommen werden; vielmehr genügte die „Bestellung“ über das Portal. Auch Arztgespräche per Video-Chat oder telefonisch waren nur optional je nach Krankheit. Die ärztliche Beurteilung stützte sich ansonsten allein auf die vom Nutzer in der Eingabemaske übermittelten Angaben, ohne dass das Vorliegen der Symptome überprüft wurde. Nur wenn die angegebenen Symptome kein stimmiges Bild ergaben, erzeugte das System eine Fehlermeldung – woraufhin aber unbegrenzt die Möglichkeit bestand, erneut einen Versuch zu unternehmen, um ein schlüssiges Gesamtbild an Symptomen zu übermitteln.
 
Da dies der Arbeitgeberin ein doch etwas zu leichter Weg zum Erhalt einer AU-Bescheinigung zu sein schien, lehnte sie für den auf diese Weise bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeitraum die Entgeltfortzahlung ab. Sie äußerte Zweifel am Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit und sah den Beweiswert der AU-Bescheinigung als erschüttert an, insbesondere da diese nur online und ohne unmittelbaren Arztkontakt ausgestellt worden war. Der Arbeitnehmer verfolgte den begehrten Entgeltfortzahlungsanspruch daher mit seiner Klage. Ihm sei es, so sein Vortrag, um eine Reduktion des Ansteckungsrisikos gegangen, weshalb er von einem Präsenztermin in einer Arztpraxis habe absehen wollen.
 
Entscheidung
Aus Sicht des ArbG Berlin wurden in diesem Fall die Grenzen der pandemiebedingt möglichen Krankschreibungen ohne unmittelbaren Arztkontakt überschritten. Auch wenn unter bestimmten Voraussetzungen eine Krankschreibung ohne persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patienten möglich sei, ändere dies nichts daran, dass der Arzt sich davon zu überzeugen habe, ob wirklich eine Arbeitsunfähigkeit vorliege. Dies sei beispielsweise durch eine telefonische Anamnese möglich. Eine Online-Abfrage von etwa vorhandenen Symptomen genüge diesen Ansprüchen jedoch nicht.
 
Aus diesem Grund war der – im Regelfall anerkanntermaßen hohe – Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert. Über andere geeignete Beweismittel verfügte der Kläger nicht; insoweit trug er aber die Darlegungs- und Beweislast.
 
Insbesondere der Versuch, die Erkrankung durch die Lebensgefährtin bezeugen zu lassen, scheiterte an der Unzulässigkeit des entsprechenden Beweisantritts als sogenannter Ausforschungsbeweis. Der Arbeitnehmer hatte diesbezüglich keine Symptome benannt und auch nur die Behauptung aufgestellt, er sei „erkrankt“ gewesen – hieraus ergab sich nicht, inwieweit und aufgrund welcher Sachkunde der angebotenen Zeugin eine Bewertung hätte möglich sein sollen, dass auch die Voraussetzungen einer Arbeitsunfähigkeit gegeben waren. Damit gelang es dem Arbeitnehmer insgesamt nicht, seine Arbeitsunfähigkeit und damit das Bestehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs nachzuweisen.
 
Bewertung und ergänzende Hinweise
Pandemiebedingt wurde die Möglichkeit geschaffen, unter bestimmten Voraussetzungen AU-Bescheinigungen für eine Dauer bis zu 7 Kalendertagen zu erstellen, wenn der Arzt sich durch eingehende telefonische Befragung persönlich davon überzeugen konnte, dass eine Arbeitsunfähigkeit in Form einer Erkrankung der oberen Atemwege ohne schwere Symptomatik vorlag. Dabei muss die Behandlung allein über Kommunikationsmedien ärztlich vertretbar sein und der behandelnde Arzt bewerten, ob eine Fernbehandlung mit dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse vereinbar ist. Eine Bewertung ohne Interaktion mit dem Patienten ist jedoch nicht möglich und daher auch nicht ausreichend, um darauf eine AU-Bescheinigung zu stützen.
 
Die Entscheidung des ArbG Berlin zeigt, dass die neue geschaffenen Optionen in der Praxis mitunter außerhalb ihres Sinn und Zwecks missbraucht werden, so dass es sich für Arbeitgeber im Einzelfall lohnen kann, genauer hinzusehen und etwaigen Unstimmigkeiten nachzugehen.
 
Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin

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Krankheitsbedingte Kündigung - kein Mindesthaltbarkeitsdatum eines BEM-Verfahrens
LAG Düsseldorf, Urteil vom 09.12.2020 – 12 Sa 554/20 

Das betriebliche Eingliederungsmanagement (kurz: bEM) ist durchzuführen, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt ist. Nach Auffassung des LAG Düsseldorf markiert der Abschluss eines bEM-Verfahrens einen neuen Referenzrahmen: Sind seit Abschluss mehr als sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit aufgelaufen, ist sofort – nicht erst nach Ablauf eines Jahres – ein erneutes bEM-Verfahren einzuleiten. Der – nicht rechtskräftigen – Entscheidung kommt im Hinblick auf den Ausspruch krankheitsbedingter Kündigungen große praktische Bedeutung zu. 

 







Sachverhalt und Vorinstanzen
Der 1973 geborene Kläger war seit 2001 als Produktionshelfer bei der Beklagten beschäftigt. Der Kläger wies seit 2010 regelmäßig hohe Arbeitsunfähigkeitszeiten auf. Eine 2015 ausgesprochene betriebsbedingte und eine 2016 ausgesprochene personenbedingte Kündigung blieben erfolglos. Im Jahr 2019 lud die Beklagte den Kläger zu einem bEM-Verfahren ein, welches am 05. März 2019 durchgeführt wurde und ohne Ergebnis blieb. Nach dem 05. März 2019 liefen erneut Zeiten von Arbeitsunfähigkeit von mehr als 30 Arbeitstagen auf. Mit Schreiben vom 26. Februar 2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich aus personenbedingten Gründen. Der dagegen erhobenen Klage hatte das Arbeitsgericht Düsseldorf (Urteil vom 07. Juli 2020 – 5 Ca 1108/20) stattgegeben: Die Beklagte sei ihrer Darlegungs- und Beweislast für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nicht nachgekommen. Sie hätte vor Ausspruch der Kündigung erneut ein bEM-Verfahren durchführen müssen. 

Entscheidung
Das LAG Düsseldorf hat die hiergegen durch die Beklagte eingelegte Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Die Wirksamkeit der Kündigung vom 26. Februar 2020 scheitere jedenfalls auf der „dritten Stufe“, da sie nicht verhältnismäßig sei. Die Beklagte hätte vor Ausspruch der Kündigung erneut ein bEM-Verfahren durchführen müssen, obwohl seit Abschluss des letzten bEM am 05. März 2019 noch kein ganzes Jahr vergangen sei. Der Gesetzeswortlaut von § 167 Abs. 2 nenne den Zeitraum „innerhalb eines Jahres“, ohne einen Anfangs- und Endzeitpunkt festzulegen. Eine Einschränkung dahingehend, dass ein Arbeitgeber nur einmalig innerhalb eines Jahres ein bEM durchzuführen hat, lasse sich nicht entnehmen und sei mit dessen Sinn und Zweck nicht vereinbar. Dem stehe der umfassende Schutzzweck des § 167 Abs. 2 SGB IX, möglichst frühzeitig einer Gefährdung des Arbeitsverhältnisses zu begegnen, entgegen – jedenfalls dann, wenn wie vorliegend ein bEM durchgeführt wurde, aber zu keinerlei Maßnahmen geführt hat. Ein bEM sei unabhängig von einer Kündigungsabsicht durchzuführen. Insbesondere vor einer Kündigung gebiete es jedoch die gesetzliche Konzeption, dass „noch einmal“ mittels eines bEM versucht werde, die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und den Arbeitsplatz zu erhalten, wenn seit dem letzten bEM die Erheblichkeitsschwelle von sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit überschritten sei. Ein erneutes bEM sei nicht durchgeführt worden. Die Beklagte habe auch nicht überzeugend darlegen können, dass das an sich gebotene bEM unter keinen Umständen ein positives Ergebnis hätte erbringen können. 
Die Revision wurde zugelassen und ist unter 2 AZR 138/21 beim BAG anhängig. 

Bewertung 
Die ordnungsgemäße Durchführung eines bEM-Verfahrens nach § 167 Abs. 2 SGB IX stellt nach nahezu einhelliger Auffassung keine Wirksamkeitsvoraussetzung einer krankheitsbedingten Kündigung dar, ist jedoch gleichwohl de facto Voraussetzung dafür, die Verhältnismäßigkeit der Kündigung („3. Stufe“) darlegen zu können. Lädt ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer, der innerhalb eines Jahres mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig war, vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung nicht zu einem bEM-Verfahren ein, führt ein solches nicht durch oder kann die Ablehnung durch den Arbeitnehmer nicht dokumentieren, scheitert die Kündigung de facto an der nicht hinreichend dargelegten Verhältnismäßigkeit. Die dem Arbeitgeber theoretisch verbleibende Möglichkeit, darzulegen, dass das an sich gebotene bEM-Verfahren ohnehin keine andere Lösung als eine Kündigung hätte aufzeigen können, ist in der Praxis kaum erfolgversprechend: Es ist hier nicht nur aufzuzeigen, dass kein anderer Arbeitsplatz vorhanden ist, auf dem die gesundheitlichen Einschränkungen des Arbeitnehmers abgestellt werden könnten. Zudem muss auch die objektive Nutzlosigkeit etwaiger gesetzlich vorgesehener Leistungen und Hilfen der Rehabilitationsträger belegt werden, wie auch das LAG Düsseldorf nochmals betont. 

Aufgrund der de facto gegebenen Notwendigkeit eines bEM für eine krankheitsbedingte Kündigung kommt der Frage, in welchem zeitlichen Turnus dieses durchzuführen ist, große praktische Bedeutung zu. 

Die durch das LAG Düsseldorf vorgenommene Auslegung des § 167 Abs. 2 SGB IX, ein bEM sei sofort dann erneut durchzuführen, wenn seit dem letzten bEM die Erheblichkeitsschwelle der Zeiten an Arbeitsunfähigkeit überschritten ist, ist methodisch nicht zu beanstanden. Praktisch führt dies jedoch dazu, dass bei Langzeiterkrankten alle sechs Wochen ein bEM durchzuführen ist, auch wenn dieses keine neuen Ergebnisse erbringen wird – eine Konsequenz, die das Gericht in der Entscheidung selbst als „Förmelei“ bezeichnet. 

Positiv zu bewerten ist, dass die Revision zugelassen wurde. Die bisher ergangene Rechtsprechung hat sich durchaus unterschiedlich positioniert. Insbesondere die in der Entscheidung zitierten Urteile mussten sich mit der Frage jedoch nicht konkret auseinander setzen: In den zugrunde liegenden Sachverhalten lag jedenfalls mehr als ein Jahr zwischen dem letzten bEM bzw. dessen Ablehnung durch den Arbeitnehmer und der Kündigung. 

Es bleibt daher abzuwarten, ob das BAG sich der Auffassung anschließt, der Sinn und Zweck des bEM gebiete zwingend seine sofortige erneute Durchführung mit Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle unabhängig davon, wann das letzte bEM durchgeführt worden sei. Bis zu einer anders gelagerten Entscheidung sollten sich Arbeitgeber, die eine krankheitsbedingte Kündigung in Betracht ziehen, nicht auf ein vor weniger als einem Jahr durchgeführtes bEM-Verfahren verlassen. Auch wenn hierdurch eine zeitliche Verzögerung der Kündigung eintritt, sollte die Durchführung eines bEM vor Ausspruch einer Kündigung in die Wege geleitet werden, wenn seit dem letzten Verfahren wieder sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit aufgelaufen sind. Eine Kündigung muss dann nach dessen Abschluss zeitnah ausgesprochen werden, bevor wieder sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit anfallen. 

Janine Gebhart, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Mai 2021




Urlaubsabgeltungsanspruch und tarifliche Ausschlussfristen
BAG, Urteil vom 27.10.2020 – 9 AZR 531/19

Der Wirksamkeit einer tariflichen Ausschlussfrist, die eine schriftliche Geltendmachung des Anspruchs auf Urlaubsabgeltung innerhalb von 3 Monaten nach Fälligkeit des Anspruchs verlangt, steht weder § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG, noch Unionsrecht entgegen. Wenn ein Arbeitsverhältnis durch eine arbeitgeberseitige Kündigung beendet wird, tritt die für den Lauf einer Ausschlussfrist maßgebliche Fälligkeit des Urlaubsabgeltungsanspruches regelmäßig mit Ablauf der Kündigungsfrist ein.

Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Parteien streiten sich über die Abgeltung von Urlaub aus dem Jahr 2017. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Manteltarifvertrag der Metallindustrie Bayern Anwendung, in dem eine Ausschlussfrist für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit geregelt ist. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zum 31.12.2017, woraufhin die Parteien im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2017 vereinbarten. Der Vergleich wurde nach Ablauf der Vergleichswiderrufsfrist am 07.03.2018 bestandskräftig. Mit Schreiben vom 10.04.2018 verlangte der Kläger von der Beklagten erfolglos die finanzielle Abgeltung der Urlaubstage aus dem Jahr 2017. Die Vorinstanzen wiesen die Klage auf Urlaubsabgeltung zurück. Die Revision des Klägers zum BAG hatte keinen Erfolg.

Entscheidung
Nach Auffassung des BAG ist der geltend gemachte Urlaubsanspruch aufgrund der tariflichen Ausschlussfrist erloschen. Die tarifliche Ausschlussfrist findet auf alle gesetzlichen, tariflichen und vertraglichen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis Anwendung – mithin auch auf den geltend gemachten Urlaubsabgeltungsanspruch. 

Höherrangiges Recht steht dem Erlöschen des Rechts durch die Ausschlussfrist nicht entgegen. Die Tatsache, dass die streitgegenständliche tarifliche Ausschlussfrist Ansprüche auf Mindestlohn entgegen § 3 S. 1 MiLoG nicht ausschließt, führt lediglich zu einer Teilunwirksamkeit der Klausel, hinsichtlich der übrigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis bleibt die Verfallklausel jedoch wirksam. Da es sich um eine tarifliche Ausschlussklausel handelt, findet vorliegend weder eine Inhalts-, noch eine Transparenzkontrolle statt. Die tarifliche Ausschlussfrist verstößt auch nicht gegen Unionsrecht, insbesondere nicht gegen den Grundsatz der Effektivität. Durch die Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit des Anspruchs wird die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte weder unmöglich gemacht noch relevant erschwert. 

Die Ausschlussfrist beginnt grundsätzlich erst mit Fälligkeit des Anspruchs zu laufen. Ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung entsteht erst mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wird gleichzeitig fällig – im vorliegenden Fall mit Ablauf des 31.12.2017. Der gerichtliche Streit über die Wirksamkeit der Kündigung führte nicht zu einer späteren Entstehung und zu einem späteren Fälligwerden des Anspruchs, da allein die objektive Rechtslage maßgeblich ist. 

Die erstmalige Geltendmachung des Abgeltungsanspruchs durch den Kläger am 10.04.2018 erfolgte nach Ablauf der dreimonatigen Ausschlussfrist und mithin verspätet. Die erhobene Kündigungsschutzklage führte insoweit nicht zur Wahrung der Ausschlussfrist in Bezug auf den Urlaubsabgeltungsanspruch, da diese Klage auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gerichtet war, aber der geltend gemacht Urlaubsabgeltungsanspruch gerade nicht aus dem Fortbestand, sondern aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses resultiert. 

Bewertung 
Der BAG ist seiner Rechtsprechung zu dem Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht bei der finanziellen Abgeltung von Urlaubsansprüchen treu geblieben. 

Die vorliegende Entscheidung zeigt deutlich, dass es mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn zeitliche Schranken für die Geltendmachung einer finanziellen Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorliegen. Es ergibt sich auch aus der sogenannten Europäischen Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG - über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung), wonach der Mindestjahresurlaub lediglich bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanziell abgegolten werden darf, dass der nationale Gesetzgeber zur Zulassung und Auferlegung solcher zeitlicher Schranken berechtigt ist. 

Aus Arbeitgebersicht ist diese Entscheidung begrüßenswert: Die Arbeitgeber sollen sich darauf verlassen können, dass ehemalige Mitarbeiter – trotz etwaig anhängiger Kündigungsschutzstreitigkeiten – nur innerhalb eines gewissen Zeitrahmens wirksam Urlaubsabgeltungsansprüche geltend machen können. Die Entscheidung kann jedoch nicht 1-zu-1 auf jedes Arbeitsverhältnis und auf jede Ausschlussklausel übertragen werden, da es sich bei der vorliegend entscheidungserheblichen Ausschlussklausel um eine tarifliche Klausel handelt, die – im Gegensatz zu einer vertraglichen Ausschlussklausel – einem nur eingeschränkten Prüfungsumfang unterliegt. 

Veronika von Bergwelt, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Vergütungsrechtliche Einordnung ärztlichen Hintergrunddienstes als Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst
BAG, Urteil vom 25.03.2021 – 6 AZR 264/20


Gegenstand der Revision vor dem BAG war die Frage, wie ärztlicher Hintergrunddienst nach § 9 des Tarifvertrages für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken (TV-Ärzte/TdL) vergütungsrechtlich einzuordnen ist. Die Einordnung als Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst ist umstritten. Dies hat insbesondere auch Auswirkungen auf die Vergütung. Das BAG hat nun einige der hierzu relevanten Fragen geklärt. Maßgebliches Abgrenzungskriterium ist der Umfang, in dem die Arbeitnehmer frei bei der Wahl des Aufenthaltsorts während seines Dienstes ist.

 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Kläger ist Oberarzt eines Universitätsklinikums und verlangte Vergütung für außerhalb seiner regelmäßigen Arbeitsleistung geleisteten Hintergrunddienst nach dem für sein Arbeitsverhältnis anwendbaren § 9 TV-Ärzte/TdL. Er ist arbeitsvertraglich zur Leistung sog. Hintergrunddienste verpflichtet und muss während dieser Zeit telefonisch erreichbar sein. Weitergehende Vorgaben bzgl. Aufenthaltsort oder einer Zeitspanne, welche zwischen der telefonischen Kontaktaufnahme und der Aufnahme der Arbeit in der Klinik liegen darf, sind von der Beklagten nicht gemacht worden. 

Eine tatsächliche Arbeit während den Zeiten des Hintergrunddienstes kann einerseits telefonisch vorkommen, andererseits aber auch zu einem Einsatz des Klägers im Klinikum führen. Die telefonische Inanspruchnahme überwiegt. Es ist insbesondere auch möglich, dass der Kläger sich mit einer Stiftung koordinieren und dafür auf Informationen aus einem Aktenordner zurückgreifen muss, welchen er bei sich zu führen hat. In diesen Fällen muss er Daten gemäß eines telefonischen Angebots für eine Organtransplantation innerhalb von 30 Minuten überprüfen und sodann den betreffenden Patienten und den zuständigen Dialysearzt kontaktieren. Abschließend muss der Kläger zurückmelden, ob das Angebot einer Organspende angenommen wird. Insgesamt wird der Kläger bei der Hälfte seiner geleisteten Hintergrunddienste tatsächlich zur Arbeit herangezogen und leistet zu 4 Prozent aller Rufbereitschaftsstunden auch tatsächliche Arbeit.

Die Hintergrunddienste werden gemäß § 9 TV-Ärzte/TdL als Rufbereitschaft im Sinne des § 7 Abs. 6 S. 1 TV-Ärzte/TdL vergütet. Die entsprechenden Regelungen lauteten auszugsweise wie folgt:

„§ 9 TV-Ärzte/TdL
(1) Für die Rufbereitschaft wird eine tägliche Pauschale je Entgeltgruppe gezahlt. Für eine Rufbereitschaft von mindestens zwölf Stunden wird für die Tage Montag bis Freitag das Zweifache, für Samstag, Sonntag sowie für Feiertage das Vierfache des tariflichen Stundenentgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe (individuelles Stundenentgelt) gezahlt. [...]

(2) Zur Berechnung des Entgelts wird die Zeit des Bereitschaftsdienstes einschließlich der geleisteten Arbeit in zwei Stufen als Arbeitszeit gewertet. [...]“

„§ 7 Abs. 6 TV-Ärzte/RdL
(6) Die Ärztin/Der Arzt hat sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft). Der Arbeitgeber darf Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Ärzte vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel ausgestattet  sind. Durch  tatsächliche  Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft kann die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden überschritten werden (§§ 3, 7 Absatz 1 Nr. 1 und Nr. 4 Arbeitszeitgesetz).'

Der Kläger war mit einer Vergütung des Hintergrunddienstes als Rufbereitschaft nicht einverstanden. Er verlangte von der Beklagten eine Vergütung als Bereitschaftsdienst und stützte dies auch auf die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG.

Das LAG Köln (vgl. Entscheidung vom 04. März 2020, Az. 3 Sa 218/19) gab der Klage vollumfänglich statt. Zwar folge der Anspruch des Klägers nicht aus § 9 Abs. 2 TV-Ärzte/TdL, da die tariflichen Voraussetzungen eines Bereitschaftsdienstes nicht vorlägen. Das LAG Köln stützte den Vergütungsanspruch des Klägers allerdings auf § 612 Abs. 1 BGB mit der Begründung, dass die Beklagte vom Kläger eine insgesamt ungeregelte Beschäftigungsform, die tarifwidrige Rufbereitschaft, und damit eine Tätigkeit außerhalb der arbeitsvertraglichen Regelungen verlange, die nach allgemeinen Regeln vergütungspflichtig sei.
 
Die Entscheidung
Das BAG war insoweit anderer Auffassung und die Revision der Beklagten hatte Erfolg. Bei den vom Kläger geleisteten Hintergrunddiensten handelt es sich um Rufbereitschaft i.S.d. § 7 Abs. 6 S. 1 TV-Ärzte/TdL.

Zunächst stellte das BAG klar, dass die Beurteilung der Frage, ob der ärztliche Hintergrunddienst als Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst einzuordnen ist, sich ausschließlich nach nationalem Recht richtet. Nach den tariflichen Vorgaben des TV-Ärzte/TdL liegt der Unterschied zwischen Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst in der Vorgabe des Arbeitgebers hinsichtlich des Aufenthaltsortes sowie der Zeit zwischen der telefonischen Kontaktaufnahme und der Aufnahme der Arbeit durch den Arzt. Kann der Arbeitnehmer den Aufenthaltsort frei wählen, so liegt Rufbereitschaft vor. Eine Vorgabe des Arbeitgebers hinsichtlich der maximalen Entfernung zwischen Aufenthalts- und Tätigkeitsort, insbesondere eine Vorgabe hinsichtlich der Zeitspanne zwischen Abruf und Tätigkeitsaufnahme, ändert hieran nichts. Denn dies entspricht dem Zweck der Rufbereitschaft. Nach der Auffassung des BAG war der Kläger in der Wahl seines Aufenthaltsortes durch die Vorgaben, einen Telefonanruf entgegenzunehmen und entweder telefonisch oder in der Klinik tätig zu werden, nicht beschränkt. Eine Vorgabe zur zwischen Anruf und Tätigkeitsaufnahme liegenden maximalen Zeitspanne führt ebenfalls nicht zum Vorliegen von Bereitschaftsdienst nach den tariflichen Regelungen.

Entgegen der Begründung des LAG Köln führt die tarifwidrige Anordnung von Hintergrunddienst – bei der Tätigkeit des Klägers handelt es sich nicht mehr um nur noch ausnahmsweise anfallende Arbeit im Sinne des § 7 Abs. 6 S. 2 TV-Ärzte/TdL – nicht zum Bestehen eines Anspruchs auf eine höhere Vergütung. Denn Wille der Tarifparteien ist es, dass Arbeitnehmer, die zur Leistung von Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft verpflichtet sind, während dieser Zeiten auch tatsächlich Arbeitsleistung erbringen müssen. Offen ist allerdings der Umfang der tatsächlichen Arbeitsleistung, der von den jeweiligen situativen Gegebenheiten abhängig ist. 

Folgen für die Praxis 
Die Entscheidung des BAG behandelt einen in der Praxis, nicht nur in Kliniken und bei Ärzten, auftretenden Fall der Abgrenzung zwischen Rufbereitschaft und vergütungspflichtigem Bereitschaftsdienst. Auch diese Entscheidung des BAG betont, dass maßgebliches Abgrenzungskriterium die mit der Anordnung des Arbeitgebers hinsichtlich Ort und Zeit zwischen Abruf und Tätigkeitsaufnahme verbundenen Einschränkung für den Arbeitnehmer ist. Ist der Arbeitnehmer in der Wahl seines Aufenthaltsortes grundsätzlich frei, so liegt Rufbereitschaft vor. Es ist lediglich erforderlich, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in den Zeiten der Rufbereitschaft jederzeit erreichen kann. Fällt während einer Rufbereitschaft tatsächlich Arbeit an, so ist dies vergütungspflichtige Arbeitszeit. Für eine klare Abgrenzung sollte der Arbeitgeber daher darauf achten, dass er konkret regelt, inwieweit der Arbeitnehmer während der Leistung von Diensten hinsichtlich Aufenthaltsort und Zeit zwischen Anruf und Tätigkeitsaufnahme gebunden ist.

Svenja Heizmann, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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April 2021

   
 

Entgeltgleichheitsklage - Auskunft über das Vergleichsentgelt - Vermutung der Benachteiligung wegen des Geschlechts
BAG, Urteil vom 21. Januar 2021 – 8 AZR 488/19
 
Während es längere Zeit zunächst eher ruhig um das seit dem 30. Juni 2017 in Kraft befindliche Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (EntgTranspG) war, positioniert sich das BAG nunmehr klar zu einer bislang umstrittenen Rechtsfrage: Klagt eine Frau auf gleiches Entgelt für gleiche Arbeit, so begründet allein der Umstand, dass ihr Entgelt geringer ist als das vom Arbeitgeber mitgeteilte höhere Vergleichsentgelt (Median-Entgelt) der männlichen Vergleichsgruppe, regelmäßig die (widerlegbare) Vermutung, dass die Benachteiligung beim Entgelt wegen des Geschlechts erfolgt ist. Die Hürden für eine erfolgreiche Entgeltdiskriminierungsklage scheinen somit gesenkt.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Klägerin ist bei der Beklagten als Abteilungsleiterin beschäftigt. Sie erhielt auf Auskunftsersuchen von der Beklagten eine Auskunft nach §§ 10 ff. EntgTranspG, aus der u.a. das Vergleichsentgelt der bei der Beklagten beschäftigten männlichen Abteilungsleiter hervorgeht und welches entsprechend den Vorgaben des § 11 Abs. 3 EntgTranspG als „auf Vollzeitäquivalente hochgerechneter statistischer Median“ des durchschnittlichen monatlichen übertariflichen Grundentgelts sowie der übertariflichen Zulage (Median-Entgelte) angegeben wurde. Das Vergleichsentgelt liegt sowohl beim Grundentgelt als auch bei der Zulage über dem Entgelt der Klägerin. Mit ihrer Klage hat die Klägerin u.a. Zahlung der Differenz zwischen dem ihr gezahlten Grundentgelt sowie der ihr gezahlten Zulage und der ihr mitgeteilten höheren Median-Entgelte verlangt. 
 
Die Klägerin war u.a. der Auffassung, dass durch die Auskunft der Beklagten eine erhebliche Gehaltsungleichheit zwischen den männlichen und den weiblichen Abteilungsleitern belegt sei. Aus der Auskunft der Beklagten ergebe sich ein Indiz für eine Entgeltdiskriminierung aufgrund des Geschlechts. Insbesondere sei der Median zum Nachweis einer diskriminierenden Gehaltsungleichheit geeignet und verwendbar. Die Beklagte führte u.a. aus, dass sich die Bemessung der Vergütung ausschließlich nach geschlechtsneutralen Kriterien vollziehe und vertrat u.a. die Auffassung, dass die Gehaltsdifferenz nicht unreflektiert zu einem ersten Benachteiligungsindiz erhoben werden könne. 
 
Das ArbG Göttingen hat der Klage stattgegeben. Das LAG Niedersachsen änderte das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung der Beklagten ab und wies die Klage ab. Nach Auffassung des LAG Niedersachsen lagen bereits keine ausreichenden Indizien i.S.d. § 22 AGG vor, die die Vermutung begründeten, dass die Klägerin die Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts erfahren habe. Insbesondere komme dem mitgeteilten Median keine wesentliche Indizfunktion zu. 
 
Entscheidung
Die Revision der Klägerin hatte vor dem BAG Erfolg. Dieses hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.
 
Nach Auffassung des Achten Senats des BAG durfte das LAG mit der gegebenen Begründung die Klage nicht abweisen. Aus der von der Beklagten erteilten Auskunft ergebe sich das Vergleichsentgelt der maßgeblichen männlichen Vergleichsperson. Nach den Vorgaben des EntgTranspG läge in der Angabe des Vergleichsentgelts als Median-Entgelt durch einen Arbeitgeber zugleich die Mitteilung der maßgeblichen Vergleichsperson, weil entweder ein konkreter oder ein hypothetischer Beschäftigter des anderen Geschlechts dieses Entgelt für gleiche bzw. gleichwertige Tätigkeit erhalte. Die Klägerin habe gegenüber der ihr von der Beklagten mitgeteilten männlichen Vergleichsperson eine unmittelbare Benachteiligung i.S.d. § 3 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG erfahren, denn ihr Entgelt sei geringer als das der Vergleichsperson gezahlte gewesen. 
 
Entgegen der Annahme des LAG begründe dieser Umstand zugleich die – von der Beklagten widerlegbare – Vermutung, dass die Klägerin die Entgeltbenachteiligung „wegen des Geschlechts“ erfahren habe. 
 
Aufgrund der bislang vom LAG getroffenen Feststellungen könne der Senat jedoch nicht entscheiden, ob die Beklagte, die insoweit die Darlegungs- und Beweislast treffe, diese Vermutung den Vorgaben des § 22 AGG unionsrechtskonform entsprechend widerlegt habe. Zugleich müsse den Parteien Gelegenheit zu weiterem Vorbringen gegeben werden. 
 
Bewertung
Die Entscheidung des BAG, die bislang nur als Pressemitteilung vorliegt, vermag rechtlich nicht zu überzeugen und überspannt die Aussagekraft des mitgeteilten Medians. 
 
Bislang wurde i.R.v. Entgeltdiskriminierungsklagen überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Auskunft nach §§ 10 ff. EntgTranspG nicht geeignet sei, die in § 22 AGG statuierte Beweiserleichterung auszulösen. Begründet wurde dies primär mit der Aussagekraft des mitgeteilten Vergleichsentgelts, welches der statistische Median der durchschnittlichen Entgelte der vergleichbaren Arbeitnehmer des anderen Geschlechts ist. Der Median drückt folglich lediglich den Wert in der Mitte der Vergleichsgruppe aus. 
 
Völlig zu Recht stellte daher auch das LAG in den Entscheidungsgründen auf die Maßstäbe ab, die i.R.d. § 22 AGG gelten und verneinte eine entsprechende Indizwirkung der Auskunft nach § 11 EntgTranspG.  Im Hinblick auf den Kausalzusammenhang sieht § 22 AGG eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Eine Person, die sich wegen einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes beim Entgelt für beschwert hält, muss daher Indizien vortragen, die aus Sicht eines objektiven Dritten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung bei der Vergütungsvereinbarung wegen des Geschlechts erfolgt ist. Sodann hat die beklagte Partei den Vollbeweis dafür zu erbringen, dass keine verbotene Diskriminierung vorliegt. 
 
Eine Auskunft, nach der das Gehalt des klagenden Mitarbeiters unter dem Median der Vergleichsgruppe liegt, ist für sich genommen nicht ausreichend, um eine Beweiserleichterung auszulösen. Das LAG bezeichnet das EntgTranspG im Hinblick auf die Auskunftsansprüche bezogen auf den Median als „missglückt“: Nehme man an, dass sieben Frauen in der Vergleichsgruppe jeweils dasselbe verdienen wie ihre sieben männlichen Kollegen, bspw. jeweils zwischen 1.600,00 Euro und 2.500,00 Euro, dann ist der Median – z. B. mit 1.900,00 Euro – identisch. Frage sodann die in der Vergleichsgruppe mit 1.600,00 Euro am wenigsten verdienende weibliche Beschäftigte nach dem männlichen Median, so erhält sie die Auskunft, dass dieser bei 1.900,00 Euro liege. In einer solchen Konstellation ein Indiz für eine Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts anzunehmen geht aber fehl, da die weibliche Vergleichsgruppe exakt das gleiche verdient wie die männliche, sodass es letztlich vom zufälligen Umstand abhängt, ob sich die Anspruchstellerin am unteren Rand des Vergütungsniveaus befindet. 
 
Es bleibt abzuwarten, ob die Entscheidungsbegründung näher dazu ausführt, welche Anforderungen an die Widerlegung der Vermutung nach § 22 AGG gestellt werden. Sachliche Differenzierungskriterien könnten bspw. in einer unterschiedlich langen Betriebszugehörigkeit, bei unterschiedlichen Qualifikationen und Arbeitsergebnissen sowie ggf. auch bei Seiteneinsteigern gesehen werden. 
 
Perspektivisch ist Arbeitgebern bei der Entgeltbemessung zu raten, sorgfältig zu prüfen, welche Arbeitnehmer eine Vergleichstätigkeit ausüben (1. Schritt: Bildung einer Vergleichsgruppe) und ob sich bei bestehenden/anvisierten Gehaltsunterschieden hinreichende Kriterien für die Gehaltsdifferenz anführen lassen (2. Schritt: Feststellung sachlicher Differenzierungskriterien). 
 
Dr. Elisa Kottlors, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München


 
 







 
Rufbereitschaft = Arbeitszeit?
EuGH, Urteil vom 09.03.2021 - C-344/19; C-580/19
 
Die Frage der Abgrenzung von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft sowie insbesondere die Frage der Vergütung von Bereitschaftszeiten ist oft Anlass für Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Der EuGH hat mit zwei aktuellen Urteilen die Kriterien für die Qualifizierung von Rufbereitschaft als Arbeitszeit weiter präzisiert.
 
Sachverhalte
Ein Beamter und Gruppenleiter bei der Feuerwehr in Offenbach am Main musste regelmäßig Dienst als „Beamter vom Einsatzleitdienst“ leisten. Während dieses Dienstes musste er ständig erreichbar und in der Lage sein, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen. Er musste sich jedoch nicht an einem vom Arbeitgeber vorgegebenen Ort aufhalten. (Rechtssache C-580/19)
 
Ein spezialisierter Techniker einer auf einem Berggipfel betriebenen Sendeanlage in Slowenien musste telefonisch erreichbar und in der Lage sein, sich innerhalb von einer Stunde wieder an seinem Arbeitsplatz einzufinden. Aufgrund der geographischen Lage der Sendeanlagen war eine tägliche Rückkehr nach Hause („ins Tal“) unmöglich (oder zumindest erschwert). Der Arbeitgeber stellte dem Arbeitnehmer eine Dienstunterkunft am Arbeitsplatz, es bestand aber keine Verpflichtung sich während der Rufbereitschaft dort aufzuhalten. In der unmittelbaren Umgebung des Arbeitsortes gab es wenige Freizeitmöglichkeiten, weshalb der Arbeitnehmer den Großteil der Zeit in den Anlagen verbrachte. (Rechtssache C-344/19)
 
Beide Arbeitnehmer begehrten, dass die Zeiten der Rufbereitschaft vollumfänglich als Arbeitszeit anerkannt und vergütet werden.
 
Entscheidungen
Der EuGH hat entschieden, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die Rufbereitschaft die Möglichkeit der Freizeitgestaltung und der Wahrnehmung eigener Interessen objektiv ganz erheblich beeinträchtigt. Werde ein solcher Intensitätsgrad nicht erreicht, sei umgekehrt nur der Zeitraum, in dem tatsächlich eine Arbeitsleistung erbracht werde, als Arbeitszeit zu qualifizieren.
 
Kriterien für die Beurteilung seien insbesondere die Kürze der Reaktionsfrist sowie die Folgen einer Zeitvorgabe. Dabei sind auferlegte Einschränkungen (Mitführen einer speziellen Ausrüstung) ebenso zu berücksichtigen , wie gewährte Erleichterungen (Dienstfahrzeug mit Sonderrechten). Je kürzer die Frist, desto eher sei von Arbeitszeit auszugehen. Weiteres Kriterium sei die durchschnittliche Häufigkeit sowie die Dauer von Einsätzen während der Bereitschaftszeit. Werde der Arbeitnehmer im Durchschnitt häufig zur Erbringung von Arbeitsleistungen herangezogen und sind diese Leistungen in der Regel nicht von kurzer Dauer, so handle es sich insgesamt um Arbeitszeit. 
 
Für die Beurteilung sei es hingegen unerheblich, wenn es in der unmittelbaren Umgebung des Arbeitsortes wenig Freizeitmöglichkeiten gibt. Auch organisatorische Schwierigkeiten oder eine große Entfernung zu dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Wohnort seien für sich genommen nicht von Belang.
 
Bewertung
Die nationalen Gerichte müssen – wie so häufig – eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vornehmen. Der EuGH präzisiert jedoch die Kriterien für die Qualifizierung von Rufbereitschaft als Arbeitszeit. Entscheidend ist eine ganz erhebliche Beeinträchtigung der Freizeitgestaltung bzw. der Möglichkeit, die Zeit eigenen Interessen zu widmen, was eher in Ausnahmefällen gegeben sein dürfte.
 
Weiter betont der EuGH, dass Bereitschaftsdienste über lange Zeiträume oder mit großer Häufigkeit eine wiederkehrende psychische Belastung darstellen, die es für Arbeitnehmer schwierig mache, sich dem Arbeitsumfeld zu entziehen, was umso mehr gelte, wenn Bereitschaftsdienste nachts erfolgten. Arbeitgeber dürften daher unabhängig von der Qualifizierung als „Arbeitszeit“ in Anbetracht der Verpflichtung Arbeitnehmer vor psychosozialen Risiken zu schützen, keine so langen und so häufigen Bereitschaftszeiten einführen, dass sie eine Gefahr für Sicherheit und Gesundheit darstellen.
 
Für die Praxis wichtig ist die erneute Klarstellung des EuGH, dass die Frage der Vergütung nicht unter die Richtlinie 2003/88 fällt, da diese darauf beschränkt ist, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Die Richtlinie 2003/88 steht daher innerstaatlichem Recht nicht entgegen, nach dem Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, unterschiedlich berücksichtigt werden, selbst wenn diese Zeiten insgesamt als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie anzusehen sind. 
 
Nach der Rechtsprechung des BAG (vgl. BAG vom 31. Januar 2002 - 6 AZR 214/00) unterscheidet sich Rufbereitschaft vom Bereitschaftsdienst dadurch, dass sich der Arbeitnehmer in der Zeit, für die sie angeordnet ist, nicht vor Ort aufhalten muss, sondern seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen kann. Bereitschaftsdienst liegt hingegen vor, wenn sich der Arbeitnehmer, ohne dass von ihm wache Aufmerksamkeit gefordert wird, für Zwecke des Betriebs an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufzuhalten hat, damit er erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit unverzüglich aufnehmen kann. Bereitschaftsdienst ist danach keine volle Arbeitsleistung, sondern eine Aufenthaltsbeschränkung, die mit der Verpflichtung verbunden ist, bei Bedarf unverzüglich tätig zu werden (vgl. BAG vom 28. Januar 2004 – 5 AZR 530/02). Rufbereitschaft war bisher nur dann wie Arbeitszeit zu vergüten, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich zu einer Arbeitsleistung herangezogen wurde. Bloße Rufbereitschaft galt indes nicht als vergütungspflichtige Arbeitszeit. Ob dies angesichts dieser Entscheidungen des EuGH noch in dieser Absolutheit aufrechterhalten wird, bleibt abzuwarten.
 
Felix Römisch, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München



Ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats  gemäß § 102 BetrVG in Bezug auf die Fristwahrung nach § 626 Abs. 2 BGB
BAG, Urteil vom 7. Mai 2020 – 2 AZR 678/19
Eine Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG bezüglich einer außerordentlichen, fristlosen Kündigung bedarf keines gesonderten Vortrags zur Wahrung der Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB.  
 
Sachverhalt und Vorinstanz
Die Parteien streiten darüber, inwieweit der Arbeitgeber Ausführungen zur Wahrung der Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB bei einer außerordentlichen Verdachtskündigung im Rahmen einer Betriebsratsanhörung machen muss. Der Kläger macht geltend, dass die Betriebsratsanhörung fehlerhaft sei, da in dieser nicht die Tatsachen enthalten waren, aus denen sich die Einhaltung der Frist nach § 626 Abs. 2 BGB ergebe. 
 
Das vorinstanzliche Arbeitsgericht Dortmund hat sich mit dieser Fragestellung nicht auseinander gesetzt, sondern die Kündigung aus anderen Gründen scheitern lassen. Das LAG Hamm bestätigte die Auffassung des Klägers. Aus Sicht des LAG Hamm muss der Arbeitgeber in der Betriebsratsanhörung über alle Tatsachen unterrichten, die den Betriebsrat in den Stand versetzen, selbständig zu prüfen, ob die 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB eingehalten wurde. Nach Auffassung des LAG Hamm muss der Arbeitgeber bei einer außerordentlichen Verdachtskündigung also auch angeben, an welchem Datum der Kündigungsberechtigte einen Anfangsverdacht schöpfte und wann welche Ermittlungen angestellt wurden. Die 4. Kammer des LAG Hamm hat sich somit dem Urteil der 13. Kammer des LAG Hamm angeschlossen (vgl. LAG Hamm, Urteil vom 29. Mai 2009 – 13 Sa 1452/08). 
 
Entscheidung
Das BAG hat – entgegen der Auffassung der Vorinstanz - entschieden, dass der Arbeitgeber im Rahmen der Betriebsratsanhörung keine gesonderten Ausführungen zur Wahrung der Ausschlussfrist machen muss. Gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat die „Gründe für die Kündigung“ mitzuteilen. Die Wahrung der Ausschlussfrist gehöre jedoch nicht zu den „Gründen für die Kündigung“, sodass es hierzu keinen Angaben bedarf.
 
Das BAG bestätigte seine Entscheidung vom 22. September 2016 – 2 AZR 700/15 auch im Hinblick auf § 626 Abs. 2 BGB, dass die Anhörung nicht dazu diene, dem Betriebsrat die selbständige – objektive – Überprüfung der rechtlichen Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung zu ermöglichen. Gleichwohl stellte das BAG klar, dass der Arbeitgeber dennoch angeben müsse, wann sich der Kündigungssachverhalt ereignet habe. Dies sei erforderlich, damit der Betriebsrat die Stichhaltigkeit und Gewichtung der Kündigungsgründe beurteilen und sich eine eigene Meinung bilden könne.
 
Das BAG führte zudem aus, dass freiwillige Angaben des Arbeitgebers bezüglich der Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB hingegen wahrheitsgemäß zu erfolgen haben. 
 
Bewertung
Die Entscheidung des BAG ist zu begrüßen und schafft für den Arbeitgeber weitere Rechtsklarheit im Hinblick auf seine Unterrichtungspflicht gegenüber dem Betriebsrat nach § 102 BetrVG. Das BAG ist nicht nur der Rechtsprechung des LAG Hamm entgegengetreten, sondern auch derjenigen des LAG Köln (vgl. LAG Köln, Urteil vom 22. März 2012 – 7 Sa 1022/11), die beide die gegensätzliche Rechtsauffassung vertreten hatten. Die Ansicht des BAG steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens, welches nicht dazu bestimmt ist, die Wirksamkeit der beabsichtigen Kündigung durch den Betriebsrat überprüfen zu lassen. Dies bleibt vielmehr den Arbeitsgerichten vorbehalten. 
 
Natalie Schirmer, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

März 2021



Diebstahl von Desinfektionsmittel als fristloser Kündigungsgrund

LAG Düsseldorf, Urteil vom 14.01.2021 – 5 Sa 483/20

Es ist einer dieser Sachverhalte, den man sich „vor Corona“ nicht hätte vorstellen können – während es in der Praxis immer mal wieder Fälle von Diebstahl von Büromaterialien oder auch Kaffee gab, war Desinfektionsmittel lange Zeit kein sonderlich gefragtes Diebesgut. Anders als die „bewährten“ Diebstahlsgegenstände waren Desinfektionsmittel im vergangenen Jahr zwischenzeitlich krisenbedingt ein rares Gut. Dies ist aufgrund der Gesamtsituation ein Aspekt, der bei der Interessenabwägung im Falle einer unbefugten Mitnahme zu berücksichtigen ist. Den hier so agierenden Arbeitnehmer kostete es den Arbeitsplatz.

Sachverhalt und Vorinstanz
Der Sachverhalt spielte im März 2020, als neben Toilettenpapier und Nudeln vor allem Desinfektionsmittel kurzfristig zu einem stark nachgefragten Produkt wurden. Die hiesige Beklagte, ein Unternehmen aus dem Logistikbereich, hatte in ihren Sanitärräumen Desinfektionsmittel für die Beschäftigten bereitgestellt und – aufgrund entsprechender Erfahrungen – mit einem Aushang darauf hingewiesen, dass eine Entwendung von Desinfektionsmitteln zur fristlosen Kündigung und Strafanzeige führen werde.

Bei stichprobenartigen Kontrollen der Fahrzeuge, die das Betriebsgelände verließen, fand der Werkschutz im Kofferraum des hiesigen Klägers, der seit 16 Jahren im Unternehmen beschäftigt war, u. a. eine noch verschlossene Literflasche Desinfektionsmittel im Wert von seinerzeit ca. 40 Euro sowie eine Handtuchrolle. Die Beklagte nahm diesen Fund zum Anlass für eine fristlose Kündigung.

Das Arbeitsgericht wies die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage ab. Die daraufhin eingelegte Berufung blieb erfolglos.

Entscheidung
Das LAG hielt die Kündigung – auch als fristlose – für wirksam. Insbesondere glaubte es nicht der Erklärung des Klägers, er habe nur einen Zugriffsmöglichkeit für sich und seine Kollegen während der Schicht schaffen wollen und man sei schneller am Auto gewesen als in den Sanitärräumen, in denen auch nicht immer solche Mittel vorhanden gewesen seien. Dies passte aus Sicht des Gerichts weder zu dem Umstand, dass die Flasche noch verschlossen war, noch dazu, dass die Kollegen dann auch jederzeit Zugriff auf seinen Autoschlüssel hätten haben müssen. Im Übrigen hätte es bei diesem Gedanken viel näher gelegen, das Desinfektionsmittel auf einem Materialwagen abzustellen statt im eigenen Kofferraum zu verschließen. Auch das Argument, dass der Kläger sich nach eigenem Bekunden unterwegs ja ebenfalls die Hände desinfizieren wolle, ließ das Gericht nicht gelten.

Zu Lasten des Klägers fiel insbesondere ins Gewicht, dass Desinfektionsmittel Mangelware waren und auch die Arbeitgeberin insoweit mit Versorgungsengpässen zu kämpfen hatte. Die Mitnahme von einem ganzen Liter sei daher ein besonders gravierender Vorgang, zumal damit nicht zuletzt auch in Kauf genommen wurde, dass im Betrieb ggf. vorübergehend gar keine Desinfektionsmittel vorhanden sein würden. Die Interessenabwägung ging damit insgesamt gegen den Kläger aus.

Schließlich stehe der Kündigung auch nicht entgegen, dass es keine einschlägige Abmahnung gegeben hatte. Dem Kläger habe angesichts der Pandemiesituation klar sein müssen, dass ein solches Verhalten unter keinen Umständen geduldet werde.

Bewertung
Nicht erst seit der „Emmely“-Entscheidung wird darüber diskutiert, ob und inwieweit es eine Bagatellgrenze gibt, unterhalb derer die Mitnahme von Eigentum des Arbeitgebers als nicht so gravierend anzusehen sei, dass darauf keine Kündigung gestützt werden könne. Zu Recht stellt das LAG Düsseldorf darauf ab, dass auch die Knappheit einer Ware in die Interessenabwägung einzustellen ist – selbst wenn es „nur“ um einzelne FFP2-Masken gegangen wäre, hätte dies ebenso eine Kündigung gerechtfertigt. Hinzu kommt, dass durch die Inkaufnahme des Fehlens von Desinfektionsmittel auch die arbeitgeberseitige Fürsorgepflicht letztendlich sabotiert wurde. Es gab daher mehrere gute Gründe für eine Anerkennung der Berechtigung der Kündigung.

Der fragliche Aushang entspricht strukturell einer sog. „vorweggenommenen Abmahnung“. Eine solche wird nicht aufgrund einer bereits erfolgten Pflichtverletzung ausgesprochen, sondern beinhaltet vielmehr eine Ankündigung des Arbeitgebers, dass er ein bestimmtes zukünftiges Verhalten keinesfalls dulden werde und für diesen Fall den Ausspruch einer Kündigung in Aussicht stellt. In der Regel führt dies noch nicht dazu, dass damit eine Abmahnung im Einzelfall entbehrlich wäre; wohl aber kann die Missachtung einer solchen Ansage eine negative Prognose weiter untermauern, wenn der Arbeitnehmer in dem Wissen um die angedrohten Konsequenzen des Verstoßes trotzdem das beschriebene Fehlverhalten zeigt. Letztendlich kam es vorliegend auf diese rechtliche Einordnung nicht an, weil der Sachverhalt auch ohne jegliche explizite oder vorweggenommene Abmahnung als hinreichend gravierend anzusehen war, um eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin











 







Angemessener Zuschlag für (Dauer-)Nachtarbeit: Merkmale zur Bestimmung der Angemessenheit

BAG, Urteil vom 15.07.2020 – 10 AZR 123/19

Gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG erhalten Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden als Ausgleich eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihnen gewährte Bruttoarbeitsentgelt. Das Wahlrecht liegt hierbei beim Arbeitgeber, ob er den Ausgleich in Form bezahlter freier Tage, eines monetären Zuschlags oder einer Kombination aus beidem erfüllt.

Regelmäßig hält das BAG einen monetären Ausgleich für geleistete Nachtarbeit in Höhe von 25% für angemessen. Für Dauernachtarbeitnehmer, also Arbeitnehmer, die ausschließlich Nachtarbeit im Sinne von § 2 Abs. 4 ArbZG erbringen, soll sich der Zuschlag sogar um fünf Prozentpunkte erhöhen, weshalb hier regelmäßig ein 30%iger Zuschlag vom BAG als angemessen betrachtet wird. Hieran hält das BAG auch in der vorliegenden Entscheidung fest. Neu ist jedoch, dass das BAG erstmals einen Abzug von zehn Prozentpunkten bestätigt, wenn die Nachtarbeit unvermeidbar ist.


Sachverhalt und Vorinstanzen
Die nicht tarifgebundene beklagte Arbeitgeberin betreibt eine Seniorenresidenz. Hierbei handelt es sich um eine stationäre Einrichtung nach § 3 WTPG (Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz). Die Beklagte ist deshalb nach § 10 Abs. 3 Nr. 4 S. 1 Hs. 3 WTPG i. V. m. §§ 1, 10 Abs. 1 LPersVO von Baden-Württemberg verpflichtet, im Nachtdienst ständig mindestens eine Pflegefachkraft und mindestens pro 45 Bewohnerinnen und Bewohner je eine Beschäftigte oder einen Beschäftigten einzusetzen.

Die Klägerin ist dort als Altenpflegerin angestellt und wird als Dauernachtwache zwischen 20:00 Uhr und 6:00 Uhr eingesetzt. Die Belastung der Klägerin entspricht der Normalbelastung einer Nachtarbeitnehmerin. Die Beklagte zahlte 15% Nachtzuschlag i. S. v. § 6 Abs. 5 ArbZG auf das Bruttostundenentgelt.

Die Klägerin begehrte mit ihrer Klage vor dem ArbG Freiburg einen höheren Zuschlag für Nachtarbeit. In Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung hielt sie die Regelwerte von 25% und 30% für sich als Dauernachtwache übertragbar. Die Beklagte dagegen vertrat die Ansicht, dass der bereits gezahlte Zuschlag angemessen sei. Insofern sei von dem Regelwert von 25% ein Abzug in Höhe von 15 Prozentpunkten vorzunehmen, weil der mit dem Nachtarbeitszuschlag verfolgten „Lenkungszweck“ nicht erreicht werden könne. Die Beklagte meinte, die mit der Nachtarbeit verbundenen Belastungen seien mit 10% zu gewichten („Ausgleichszweck“). Da die Klägerin Dauernachtarbeit leiste, sei ein Zuschlag von fünf Prozentpunkten angemessen, womit sich der insgesamt schon gewährte Zuschlag in Höhe von 15% ergibt.

Während das ArbG Freiburg der Klage stattgab, hat das LAG Baden-Württemberg das Urteil des ArbG teilweise abgeändert und der Klägerin lediglich weitere 5% des Bruttostundenentgelts zugesprochen. Im Übrigen hat das LAG die Klage abgewiesen. Das LAG ist demnach von einem Anspruch auf Nachtarbeitszuschläge in Höhe von insgesamt 20% des Bruttostundenentgelts ausgegangen

Entscheidung
Das BAG wies die beiderseitig erhobenen Revisionen zurück und bestätigte das Urteil des LAG Baden-Württemberg. Ein gegenüber dem Regelwert reduzierter Zuschlag kann jedenfalls dann ausreichend sein, wenn überragende Gründe des Gemeinwohls die Nachtarbeit zwingend erfordern. Auch ein deutlicher Abschlag in Höhe von zehn Prozentpunkten hält sich noch im Rahmen des dem LAG zukommenden Beurteilungsspielraums.

Der mit dem Nachtarbeitszuschlag verfolgte Lenkungszweck, Nachtarbeit zu verteuern, um sie auf diese Weise möglichst einzuschränken, kann im zu entscheidenden Fall nicht erreicht werden. Insofern greift die Argumentation der beklagten Arbeitgeberin, in stationären Einrichtungen nach § 3 WTPG müsse im Nachtdienst ständig mindestens eine Pflegefachkraft und mindestens pro 45 Bewohnerinnen und Bewohner je ein Arbeitnehmer bzw. eine Arbeitnehmerin eingesetzt werden. Insofern stellt auch das BAG auf den Zweck des WTPG ab, der unter anderem darin liegt, die Würde, die Privatheit, die Interessen und Bedürfnisse volljähriger Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf oder volljähriger Menschen mit Behinderungen als Bewohner stationärer Einrichtungen vor Beeinträchtigungen zu schützen (§ 1 I Nr. 1 WTPG). Wenn also die Nachtarbeit gesetzlich angeordnet wird, damit unvermeidbar ist, kann der Lenkungszweck, Nachtarbeit für den Arbeitgeber zu verteuern, nicht erreicht werden.

Die Klägerin dringt im Ergebnis nicht damit durch, der Abschlag von zehn Prozentpunkten sei nicht mit den Schutzpflicht des Staats für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu vereinbaren. Ebenso enthalten Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG keine Vorgaben zur Höhe des als angemessen anzusehenden Nachtarbeitszuschlags.

Bewertung
Voraussetzung für den Anspruch ist jedenfalls die Nachtarbeitnehmereigenschaft i. S. v. § 2 Abs. 5 ArbZG, das Erbringen von Arbeitsleistung während der Nachtzeit i. S. v. § 2 Abs. 3 ArbZG und – als negatives Tatbestandsmerkmal –, dass keine tarifvertragliche Ausgleichsregelung besteht. Hierfür trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast. Arbeitnehmer müssen demnach unter anderem darlegen, dass sie Nachtabreitnehmer sind und in welchem Umfang sie Arbeitsstunden während der Nachtzeit – also von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr - geleistet haben.

Bleibt der geleistete Ausgleich hinter den vom BAG aufgestellten Regelwerten (25%/30% bei Dauernachtarbeit) zurück, ist es Sache des Arbeitgebers darzulegen, auf Grund welcher Faktoren ein geringerer Zuschlagsanspruch angemessen sein soll.

Die in der ständigen Rechtsprechung des BAG für angemessen befundenen Regelwerte für Nachtarbeitszuschläge i. S. d. § 6 Abs. 5 ArbZG fußen im Wesentlichen auf zwei Erwägungen – dem Lenkungs- und dem Ausgleichszweck. In der hier dargestellten Entscheidung musste sich das BAG lediglich mit dem Lenkungszweck befassen. Ein weitere Abschlag kann jedoch vorzunehmen sein, wenn auch der Ausgleichszweck nicht zum Tragen kommt. Dies wäre dann der Fall, wenn die Arbeitsbelastung in der Nachtschicht im Vergleich zu der eines Tagesdienstes geringer wäre. Da im hiesigen Sachverhalt von einer Normalbelastung auszugehen war, kam ein weiterer Abschlag nicht in Betracht.

Das BAG hat in seiner Entscheidung (BAG, Urt. v. 9.12.2015 – 10 AZR 423/14) bestätigt, dass ein 10%iger Zuschlag regelmäßig die Untergrenze dessen darstellt, was angemessen ist. In seiner damaligen Entscheidung bezog sich das BAG auf ein Urteil aus dem Jahr 2005 (BAG, Urt. v. 31. 8. 2005 - 5 AZR 545/04), in dem ein Zuschlag für Angehörige des Rettungsdienstes in Höhe von 10% für angemessen befunden wurde, weil im Rahmen der Nachtarbeit auch Zeiten der Entspannung liegen – vergleichbar der Arbeits- und Rufbereitschaft.

Ist die Nachtarbeit unvermeidbar und bleibt die Belastung in der Nachtschicht hinter derjenigen am Tag zurück, ist es für Arbeitgeber möglich, wesentlich von den vom BAG aufgestellten Regelwerten nach unten abzuweichen. In besonderen Ausnahmefällen könnte dann sogar ein Zuschlag von unter 10% als angemessen angesehen werden – immerhin stellen 10% nur regelmäßig die Untergrenze dar.

Christian Böhm, Rechtsanwalt, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

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Februar 2021



Einführung von Kurzarbeit nur nach wirksamer Vereinbarung
Arbeitsgericht Siegburg, Urteil vom 11.11.2020, 4 Ca 1240/20

Nicht zuletzt infolge der erneuten Verlängerung des Lockdowns und wegen der anhaltenden Herausforderungen für die Wirtschaft ist das Thema Kurzarbeit weiterhin aktuell. Dabei stellt die – rechtlich wirksame – Einführung von Kurzarbeit Arbeitgeber regelmäßig vor Schwierigkeiten, insbesondere dann, wenn es an einer entsprechenden rechtlichen Grundlage wie einer Betriebsvereinbarung oder einer Kurzarbeitsklausel im Arbeitsvertrag fehlt. In diesen Fällen müssen Arbeitgeber mit jedem Mitarbeiter eine individuelle Vereinbarung treffen. Die Anordnung von Kurzarbeit ohne eine solche Vereinbarung ist unwirksam mit der Folge, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das volle Entgelt zahlen muss. Das hat jüngst auch das Arbeitsgericht Siegburg entschieden.
 
Sachverhalt
Der Kläger war seit Dezember 2019 als Omnibusfahrer bei der Beklagten tätig. Ein Betriebsrat existiert bei der Beklagten nicht.
 
Im Rahmen eines Abmahnungsschreibens vom 16. März 2020 teilte die Beklagte dem Kläger im vorletzten Absatz des Schreibens mit, dass im Betrieb für verschiedene Abteilungen Kurzarbeit angemeldet werden müsse und der Kläger zunächst in der Woche vom 23. März 2020 bis zum 28. März 2020 für Kurzarbeit vorgesehen sei. Eine individualrechtliche Vereinbarung über Kurzarbeit wurde mit dem Kläger nicht geschlossen. Der Kläger bot seine volle Arbeitsleistung daraufhin weiter an. Dennoch kürzte die Beklagte ab März 2020 bis einschließlich Juni 2020 ein Teil des Entgelts des Klägers; in den Abrechnungen bezeichnete sie die geleisteten Zahlungen jeweils als „Kurzarbeitergeld“.
 
Der Kläger kündigte das Arbeitsverhältnis fristlos zum 14. Juni 2020 und erhob vor dem Arbeitsgericht Siegburg Klage auf Zahlung seines vollen Entgelts sowie auf Korrektur der Entgeltabrechnungen und Lohnsteuerbescheinigung.
 
Entscheidung
Das Arbeitsgericht Siegburg hat der Klage vollumfänglich stattgegeben. Es hat entschieden, dass der Kläger seinen vollen Entgeltanspruch gemäß dem Arbeitsvertrag i. V. m. §§ 611a Abs. 2, 615 BGB behalten habe. Er habe seine Arbeit unstreitig angeboten und die Beklagte sei insofern in Annahmeverzug geraten, als sie die Arbeitsleistung des Klägers ab März 2020 nicht in vollem Umfang angenommen habe.
 
Hieran ändere auch die vermeintliche Einführung von Kurzarbeit nichts. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Siegburg habe bereits keine wirksame Anordnung von Kurzarbeit vorgelegen. So dürfe der Arbeitgeber Kurzarbeit nur dann einseitig anordnen, wenn es hierfür eine rechtliche Grundlage gebe, etwa im Arbeitsvertrag, durch Betriebsvereinbarung oder im Tarifvertrag. An einer solchen Rechtsgrundlage habe es im vorliegenden Fall jedoch gefehlt. Insbesondere habe die Beklagte mit dem Kläger keine wirksame Individualvereinbarung über die Einführung von Kurzarbeit geschlossen, als sie ihm mit dem Abmahnungsschreiben die „voraussichtliche Kurzarbeit“ ankündigte. Diese einseitige Mitteilung stelle gerade keine Vereinbarung über Kurzarbeit dar.
 
Da die Anordnung von Kurzarbeit durch die Beklagte unwirksam gewesen sei, sei die Beklagte mit der Annahme der Arbeitsleistung des Klägers in Verzug geraten. Folglich habe der Kläger seinen vollen Entgeltanspruch behalten.
 
Bewertung
Das Arbeitsgericht Siegburg bestätigt mit seiner Entscheidung, dass eine einseitige Anordnung von Kurzarbeit ohne rechtliche Grundlage – in Form einer Individualvereinbarung, Betriebsvereinbarung oder tarifvertraglichen Vorschrift – unzulässig ist. Insofern ist insbesondere in betriebsratlosen Betrieben darauf zu achten, dass die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen bei der Einführung von Kurzarbeit berücksichtigt werden, nämlich Vorliegen einer entsprechenden einzelvertragliche Klausel im Arbeitsvertrag oder Abschluss einer einvernehmlichen Änderungsvereinbarung mit den Beschäftigten. Andernfalls ist die Folge, dass die Beschäftigten ihren vollen Entgeltanspruch behalten, obwohl sie mangels Arbeitsanfall weniger oder – bei Kurzarbeit 0 – gar nicht arbeiten. Dies sollte aus Sicht des Arbeitgebers unbedingt vermieden werden.
 
Im Übrigen führt eine unwirksame bzw. fehlende Vereinbarung über Kurzarbeit auch zu Schwierigkeiten bei der Beantragung des Kurzarbeitergelds bei der Agentur für Arbeit. Denn für die Gewährung von Kurzarbeitergeld wird auch das Vorliegen einer wirksamen Individualvereinbarung, Betriebsvereinbarung oder tarifvertraglichen Regelung vorausgesetzt.
 
Sollte sich der Arbeitnehmer in einem betriebsratslosen Betrieb einer einvernehmlichen Regelung zur Einführung von Kurzarbeit ausdrücklich verwehren, bleibt dem Arbeitgeber zumindest die Möglichkeit, die Anordnung von Kurzarbeit mittels einer außerordentlichen Änderungskündigung durchzusetzen. Dies hat das Arbeitsgericht Stuttgart mit Urteil vom 22.10.2020, Az. 11 Ca 2950/20, entschieden – wir berichteten in der Newsletter-Ausgabe Dezember 2020 („Fristlose Änderungskündigung zur Einführung von Kurzarbeit“).
 
Amelie Rothe, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München




 
Außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds - Kündigungserklärung
BAG, Urteil vom 01. Oktober 2020, 2 AZR 238/20
 
Die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds ist auch dann – trotz Ablaufs der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB – fristgerecht, wenn das gerichtliche Zustimmungsverfahren während der Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingeleitet wurde und die Kündigung unverzüglich nach rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidung über die Ersetzung der Zustimmung erfolgt ist. Gleiches gilt, wenn die Amtszeit des Betriebsratsmitglieds während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens endet und die Kündigung unverzüglich nach dem Ende der Amtszeit erklärt wird.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Kläger war bis einschließlich 14.05.2018 Mitglied im Betriebsrat bei der Beklagten. Mit Schreiben vom 30.04.2018 beantragte die Beklagte die Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Klägers nach § 103 Abs. 1 BetrVG und hörte den Betriebsrat vorsorglich zur beabsichtigten Kündigung nach § 102 Abs. 1 BetrVG an. Als der Betriebsrat die Zustimmung verweigerte, leitete die Beklagte das gerichtliche Zustimmungsersetzungsverfahren ein. Die Beklagte beantragte anschließend erneut höchst vorsorglich die Zustimmung des Betriebsrats nach § 103 Abs. 1 BetrVG und hörte den Betriebsrat erneut nach § 102 Abs. 1 BetrVG höchst vorsorglich an: Eine außerordentliche Kündigung solle nach der Amtszeit des Klägers als Betriebsratsmitglied – aus den dem Betriebsrat bekannten Gründen – erfolgen. Mit Schreiben vom 14.05.2018 verweigerte der Betriebsrat die Zustimmung und widersprach der beabsichtigen Kündigung. Die Beklagte kündigte daraufhin am 15.05.2018 das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger.
 
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 15.05.2018. Der Kläger ist insbesondere der Ansicht, dass die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei Ausspruch der Kündigung bereits abgelaufen sei. Nach Abweisung der Klage durch das Arbeitsgericht hat das Landesarbeitsgericht der Berufung des Klägers stattgegeben und unter anderem angenommen, dass die Kündigung unwirksam sei, da die Kündigungserklärungsfrist am 15.05.2018 bereits abgelaufen gewesen sei. Die Revision der Beklagten hatte Erfolg und führte zu Aufhebung und Zurückverweisung durch das Bundesarbeitsgericht.
 
Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB fristgerecht erfolgen kann, wenn das eingeleitete Zustimmungsersetzungsverfahren bei Ablauf der Frist noch nicht abgeschlossen ist. Mangels einer Regelungslücke richtet sich die Kündigungserklärungsfrist dann nach § 174 Abs. 5 SGB IX analog. Die Kündigung muss insoweit unverzüglich nach der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Ersetzung der Zustimmung erklärt werden. Entsprechendes gilt, wenn der Sonderkündigungsschutz während des Zustimmungsersetzungsverfahrens endet: Der Arbeitgeber muss – wieder analog § 174 Abs. 5 SGB IX – die Kündigung unverzüglich aussprechen, sobald er Kenntnis von der Beendigung des Sonderkündigungsschutzes erlangt hat.
 
Das Bundesarbeitsgericht hat nun auch festgestellt, dass dies gleichermaßen gilt, wenn eine Kündigung ohne Zustimmung des Betriebsrats bereits während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens erklärt wird. Wenn die Kündigung lediglich vorsorglich für den Fall, dass es einer Zustimmung des Betriebsrat nicht (mehr) bedarf, erklärt wird, stellt diese keine Rücknahme des Zustimmungsersuchens dar und lässt das gerichtliche Zustimmungsersetzungsverfahren insoweit unberührt.
 
Durch den (vorsorglichen) Ausspruch der Kündigung nach Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG werden die Kündigungsgründe für das Zustimmungsersetzungsverfahren nicht „verbraucht“, solange der Arbeitgeber das Zustimmungsersuchen aufrechterhält und das gerichtliche Verfahren andauert.
 
Bewertung
Mit seiner Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds, dessen Amtszeit während des Zustimmungsersetzungsverfahrens endet, erleichtert. Das Gericht hat festgestellt, dass die Kündigungserklärungsfrist – auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB – gewahrt ist, wenn die außerordentliche Kündigung unverzüglich nach dem Ablauf der Amtszeit und somit nach dem Ende des Sonderkündigungsschutzes erklärt wird.
 
Arbeitgeber sollten jedoch mit dem Ausspruch von vorsorglichen Kündigungen von Betriebsratsmitgliedern nach dem Ablauf der Amtszeit vorsichtig umgehen. Es bleibt abzuwarten, ob aus der vorliegenden Entscheidung eine Grundsatzrechtsprechung entsteht, da der streitgegenständliche Sachverhalt vorliegend die Besonderheit hatte, dass zwischen der Einleitung des Zustimmungsersetzungsverfahrens und dem Ablauf der Amtszeit lediglich 10 Tage lagen.
 
Veronika von Bergwelt, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München

Januar 2021



Der Crowdworker - eine neue Arbeitnehmerform
BAG, Urteil vom 1. Dezember 2020, 9 AZR 102/20
 
Die fortschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt führt zu neuen Geschäftsmodellen, die abseits der bekannten Arbeitsabläufe neue Wege beschreiten – weg vom klassischen Arbeitsplatz hin zu „New Work“. Diese Veränderungen der Arbeitsprozesse und die damit einhergehenden rechtlichen Anforderungen stellen nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Gerichte vor neue Herausforderungen. Vor den obersten Gerichten macht diese Entwicklung ebenfalls nicht halt; so hat das BAG sich jüngst mit der Frage auseinandergesetzt, ob ein sog. Crowdworker Arbeitnehmer sein kann.
 
Sachverhalt und Vorinstanzen
Der Kläger war für die Beklagten seit Februar 2017 als sog. Crowdworker tätig. Crowdworker übernehmen über Internetplattformen oder Apps vermittelte Arbeiten von Unternehmen oder Privatpersonen. Sie können dabei für unterschiedliche Auftraggeber tätig sein und konkurrieren mit anderen Crowdworkern um die Aufträge.
Die Beklagte kontrolliert für ihre Kunden die Warenpräsentation im Einzelhandel oder in Tankstellen. Die Kontrolltätigkeit wird von Crowdworkern ausgeführt, die Fotos von der Warenpräsentation anfertigen und Fragen zur Bewerbung der Produkte beantworten. Die Beklagte bietet die Aufträge über eine Online-Plattform an. Nach Abschluss einer „Basis-Vereinbarung“ samt Allgemeiner Geschäftsbedingungen kann der Crowdworker über seinen persönlichen Account die angebotenen Aufträge annehmen, muss es aber nicht. Hat er aber einen Auftrag angenommen, muss er diesen regelmäßig innerhalb von zwei Stunden ausführen und dabei die detaillierten Vorgaben des Kunden berücksichtigen. Die Vergütung erfolgt pro Auftrag. Für erledigte Aufträge sammelt der Crowdworker zudem Erfahrungspunkte; mit einer bestimmten Anzahl an Erfahrungspunkten erhöht sich das Level des Crowdworkers und er erhält Zugang zu mehreren bzw. lukrativeren Aufträgen.
 
Der Kläger hat innerhalb von 11 Monaten 2978 solcher Aufträge erledigt. Er arbeitete dafür durchschnittlich 20 Stunden pro Woche und erzielte – als Selbständiger – einen durchschnittlichen Monatsverdienst von € 1.800,-, die ihm per PayPal ausbezahlt wurden. Im April 2018 teilte die Beklagte dem Kläger nach Unstimmigkeiten mit, dass man ihm keine weiteren Aufträge mehr anbieten werde. Daraufhin erhob der Kläger zunächst Klage auf Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses und auf Zahlung entgangener Vergütung. Später erweiterte der Kläger die Klage um einen Kündigungsschutzantrag.
 
Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht München haben das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses mangels vertraglicher Verpflichtung zur Erbringung einer Leistung verneint und die Klage abgewiesen.
 
Entscheidung
Das BAG hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers und damit einhergehend das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses bejaht.
 
Nach Auffassung des Neunten Senats hat der Kläger entsprechend der Voraussetzungen des § 611a BGB in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit geleistet. Dies ergebe sich zwar nicht aus der Vertragslage, die nur einen Rahmen festlege, aber keine konkreten Arbeitsanweisungen beinhalte; insbesondere sei der Kläger vertraglich nicht zur Annahme der Aufträge der Beklagten verpflichtet gewesen. Allerding habe der Kläger seine Tätigkeit dennoch nicht nach Ort, Zeit und Inhalt frei gestalten können. Vielmehr habe er entsprechend der Organisationsstruktur der Beklagten tatsächlich kontinuierlich vertraglich vorgegebene Kleinstaufträge angenommen und persönlich erledigt. Durch das Anreizsystem, mit der steigenden Anzahl durchgeführter Aufträge ein höheres Level zu erreichen und damit mehrere und lukrativere Aufträge annehmen zu können, sei der Kläger veranlasst gewesen, im Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich die aufgetragenen Kontrolltätigkeiten zu erledigen.
 
Dennoch hat das BAG die Revision des Klägers überwiegend zurückgewiesen, da eine vorsorglich erklärte Kündigung seitens der Beklagten das Arbeitsverhältnis wirksam beendet hatte. Hinsichtlich der geltend gemachten entgangenen Vergütung hat das BAG die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen; diese muss nun für die Zeit, in der der Kläger für die Beklagte tätig war, die Höhe der üblichen Vergütung gemäß § 612 Abs. 2 BGB klären. Eine Übertragung der üblichen Werte aus der selbständigen Tätigkeit auf eine Tätigkeit als Arbeitnehmer erfolgt in der Regel nicht ohne Weiteres.
 
Bewertung
Bei dem der Entscheidung des BAG zugrundeliegenden Sachverhalt handelt es sich zwar um einen Einzelfall, weshalb die Entscheidung wohl keinen generellen Rückschluss auf das Geschäftsmodell der Crowdworker zulässt. Dennoch müssen sich Unternehmen bewusst machen, dass der Einsatz von Crowdworkern das Risiko birgt, dass diese als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind und ihnen insofern auch die damit einhergehenden Rechte wie Urlaub, Entgeltfortzahlung und Kündigungsschutz zustehen. Zudem drohen auch sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen.
 
Die neuen Erscheinungsformen von Arbeit werden jedenfalls zunehmend auch die Gerichte beschäftigen und es darf mit Spannung erwartet werden, wie der Gesetzgeber auf das Phänomen Crowdworker reagiert. In seinem Eckpunktepapier „Neue Arbeit fair gestalten“ vom 27. November 2020 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bereits angekündigt, den Schutz von „solo-selbstständigen Plattformtätigen“ stärken zu wollen. So schlägt das BMAS unter anderem vor, Crowdworker in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, die arbeitsgerichtliche Statusklärung durch Beweislastverlagerungen zu erleichtern sowie Transparenz- und Meldepflichten für die Plattformbetreiber zu etablieren. Welche Schutzmechanismen schlussendlich umgesetzt werden, muss sich allerdings noch zeigen – ein konkreter Gesetzesentwurf ist bislang noch nicht in Sicht.

Amelie Rothe, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, München





Löschung von Daten des Arbeitgebers - außerordentlich fristlose Kündigung
LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.09.2020 – 17 Sa 8/20
 
Löscht ein Arbeitnehmer in erheblichem Umfang Daten vom Server des Arbeitgebers, kann dies nach der vorliegenden Entscheidung eine außerordentlich fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können der Entscheidung des LAG Baden-Württemberg eine erfreulich klare Konkretisierung der vertraglichen Nebenpflichten des Arbeitnehmers im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB im Hinblick auf den Umgang mit Daten des Arbeitgebers entnehmen: Der Arbeitnehmer hat dem Arbeitgeber den Zugriff auf betriebliche Dateien weder zu verwehren noch unmöglich zu machen.
 
Sachverhalt
Die Parteien streiten über eine außerordentliche fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
 
Die IT-Infrastruktur der Beklagten sieht vor, dass von Mitarbeitern erstellte bzw. abgespeicherte Dateien zentral auf dem Server der Beklagten unter einem den Mitarbeitern zugewiesenen Verzeichnis abgelegt werden.
 
Am 5. Februar 2019 fand zwischen dem Geschäftsführer der Beklagten und dem Kläger ein Gespräch statt, in dem der Geschäftsführer dem Kläger erklärte, das Arbeitsverhältnis wegen aufgetretener Spannungen beenden zu wollen. Der Kläger lehnte den angebotenen Aufhebungsvertrag ab. Nach Abschluss des Gesprächs verabschiedete sich der Kläger bei einer Einkäuferin der Beklagten mit den Worten „man sieht sich immer zweimal im Leben“. An den folgenden beiden Tagen war der Kläger für die Beklagte nicht erreichbar. Am 7. Februar 2019 löschte er ca. 8 Gigabyte Daten auf dem Server der Beklagten im für ihn vorgesehenen Verzeichnis. Die Beklagte konnte später die Dateien erfolgreich retten.
 
Die Beklagte hörte am 11. Februar 2019 den Kläger schriftlich zum Verdacht der Datenlöschung an, erhielt hierauf keine Reaktion trotz Fristsetzung bis zum 19. Februar 2019 und erklärte tags darauf die außerordentlich fristlose Tat- und Verdachtskündigung, hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Das Arbeitsgericht hatte festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung nicht mit sofortiger Wirkung, sondern erst zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist beendet wurde. Gegen das Urteil legte der Kläger Berufung und die Beklagte Anschlussberufung ein.
 
Entscheidung
Von den eingelegten Rechtsmitteln hat nur die Anschlussberufung der Beklagten Erfolg. Das LAG kam zu dem Ergebnis, bereits die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 20. Februar 2019 habe das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet. Das Verhalten des Klägers sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen ein wichtiger Grund zur außerordentlich fristlosen Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB. Die Löschung der Daten vom Server der Beklagten stelle einen wichtigen Grund - an sich – dar. Das unbefugte, vorsätzliche Löschen betrieblicher Daten auf EDV-Anlagen des Arbeitgebers sei grundsätzlich als wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Es komme nicht darauf an, ob sich der Arbeitnehmer durch das Löschen nach §§ 303a oder 303b StGB strafbar macht, ob und mit welchem Aufwand die Daten wiederhergestellt werden können, bzw. ob und in welchem Umfang die Arbeitgeberin die Daten für den weiteren Geschäftsablauf benötigt. Es gehöre zu den vertraglichen Nebenpflichten im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB, dem Arbeitgeber den Zugriff auf betriebliche Dateien nicht zu verwehren oder unmöglich zu machen. Dem Arbeitgeber stehe ein Anspruch aus § 667 BGB analog auf Herausgabe der im Arbeitsverhältnis vom Arbeitnehmer erstellten Dateien zu. Entzieht ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber eigenmächtig den Zugriff zu solchen Daten oder löscht er diese, berechtigte dies in aller Regel zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
 
Bewertung
Die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg ist zu begrüßen, da sie mit einigen verbreiteten Fehlvorstellungen hinsichtlich des Umgangs mit Daten des Arbeitgebers aufräumt. Die Herausgabepflicht des Arbeitnehmers aus § 667 BGB umfasst auch von diesem im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für den Arbeitgeber selbst angelegte Dateien. Zudem kommt es für das unbefugte, vorsätzliche Löschen betrieblicher Daten des Arbeitgebers als wichtigem Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB weder maßgeblich auf eine Strafbarkeit des Arbeitnehmers nach §§ 303a oder 303b StGB noch darauf an, ob die Daten infolge des Löschvorgangs unwiederbringlich verloren sind oder ob der Arbeitgeber die Daten überhaupt weiterhin benötigt.
 
Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte Steuerberater Solicitors Partnerschaft mbB, Berlin



 

Dezember 2020

 

Entgeltlisten - Einsichts- und Auswertungsrecht des Betriebsrats
BAG, Beschluss vom 28.07.2020 – 1 ABR 6/19

Gemäß § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG hat ein Betriebsausschuss nach § 27 BetrVG oder ein nach § 28 Abs. 1 S. 3 BetrVG beauftragter Ausschuss für die Erfüllung seiner Aufgaben nach § 13 Abs. 1 EntgTranspG das Recht, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter im Sinne des § 80 Abs. 2 S. 2 BetrVG einzusehen und auszuwerten. Das BAG hatte hierzu im vorliegenden Verfahren zu entscheiden, ob dieses Einsichts- und Auswertungsrecht auch dann besteht, wenn der Arbeitgeber nach § 14 Abs. 2 S. 1 bzw. § 15 Abs. 2 EntgTranspG die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung selbst übernimmt. Für Arbeitgeber folgt aus dieser Entscheidung für die Praxis, ob und wie sie den Umfang der Rechte des Betriebsrats durch die Übernahme der Erfüllung der Auskunftsverpflichtung steuern können.

Sachverhalt
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Aushändigung von Bruttoentgeltlisten.

Bei der Zentralverwaltung der Arbeitgeberin handelt es sich um einen Betrieb mit mehr als 4000 Beschäftigten. Es besteht ein 27-köpfiger Betriebsrat, der einen Betriebsausschuss gebildet hat. Die Arbeitgeberin machte von der im Entgelttransparenzgesetz vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch und übernahm generell die Verpflichtung zur Erfüllung individueller Auskunftsverlangen von Beschäftigten. Über konkrete Auskunftsverlangen und ihre Beantwortung unterrichtete die Arbeitgeberin den Betriebsrat regelmäßig. Zudem gewährte die Arbeitgeberin dem Betriebsrat Einsicht in die nach Geschlecht aufgeschlüsselten Listen über die Bruttolöhne und -gehälter der Beschäftigten betreffend die Entgeltbestandteile einschließlich übertariflicher Zulagen und individuell ausgehandelter Zahlungen. Der Betriebsrat konnte diese Listen entweder mithilfe eines ihm zur Verfügung gestellten PC als PDF-Datei oder als Ausdruck dieser Datei einsehen.

Der Betriebsrat verlangte die Übergabe der Entgeltlisten an den Betriebsausschuss. Das Auswertungsrecht nach § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG umfasse auch die Herausgabe der Listen in bearbeitungsfähigen Dateiformaten, hilfsweise in einer anderen auswertbaren (Papier-)Form.

Das Arbeitsgericht Düsseldorf hatte die Anträge abgewiesen. Das LAG Düsseldorf hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Der Betriebsrat verfolgt mit seiner Rechtsbeschwerde sein Begehren weiter.

Entscheidung
Das BAG hielt den Hauptantrag für unbegründet, der Hilfsantrag fiel nicht zur Entscheidung an.

Nach § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG sei die Arbeitgeberin nicht dazu verpflichtet, die Bruttoentgeltlisten zu übergeben. Das BAG ließ dabei offen, ob das nach § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG bestehende Recht, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter im Sinne des § 80 Abs. 2 S. 2 BetrVG einzusehen und auszuwerten, einen Anspruch auf Übergabe dieser Listen gewährt. § 13 Abs. 2 und 3 EntgTranspG flankiere die von §§ 14 Abs. 1 und 15 Abs. 2 EntgTranspG vorgesehene Stellung des Betriebsrats als Adressat eines individuellen Auskunftsverlangens nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG. Das Recht nach § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG bestehe damit nicht, wenn der Arbeitgeber entsprechend der ihm nach § 14 Abs. 2 S. 1 bzw. § 15 Abs. 2 EntgTranspG gesetzlich eröffneten Möglichkeit die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung an sich gezogen hat. Dies sei durch Systematik und Zweck der Norm vorgegeben. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass das entgeltlistenbezogene Einsichts- und Auswertungsrecht der Beantwortung individueller Auskunftsverlangen dienen soll. Der Regelungszweck des § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG sei nach den Vorstellungen des Gesetzgebers mit der Zuständigkeit des Betriebsrats zur Beantwortung individueller Auskunftsverlangen verknüpft.

Bewertung
Das BAG kommt nach zutreffend Auslegung zu dem Ergebnis, dass das Einsichts- und Auswertungsrechts eine Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung individueller Auskunftsverlangen voraussetzt. Diese erfreuliche Klarstellung durch das BAG eröffnet Arbeitgebern die Möglichkeit, gestaltend auf den Umfang der Rechte des Betriebsrats einzuwirken. Ziehen sie die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung berechtigterweise an sich, und ist der Betriebsrat mithin nicht mehr für die Beantwortung individueller Auskunftsverlangen zuständig, entfällt das Einsichts- und Auswertungsrecht des Betriebsrats nach § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG. Dies ist auch insbesondere vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass es das BAG weiterhin offen lässt, ob dieses Einsichts- und Auswertungsrecht auch einen Anspruch auf Übergabe der Bruttolohn- und -gehaltslisten gewährt.

In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Entgelttransparenzgesetz weder ein anderes inhaltliches Verständnis des Einblicksrechts nach § 80 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BetrVG bedingt, noch die vom Arbeitgeber zu gewährende Einsicht auf eine anonymisierte Fassung der Bruttoentgeltlisten beschränkt (BAG, Beschluss vom 07.05.2019 – 1 ABR 53/17).

Dr. Adrian Löser, Eversheds Sutherland (Germany) LLP, Berlin



 






Fristlose Änderungskündigung zur Einführung von Kurzarbeit
Arbeitsgericht Stuttgart, Urteil vom 22.10.2020 – 11 Ca 2950/20

Das Thema Kurzarbeit erfuhr wohl noch nie so viel flächendeckende Aufmerksamkeit wie im laufenden Jahr aufgrund der Corona-Pandemie. Arbeitgeber in betriebsratslosen Betrieben stehen bei fehlenden Kurzarbeitsklauseln vor dem – politisch durchaus gewollten – Problem, dass sie in jedem Einzelarbeitsverhältnis eine arbeitsvertragliche Regelung zur Befugnis der Anordnung von Kurzarbeit benötigen. Das Arbeitsgericht Stuttgart hat nun bestätigt, dass die Schaffung der Voraussetzungen für eine Anordnung von Kurzarbeit notfalls auch mittels außerordentlicher Änderungskündigung durchsetzbar ist.

Sachverhalt
Die Klägerin war als Personaldisponentin in einer Einrichtung tätig, die infolge der Corona-Pandemie vorübergehend geschlossen werden musste. Sie war nicht bereit, sich mit der Arbeitgeberin auf eine einvernehmliche Regelung zur Einführung von Kurzarbeit zu verständigen. Die Arbeitgeberin entschied sich daraufhin dazu, diese Vertragsänderung im Wege der außerordentlichen betriebsbedingten Änderungskündigung durchzusetzen. Hiergegen klagte die Arbeitnehmerin.

Entscheidung
Das Arbeitsgericht Stuttgart erklärte das Vorgehen der Arbeitgeberin für zulässig und hielt die Änderungskündigung für sozial gerechtfertigt. Es argumentierte damit, dass die gesetzgeberische Wertung der §§ 95 ff. SGB III zeige, dass ein dringendes betriebliches Erfordernis im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen anzuerkennen sei. Insbesondere müsse daher der Arbeitgeber nicht erst nachweisen, dass ihm ohne die Kurzarbeit – gar noch gerade nur der Person, um deren Änderungskündigung es gehe – konkret eine Insolvenz drohe. Würde man zu strenge Anforderungen an eine ggf. dafür erforderliche Vertragsänderung stellen, würde damit die gesetzgeberische Wertung unterlaufen. Jedenfalls durch Einführung einer zeitlichen Höchstgrenze und die Aufnahme einer Ankündigungsfrist ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – auch einer fristlosen Änderungskündigung – gewahrt.

Ein Verweis auf längere – ordentliche – Kündigungsfristen lässt das Instrument der Änderungskündigung als faktisch nutzlos erscheinen und ist daher auch nicht angebracht. Bei Verweigerung einzelner Arbeitnehmer wäre andernfalls die Einführungsmöglichkeit von Kurzarbeit gerade bei längeren Kündigungsfristen faktisch ausgeschlossen. Der Zweck der Kurzarbeit, die Arbeitsplätze zu sichern, würde damit unterlaufen. Dies sei auch deshalb kein angemessenes Ergebnis, da die Änderung nicht wie eine Entgeltreduzierung zu behandeln sei – es reduziere sich neben dem Entgelt auch die Arbeitspflicht, so dass kein Eingriff in das Äquivalenzinteresse vorliege.

Bewertung
Die Entscheidung ist vollumfänglich zu begrüßen und wird den Interessen der Praxis gerecht, da sie auch denjenigen Arbeitgebern, die Kurzarbeit weder auf Grundlage eines Tarifvertrages noch einer Betriebsvereinbarung einführen können, eine Nutzung dieses Instruments ermöglichen. Ein Selbstläufer sind solche Kündigungen allerdings nicht. Insbesondere ist zu beachten, dass eine Kündigung nur in Betracht kommt, wenn es keine milderen Mittel gibt – ein milderes Mittel ist der Versuch einer einvernehmlichen Regelung zur Kurzarbeit. Ist dieser Versuch gescheitert, ist nicht davon auszugehen, dass es noch andere mildere Mittel zur Änderungskündigung gibt.

Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit bedarf es keines gedanklichen Vorgriffs auf eine spätere Umsetzungsentscheidung des Arbeitgebers und die dann zu erwartenden Modalitäten, weil nur die Änderungskündigung als solche Prüfgegenstand ist. Es sollte aber im Änderungskündigungsschreiben unmissverständlich klargestellt werden, dass Kurzarbeit nur dann eingeführt werden kann, wenn die entsprechenden Voraussetzungen zur Gewährung von Kurzarbeitergeld auch in der Person des Arbeitnehmers vorliegen.

Praxistipp
Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, dass sich diejenigen Arbeitgeber, die von vornherein Kurzarbeitsklauseln in den Arbeitsvertrag aufnehmen, die hier dargestellte Diskussion sparen können. Kommen Muster zur Anwendung, sollten diese spätestens jetzt entsprechend angepasst werden. Darüber hinaus sollte, wenn zahlreiche Änderungskündigungen erforderlich werden sollten, immer auch die Thematik der Massenentlassungsanzeige bedacht werden.

Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L., Dipl.-Kffr., Dipl.-Vw., Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Eversheds Sutherland (Germany) LLP, Berlin


 

Kooperation mit GvW Graf von Westphalen

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Ansprechpartner:
Hamburg:      Dr. Franziska v. Kummer, LL.M., M.C.L.


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